Diese Gedichtsammlung präsentiert zum ersten
Mal eine Auswahl der für ihre Werke
mehrfach ausgezeichneten Lyrikerin Fiona Sampson
in deutscher Übersetzung. Zuvor bereits in
mehr als ein Dutzend Sprachen übertragen, können
jetzt auch deutschsprachige Leserinnen in eine Welt
eintauchen, in der Alltagsobservationen zum Teil
beinah überirdischen Erfahrungen gleichkommen,
aber auch in brutal anmutender Nüchternheit dargestellt
werden können. Bekannt wurde Sampson
für ihre musikalische Sprache, geprägt von ungewöhnlichen
Metaphern, religiösen Referenzen und
schnellen Bildwechseln, die ihren religiösen Glauben
sowie ihren professionellen Hintergrund als
Violinistin und dissertierte Sprachphilosophin erkennen
lassen, wie im Liebesgedicht Geheime Blumen:
Auf der erstaunten Straße,/ ist dein weißes
Hemd ein flatterndes Segel im Wind./ Hinter dem
Brunnen/ springen/ polierte Winteräste hervor,/ Rosenbuketts,
Rüschenbänder des Hier,/ um deine
Brust zu bewohnen.
Sampsons Gedichte erzählen von Reisen, Begegnungen,
von Liebe, Krankheit und Schmerz, wobei
die emotional erfahrene und spirituell reflektierte
Welt, in der mit Vorliebe die Worte Licht, Helligkeit
und Dunkel wiederholt werden, mitunter mit
nüchterner Realität bricht. So erzählt das Gedicht
Eintauchen über die Liebe zum kranken Partner:
Auch als ich dich fester halte,/ entschwindest du/
teleskopartig in deine eigene, schwarze Mitte./ Ist es
das schon?/ Das ganze Liebesmahl/ Dieser salzige
Ernährungstropf?
Dies sind keine Gedichte für eine schnelle Lektüre
zwischendurch. Für sie braucht frau vor allem eines:
die Zeit, um aufmerksam zuzuhören, um
Sampsons komplexe Erfahrungen in der Welt, die
für sie vorwiegend emotional zu erfahren ist, nachzuspüren
und dabei das Farbenspiel ihrer Bilder
und die Musik ihrer Sprache in sich nachklingen zu
lassen. Doris Brenner
Fiona Sampson: Zweimal sieben Gedichte. Übersetzt
von Nicole Richter. 49 Seiten, Wieser Verlag, Klagenfurt/Celovec
2009 EUR 12,95
Roman, heißt es auf dem Einband von Gespräche
in Tuskulum, darum findet sich diese
Rezension auch in dieser Rubrik hier wieder. Aber
wenn der neueste Text von Marie-Thérèse Kerschbaumer
etwas nicht ist, dann ein Roman. Eine
eindeutige Zuordnung zu einer Textsorte ist kaum
möglich, und auch nicht notwendig. Kerschbaumer
selbst wählt den Untertitel Ein Fragment, das sich
auch tatsächlich als eine Art Aneinanderreihung
von unterschiedlichen textlichen Fragmenten liest.
Als Viertes Buch komplettiert dieser Band Kerschbaumers
poetische und philosophische Tetralogie
Die Fremde (1992), Ausfahrt (1994) und Fern
(2000). Der Text lebt von, in und durch Sprache.
Es gibt keine Geschichte, dafür umso mehr Inhalt.
Die Themen kommen aus diversen Bereichen der
Gesellschaft und stellen oft interessante Bezüge her.
Die Menge an intertextuellen Zitaten lädt (alt)philologisch
Gebildete zum Schwärmen ein, lässt in
humanistischer Bildung weniger Firme aber oft mit
dem Gefühl, an die Essenz des Textes nicht heranzureichen,
zurück. Est
Marie-Thérèse Kerschbaumer: Gespräche in Tuskulum.
Ein Fragment. Viertes Buch. 178 Seiten, Wieser
Verlag, Klagenfurt/Celovec 2009 EUR 18,80
Leena Lehtolainen schreibt diesmal keinen Krimi,
sondern - wie sie im Vorwort erklärt - einen
Roman auf Basis der Lebensgeschichte ihrer
ehemaligen Kommilitonin Jaana und deren Ehemann
Riku. An Spannung mangelt es dennoch
nicht, auch wenn der Anfang vielleicht etwas langatmig
geraten ist. Jaana und Riku führen mit ihren
beiden Kindern ein durchschnittliches Leben im
finnischen Wohlfahrtsstaat. Sie ist Lehrerin, er
Pharmakologe; es gibt Auto, Häuschen im Vorort
und Segelboot. Während eines Urlaubs verschwindet
Riku plötzlich, kommt nicht mehr vom
Schwimmen zurück. War es ein Unfall, Selbstmord
oder gar Mord? Schließlich hatte Riku in letzter Zeit
in der Arbeit Probleme mit AktivistInnen, die gegen
Tierversuche protestierten und ihn auch persönlich
angriffen. Jaana schreibt seit ihrer Jugend regelmäßig
Tagebuch, Riku sporadisch. Mit Hilfe dieser
Aufzeichnungen rekonstruiert die Autorin das Leben
zweier Menschen, deren unterschiedliche
Wahrnehmung der Welt und ihrer Beziehung
schon auf der Hochzeitsreise überdeutlich wird.
Die Auflösung des Rätsels ist dann zwar nicht völlig
überraschend, aber doch ein emotionaler Hammer.
ESt
Leena Lehtolainen: Ich war nie bei dir. Roman. Übersetzt
von Gabriele Schrey-Vasara. 351 Seiten, Kindler, Reinbek
bei Hamburg 2010 EUR 20,50
In der Literatur hat die Wüste - ob als Projektion
oder reale Erfahrung - ihren festen Stellenwert:
als Ort der Inspiration und Transformation,
als Schauplatz des Ungewissen und als Metapher
für Innerlichkeiten findet sich die Wüste von
jeher in all ihren Erscheinungsformen in den unterschiedlichsten
literarischen Texten.
Die Germanistin Florence Hervé, selbst Wüsten-
Reisende, hat mit bewährter Kenntnis der (Frauen-)
Literaturgeschichte unter dem Titel Durch den
Sand. Schriftstellerinnen in der Wüste ein Lesebuch
zusammengestellt, das diese als Bildnis in den
unterschiedlichsten Gedichten, Erzählungen und
Reisebildern aus allen literarischen Epochen, vom
Mittelalter bis in die Gegenwart, behandelt. Die
durchwegs bemerkenswerten Beispiele stammen
von Ingeborg Bachmann, Karoline von Günderrode,
Savyon Liebrecht, Else Lasker-Schüler, Mechthild
von Magdeburg, Tanja Dückers, Assia Djebar
uvm. und zeigen - wie es die libanesisch-amerikanische
Schriftstellerin Etel Adnan formuliert - dass
die Wüste ausgelegt für die Reise der Phantasie
ist, die es gilt literarisch neu zu erleben und zu erträumen.
jas
Durch den Sand. Schriftstellerinnen in der Wüste. Hg. von
Florence Hervé. 222 Seiten, Aviva Verlag, Berlin 2010
EUR 18,30
In keiner der Lobeshymnen auf Eleanor Cattons
Roman-Debüt, der Abschlussarbeit Ihres
SchriftstellerInnen-Studiums, fehlt die Erwähnung
ihres Alters, es ist Teil der Sensation. Dabei ist das
großartige an dieser liebevollen und feinsinnigen
Studie die Vielseitigkeit der Erzählperspektive, dass
sie eben weder auf typisch jugendlich trashige noch
nachsichtig altersmilde Abgeklärtheit festgelegt ist.
Es hat mich ein wenig verunsichert, anderen Rezensionen
zu entnehmen, dass es die Geschichte eines
Missbrauchs sei, die ich gerade mit so viel Vergnügen
verschlungen hatte.
Nicht, dass der Ausdruck nicht vorkäme oder dass
Sexualität zwischen (abhängigen) Minderjährigen
und Erwachsenen umgekehrt als völlig unproblematisch
dargestellt würde. Er tritt nicht als sexuelle
Handlung auf. Vielmehr sind es die Fantasien,
Spekulationen und Psychologien, der Tabubruch
als mediales Ereignis, die gleichsam eine Folie bilden,
vor deren Hintergrund die Autorin den Spielraum
realer Begegnungen ausmisst. In den räumlich
kaum ausformulierten Kulissen einer Schauspielschule,
eines Mädchenpensionats mit angeschlossenem
Musikinstitut und dem Studio der Saxofonlehrerin,
verschwimmen die Figuren mit den
Rollen, die sie spielen.
In einem youtube-Interview erzählt Eleanor Catton,
dass ihre Erzählung aus dem Entwurf einer Dramaturgie
für den Solo-Auftritt einer befreundeten
Schauspielerin und Saxofonistin entwickelt wurde.
Der Roman über das Erwachen persönlicher und
sexueller Individualität kann mehr als den Übergang
zwischen Rollen und Personen, Kunst und Leben,
darstellen. Catton erzeugt durch den Wechsel
und die Verquickungen der Szenen und insbesondere
durch das Auslassen von Ausführungen den
Eindruck zugleich von Unpersönlichkeit und von
Subjektivität. Dabei tragen gerade die Erwachsenen,
die mit einer vermeintlich vollen Identität
ausgestattet sind, kaum Eigennamen oder körperliche
Merkmale. Die jugendlichen ProtagonistInnen
Stanley, Isolde, Viktoria, Bridget und Julia hingegen
sind scheinbar damit befasst, sich als Projekt zu
entwerfen, während sie mit großer Anstrengung
den Blick der Erwachsenen auf ihre verlustförmige
Unschuld reflektieren.
Zwischen der Ideologie von der Reifung des Charakters
an den Härten des Lebens und der Forderung
nach dem authentischen (Musik- oder Schau-) Spiel,
können weder die Erwachsenen ihre voyeuristische
Lust, noch deren Schützlinge ihre experimentelle
Freiheit genießen. Keine der Parteien besitzt ein privilegiertes
Wissen über den Moment des Übergangs.
Er äußert sich lediglich in humorvoll geschilderter,
wechselseitiger Beschämung. Miriam Wischer
Eleanor Catton: Die Anatomie des Erwachens. Roman.
Übersetzt von Barbara Schaden. 400 Seiten, Arche Literatur
Verlag, Hamburg 2010 EUR 20,50
Die Mutter hat Harriet nie kennengelernt. So
war das. Das machte alles deutlich. Ein erleuchtender
Satz, der der Protagonistin (Harriet)
auf dem Friedhof in den Sinn kommt. Anlässlich eines
Begräbnisses. Der Mutter kam sie nie nahe; eine
Person, jene, die die Begebenheiten abgerundet
hätte, wurde ihr verwehrt.
Wie Frauen diese Matratze wohl mögen, war ein
anderer Satz, beinahe zu Beginn des Romans ausgesprochen,
auch er leuchtete in eine Tiefe, die
Harriet nicht sehen konnte, wollte. Sie, Astrophysikerin,
der Magie der Zahlen und des Weltalls zugewandt,
trifft nach vielen Jahren jene große Liebe ihrer
frühen Jugend wieder, die sie selbst mit Hilfe
der Mathematik nicht bezwingen und halten konnte.
Ausgerechnet ihr Freund und Lebenspartner
Ash verursacht einen Autounfall, dessen Opfer die
Frau dieser ersten Liebe wird. Und schon sind die
Wege geebnet. Ash wendet sich auf platonische
Weise der Unfallgeschädigten zu, Harriet bandelt
neuerlich und diesmal tiefgehender mit deren
Mann an. Aber in Wirklichkeit hat sich niemand
gewandelt. Auch Harriet nicht in ihrer modernen
Sprachlosigkeit, die ihr nicht hilft, den Weg zu
ihrem Partner zu finden, und noch weniger jenen
zu ihrem Liebhaber, um endlich zu verstehen, wie
die Dinge wirklich liegen, von jeher gelegen sind.
Ursula Draesner hat in ihrem Roman Vorliebe ein
Konstrukt von vier miteinander verwobenen Persönlichkeiten
hergestellt. In Zeit- und Gedankensprüngen,
mit unterhaltsamen Zahlenspielereien,
erhellt sie den LeserInnen die Charaktere, besonders
einprägsam jene, die in Zähigkeit und Resignation
anerkennen, wie wenig veränderbar ist, an
sich selbst und an den Umständen.
Hildegard Bolyos
Ulrike Draesner: Vorliebe. Roman. 256 Seiten, Luchterhand
Literaturverlag, München 2010 EUR 20,60
Ein bezaubernder Tonfall hinterlässt den stärksten
Eindruck auf dieser Reise in den Balkan.
Leichtfüßig bewegt sich die Autorin durch die Gedanken
ihrer Protagonistin und lässt teilhaben an
allem, woran halt so gedacht wird beim Reisen.
Mirsad ist krank, also muss die Erzählerin aus der
Emigration in Paris nach Sarajevo eilen, um Suppe
zu kochen und den Weltschmerz zu vertreiben.
Doch Mirsad geht samt Suppe in der Vergangenheit
verloren. Das stört jedoch nicht weiter. Spöttelnd
werden Szenen skizziert, die dann doch nur wie
Schablonen wirken. Denn statt die ewig gleichen
Bilder über den angeblich ach so primitiven Balkan
in Frage zu stellen, werden diese nur reproduziert.
Da muss Sojamilch herhalten, um den Kapitalismus
schönzureden, und zuletzt Börek, um krampfhaft
einen letzten Rest Verbundenheit mit dem Balkan
heraufzubeschwören. Sprachlich fesselt Die Hand,
die man nicht beisst ohne Zweifel, und zwar so
sehr, dass die kleinen Ärgernisse erst in Nachhinein
auffallen. bw
Ornela Vorpsi: Die Hand, die man nicht beisst. Roman.
Übersetzt von Karin Krieger. 110 Seiten, Zsolnay Verlag,
Wien 2010 EUR 13,30
Diese Weisheit gibt Veras Mutter dem jungen
Mädchen mit, als sie das Heimatdorf verlässt
und sie wird sich ein ganzes Leben daran halten.
Vera ist zart, weich, nachgiebig, großherzig und
zäh. Sie überlebt die Belagerung von Stalingrad und
ihren ersten Mann, der sie fast für ihre Lebensmittelgutscheine
umgebracht hätte und wird Schauspielerin.
Vera bleibt ihr ganzes Leben lang Überlebenskünstlerin
- sie beißt sich durch, lächelt dazu,
entscheidet sich für das Kind, das der Vater nie
wollte und bekommt dann den Mann, Alexander
den Zweiten, noch dazu. Plötzlich wird Vera gebraucht
und sie fungiert als Köchin, Dienstmädchen,
Geliebte und Mutter in einer Person.
Vera lächelt immerzu, lässt ihrem alkoholkranken
Mann alles durchgehen und lebt selbst ein bescheidenes
und aufopferndes Leben für ihren Sohn. Als
ihr Mann sich in eine andere, um ein vielfaches jüngere
Frau verliebt, beginnt Vera zu kämpfen - und
weiß am Ende auch nicht mehr wofür genau.
Viktorija Tokarjewa erzählt mit Der Baum auf dem
Dach in einfachen, leisen Worten die Geschichte
einer Frau, die ihr ganzes Leben lang leiden gelernt
hat, dieses Leid zelebriert und am Ende erst nach
ihrem Tod als das wertgeschätzt wird, was sie war:
eine aufopfernde Frau, die an sich selbst immer
ganz zum Schluss gedacht hat. Kein gutes Vorbild
für junge, alte … alle Frauen! viko
Viktorija Tokarjewa: Der Baum auf dem Dach. Roman.
Übersetzt von Angelika Schneider. 200 Seiten, Diogenes
Verlag, Zürich 2010 EUR 20,50
Es ist schwer, eine junge Frau zu sein, wenn
eine viel zu groß und nie schön genug ist und
sich die Periode einfach nicht einstellen will, obwohl
sogar die kleine Schwester schon eine richtige
Frau ist. Und dann mit einer Familie aufzuwachsen,
die nach dem Tod der älteren Schwester
zerbricht, die keine Liebe und Geborgenheit geben
kann, macht die Sache nicht leichter. Ich habe
in meinem Leben keine einzige Entscheidung
getroffen, weiß nur wie gern ich schwimme. Und
das ist es, was Philomena/Pip/Phil/Mena/Boo tut.
Sie tritt sich durch ihr Leben bis zum olympischen
Gold. Als sie das Schwimmen aufgeben
muss, scheint alles hoffnungslos, aber es könnte
genauso gut sein, dass das Leben jetzt erst so richtig
anfängt.
Nicola Keegan hat mit Schwimmen einen
berührenden Roman über das Erwachsenwerden
geschrieben. Philomenas Sorgen, die Einsamkeit,
der Spaß, den sie und ihre beste Freundin Cocoplat
haben, wenn sie die Nonnen verunsichern,
sind nicht einzigartig und gerade deshalb ist ihre
Geschichte so mitreißend. Ein beinahe-500-Seiten-
Schmöker, der nie langweilig ist, manchmal
traurig und immer wieder Tränen lachen lässt ist
etwas, das es nicht alle Tage gibt. Nicht entgehen
lassen! Paula Bolyos
Nicola Keegan: Schwimmen. Roman. Übersetzt von
Bernhard Robben. 477 Seiten, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg
2010 EUR 20,50
Nein, mit den Erwachsenen kann man nicht
mehr reden. Nur rund 15 Seiten an Tagebucheintragungen
Ingeborg Bachmanns während
des letzten Kriegsjahres sowie der Monate danach
scheinen erhalten. Knapp skizziert sie Bombenangriffe,
ihre Abscheu vor der Naziherrschaft, und die
Euphorie angesichts der Befreiung. Die Freundschaft
zum britischen Besatzungssoldaten Jack Hamesh
erzeugt Geflüster unter den Nachbarn. Sie
geht mit dem Juden. Doch sie bleibt … verdreht
und glücklich, und entwirft, voller Optimismus,
letztendlich auch Lebenskonzepte, will etwa …
überhaupt nicht heiraten, auch keinen Engländer
wegen ein paar Konserven und Seidenstrümpfen.
Hameshs Briefe an Bachmann, sowie ein etwas
bemüht informatives Nachwort des Herausgebers
ergänzen die Tagebuchseiten. Lisbeth Blume
Ingeborg Bachmann: Kriegstagebuch. Hg. und mit einem
Nachwort von Hans Höller. 107 Seiten, Suhrkamp, Berlin
2010 EUR 16,30
Die Anfänge des Sklav_innenhandels in den
USA hat Toni Morrison zum Thema ihres aktuellen
Romans Gnade gemacht. Vier Frauen, Florens,
Rebekka, Lina und Sorrow versorgen im Jahr
1682 Haus und Landwirtschaft des Holländers Jacob
Vaark, der das Land in Virginia geerbt hatte.
Zunächst gegen den Sklav_innenhandel eingestellt,
gibt Vaark seine moralischen Bedenken zugunsten
finanzieller Vorteile auf. Als er stirbt, sind die vier
Frauen auf sich gestellt und müssen die Farm alleine
betreiben.
Toni Morrison erzählt in ihrem neuen Buch nicht
nur, wie alles angefangen hat und wo die Wurzeln
des Rassismus liegen, sie verweist auch auf die
berühmte Was wäre wenn-Frage und darauf, wie
Geschichte anders verlaufen hätte können.
Zu Beginn etwas langweilig, bekommt Morrisons
Roman bald neuen Schwung und die gut 200 Seiten
sind rasch gelesen. Dem Vergleich mit anderen
Romanen der Literaturnobelpreisträgerin, wie Beloved
oder Paradise hält das aktuelle Werk zwar
nicht stand, aber das macht nichts. Selbst wenn
Morrison ihr eigenes Niveau nicht erreicht, ist sie
immer noch ausgesprochen lesenswert. Luise Jannowitz
Toni Morrison: Gnade. Roman. Übersetzt von Thomas
Pilz. 218 Seiten, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2010
EUR 19,50
Der letzte Brief den Maruska von Jaromir erhält,
den überbringt Luiza. Jaromir der Doppelagent
hat ihn vor seinem Tod nicht mehr abgeschickt.
Ich wollte …, mich im Spiegel Ihrer Augen
erblicken. Mit Jaromirs Tod nimmt die Verbindung
zwischen seiner Jugendliebe und seiner
Frau Gestalt an, und damit beginnt eine Spurensuche,
deren Fokus sich von seinen Geheimnissen
schon bald zu den ganz eigenen Geschichten der
Frauen verlagert. Geschichten vom Bleiben und
vom Fortgehen, vom Verlangen und natürlich von
der Liebe. Geschickt montiert die Autorin die einzelnen
Erzählstränge und schildert nebenbei, in
leicht klischeebehafteten Bildern, viel von der
tschechoslowakischen Geschichte der letzten Jahrzehnte
und vom Exil in Brasilien. bw
Markéta Pilátová: Wir müssen uns doch irgendwie
ähnlich sein. Roman. Übersetzt von Michael Stavariã. 224
Seiten, Residenz Verlag, St. Pölten/Salzburg 2010
EUR 19,90
Von Diktatur, Macht und Gewalt schreibt Agota
Kristof wie in den Romanen und Erzählungen
auch in ihren acht Theaterstücken, die unter dem Titel
Monstrum im Piper Verlag erschienen sind. Das
Monstrum ist jene Regierung, die obwohl oder gerade
weil sie die Menschen zu ersticken droht, grenzenlose
Macht ausüben kann. Agota Kristof fragt danach,
wie Menschen zusammen leben, wie sie einander
in Abhängigkeit bringen und Herrschaft über
einander ausüben. Obwohl Kristofs Werke ein zutiefst
pessimistisches Menschenbild zeichnen, gelingt
es ihr, einen Humor an den Tag zu legen, der eine
zwingt, trotzdem zu lächeln. Es zahlt sich aus, diese
geniale Autorin zu lesen. Paula Bolyos
Agota Kristof: Monstrum. Stücke. Übersetzt von Jacob
Arjouni, Ursula Grützmacher-Tabori, Eva Moldenhauer, Erika
Tophoven und Carina von Enzenberg. 416 Seiten, Piper, München
2010 EUR 36,-
Es geht um Frauen - im neuen Roman von Kate
Christensen wie auch im Leben und Schaffen
des verstorbenen Protagonisten Oscar Feldman,
dessen Nachruf den Auftakt des Buches darstellt.
Die Ehefrau, die langjährige Geliebte und die lesbische
Schwester, die, ebenso wie ihr Bruder, Malerin
ist, werden Jahre nach seinem Tod von zwei Biografen
aufgesucht und befragt. Auf diese Weise
kommen Sichtweisen auf das vergangene Leben,
Verstrickungen, Geheimnisse und Leidenschaften
sukzessive ans Licht, die auch die beiden Biografen
nicht länger außen vor lassen. Und so gewinnen die
drei Frauen über siebzig zunehmend mehr Profil
und Tiefe, ihre Lebensentscheidungen aber auch
ihre teils überraschend neuen Lebensperspektiven
sowie FreundInnenschaften werden zum eigentlichen
Thema, wobei die junge Liebe im hohen Alter
und der Sex im faltigen Körper besonders
berühren. Fast nebenbei und stetig spannender entwickelt
sich dabei eine Geschichte, die leicht und
fesselnd zu lesen ist, und die Frage immer wieder
neu beleuchtet: Was lässt sich aus dem Bild einer
(alten, jungen, gemalten, lesbischen…) Frau
schließen? Meike Lauggas
Kate Christensen: Feldmans Frauen. Roman. Übersetzt
von Kristina Lake-Zapp. 351 Seiten, Droemer Verlag,
München 2009 EUR 17,50
So schnell geht das, dass einem alles abhandenkommt,
was eben noch das Leben ausmachte.
Vermissen sollte sie ihn, oder wenigsten
ein Bedauern darüber spüren, dass sie nur wünscht,
er wäre endlich hier, um ihn loszuwerden.
Allein in einer fremden Stadt wartet die Protagonistin
in Nina Jäckles Roman darauf, die Säcke voller
Geld, die sie gemeinsam mit ihrem Geliebten erbeutet
hat, mit ihm zu teilen. Immer mehr erzeugt
das Warten auf ihn eine Schnittkante, hinter der ihr
bisheriges Leben für sie nicht mehr greifbar ist.
Schleichend kommt ihr die eigene Identität abhanden,
ohne dass sie sich entschließen kann, mehr als
Zuschauerin in diesem Prozess zu sein. Eine kontemplative
Geschichte über Selbstentfremdung, die
Raum für eigene Projektionen zu diesem Thema
lässt. Doris Allhutter
Nina Jäckle. Sevilla. Roman. 142 Seiten, Berlin Verlag,
Berlin 2010 EUR 20,50
Stirbt der Mensch, der dir am nächsten ist,
steht die Welt still. Das Atmen fällt schwer und
Essen musst du erst wieder lernen. Du musst dich
überwinden, diesen Menschen zu überleben und es
aufgeben, dir jeden Tag aufs Neue zu wünschen,
dass er doch wiederkommen möge. In Anna Mitgutschs
neuem Roman beschreibt die Erzählerin ihr
Überleben, nachdem der Lebenspartner ganz plötzlich
gestorben ist. Er war ihr Mann, Ex-Mann eigentlich
- aber so genau haben sie beide das nie genommen,
wussten, dass sie zusammen gehören.
Die hinterbliebenen Familienmitglieder nehmen es
allerdings schon genau und lassen die Ex spüren,
dass ihre Rechte als Witwe beschränkt sind. Und
so übersteht die Erzählerin die Trauerzeit zu zweit,
mit der Tochter an ihrer Seite. Ganz nach jüdischer
Tradition gibt es zunächst die Trauerwoche, in der
FreundInnen und andere Gäste im Haus ein und
aus gehen. Es folgt das Trauerjahr, das die Erzählerin
dazu nutzt, die vielen wichtigen und unwichtigen
Dinge im Haus zu ordnen oder auch zu entsorgen
- damit das Leben danach weiter gehen
kann. Die Geschichte gibt einen tiefen Einblick in
Trauerriten der jüdischen Kultur - hilfreich auch
das Glossar am Ende. Und doch kann keine Religion,
keine Tradition und keine noch so gut gemeinte
Beileidsbekundung leisten, was sich die Erzählerin
mehr wünscht als alles andere: Dass ihr Mann
im nächsten Moment durch die Tür kommt und alles
ein riesengroßes Missverständnis war. Ein intensives
Buch mit sehr poetischen und intelligenten
Passagen - solche, die leidenschaftliche Leserinnen
mit Leuchtstift markieren und immer wieder lesen
müssen. Gabi Horak
Anna Mitgutsch: Wenn du wiederkommst. Roman,
270 Seiten, Luchterhand, München 2010 EUR 20,60
Wenn die Liebe zu Ende geht, was bleibt dann?
Welche Erinnerungen gib es an die Zeit zwischen
dem Ja, ich will dich heiraten und dem Ja,
lassen wir uns scheiden? Kann Traumliebe eine
Rettung sein? Für Andréa Stein ist es ein Weg, mit
ihrer Trauer umzugehen, als die Beziehung zu
ihrem Mann, dem Vater ihrer Kinder, in die Brüche
geht. Sie findet eine neue Liebe, erfindet sich die
Liebe neu. Und wie im Drogenrausch fügen sich die
Assoziationen aneinander, wechselt die Perspektive
manchmal mitten im Satz. Andréa Stein wird zu
Keith Richards, dem Idol ihrer Jugend, schlüpft in
seinen Körper, hat sein faltiges Gesicht, spielt auf
seiner Gitarre und macht Liebe mit Mick Jagger. Sie
ist Keith und sie ist die Frauen, die er geliebt hat.
Ich habe Angst, meinen Körper zu zerstören, ich
lasse die Drogen in Keith Venen fließen, ich will davon
nur den Rausch. Über meinem Gesicht trage
ich das von Keith Richards. Ich bin nicht in ihn verliebt.
Ich bin Keith, so wie man sich manchmal so
dicht vor den Spiegel stellt, dass man sich nicht
mehr wieder erkennt. Ohne Drogen ist es manchmal
schwierig, den Assoziationen zu folgen, besser
geht es mit Musik von den Stones. vab
Amanda Sthers: Bin das ich, die du liebst? Roman.
Übersetzt von Karin Erhardt. 125 Seiten, Sammlung Luchterhand,
München 2009 EUR 8,30
Kann jemandem beim Sterben zuzusehen bereits
ein Akt der Tötung sein? Der Wein, den
Leylan für ihren Vater keltert, soll die letzten Familiengeheimnisse
lüften und Heilung bringen, bevor
sich der Vater mit Hilfe des Tods einer Antwort entziehen
kann. Was ihr den Vorwurf einbringt, sie
wolle den Vater ganz hinterhältig umbringen; nicht
völlig zu unrecht, denn in ihrer Phantasie erlaubt
sich die junge Frau verschiedene Bilder des Todes:
Ich verbrühte ihn mit kochendem Wasser, stieß
ihm das Messer in die Brust. Aus den Antworten,
die sie letztlich erhält, erschafft sie sich im zweiten
Teil des Romans eine eigene Geschichte, fast wie im
Spiel mit einem Baukasten und ermöglicht damit
den Leserinnen ein Eintauchen in eine wunderbare
mythologische Welt. Denn wenn es unmöglich gemacht
wird, die Abgründe innerhalb einer Familie
aufzulösen, scheint es durchaus vernünftig, wenn
die Lebenden auf Bilder zurückgreifen, die das Weitermachen
mit ein wenig Hoffnung ermöglichen.bw
Sema Kaygusuz: Wein und Gold. Roman. Übersetzt
von Barbara und Hüseyin Yurtdas. 387 Seiten, Suhrkamp, Berlin
2008 EUR 25,50
Obwohl sie ihn erst wegen seines plumpen
Auftretens nicht so anziehend findet, verliebt
sich Ruth, ehemals Feministin, doch in den Niederländer
Michael mit der tiefen Stimme. Ganz entgegen
ihrer Überzeugung lässt sie sich sogar auf eine
Ehe mit ihm ein. Denn Michael versteht es, aus
ihrer Beziehung ein Projekt zu machen, das dem
Patriarchat den Kampf ansagt. Er macht den Haushalt,
ist ganz Antisexist und Ruth beginnt dabei
wieder ganz Frau zu werden, sich von ihren frühev
ren Ansichten zu distanzieren. Doch plötzlich findet
Michael ein anderes Vorhaben, in das er sich
mit Leib und Seele stürzt. Sein leidenschaftliches
Engagement gilt nun Kriegsflüchtlingen aus Jugoslawien.
Der banale Alltag mit Ruth hat in seinem
Leben keinen Platz mehr, das antipatriarchale Ansehnen
hat seine Attraktivität verloren. Die totale
Entfremdung des Partners und komplette Kommunikationsverweigerung
sind die Folgen, von denen
sich Ruth nur schwer erholt.
Amüsanten Wiedererkennungswert haben einige
Schauplätze der Wiener linken Szene. Ich fand das
Buch eine schöne Reflexion darüber, wie anziehend
Dogmatismus sein kann, weil er eine Zeit lang eine
so angenehme Sicherheit vermittelt.
Doris Allhutter
Erica Fischer: Mein Erzengel. Roman. 249 Seiten, Rowohlt
Berlin Verlag, Berlin 2010 EUR 20,50
Die feministische Literaturwissenschafterin
Eva Kollisch wurde 1928 als Tochter der Lyrikerin
Margarete Kollisch und des Architekten Otto
Kollisch in Wien geboren. Sie wuchs in Baden inmitten
des aufkeimenden Nazitums und des alteingesessenen
Antisemitismus auf. 1938 gelang ihr
mit einem Kindertransport nach England die
Flucht, 1940 kam es auf Staten Island zum Glück
zur Wiedervereinigung mit ihren Eltern. In den
USA schloss sich Kollisch einer trotzkistischen
Gruppe an und schaffte es schließlich nach dem
Studium der Germanistik und Komparatistik zur
Professorin. Mit der Autobiografie Der Boden unter
meinen Füßen hat Kollisch einerseits ein
berührendes Werk über ihre Erinnerungen an das
Ausgeschlossensein und die Suche nach Gemeinschaft
und das schwierige Verhältnis einer Vertriebenen
zu Österreich vorgelegt. Gleichzeitig hat sie
aber auch einen stilistisch komplexen Text mit verschiedene
Erzählformen und Perspektiven geschaffen,
in dem Fiktion und Essays sich abwechseln
und Erzählung und Kommentar ineinander übergehen.
Somit ist Der Boden unter meinen Füßen
einerseits ein wichtiges zeitgeschichtliches Dokument
und andererseits ein forderndes Stück Literatur,
das seine Leser*innen zur aktiven Auseinandersetzung
mit der Vergangenheit, aber auch gegenwärtigen
politischen Lage drängt und noch lange
nach dem Ende des Buches nicht loslässt. jas
Eva Kollisch: Der Boden unter meinen Füßen. Mit einem
Nachwort von Anna Mitgutsch. Übersetzt von Astrid Berger.
174 Seiten, Czernin Verlag, Wien 2010 EUR 19,80
Alma flüchtet vor ihrer Mutter nach Barcelona,
um dort ihr Leben in die eigenen Hände zu
nehmen. Sie lernt Juan kennen, die beiden scheinen
schicksalhaft miteinander verbunden und kehren
gemeinsam nach Santiago zurück. Aus wechselnden
Perspektiven erzählt die chilenische Autorin
Carla Guelfenbein die Geschichte von Alma,
Juan und Tommi, dem 10-jährigen Sohn Juans,
dessen Mutter früh verstorben ist. Da er an einem
Herzfehler leidet, steckt sein Vater, der aus eben
diesem Grund Herzchirurg geworden ist, all seine
Energien in die Aufsicht seines Sohnes. Tommi jedoch
entdeckt ein verborgenes Familiengeheimnis
und macht sich selbständig auf die Spuren seiner
toten Mutter. Alma fühlt sich indes vernachlässigt
und unverstanden, just in dem Moment trifft sie eine
alte Liebe wieder und es kommt wie es kommen
muss. Alles steuert auf das große Unglück zu. Die
Dinge sind nicht beeinflussbar, es gibt eben kosmische
Fügungen, meint dazu Almas Mutter. Allerdings
hat sie vor Jahren selbst das Schicksal in
Hand genommen.
Geheimnisvolle Verwicklungen und Einsichten in
das Leben machen die Geschichte zu einer spannenden
und angenehmen Lektüre. Guelfenbein
belädt ihre ProtagonistInnen mit nicht gerade wenig
Schuld, aber für Freundinnen der Telenovela
durchaus empfehlenswert! Doris Allhutter
Carla Guelfenbein. Der Rest ist Schweigen. Roman.
Übersetzt von Svenja Becker, 334 Seiten, Fischer Verlag,
Frankfurt/M. 2010 EUR 20,60
Stück für Stück befreit sich eine sterbende
Mutter ohne großes Bedauern von ihren Erinnerungen.
Mit großer Behutsamkeit begleitet die
Erzählerin die Verwandlung und den Tod der Mutter.
Das Sterben wird beinahe zu einem Vorgang
von unglaublicher Schönheit. Erinnerungen an eine
Kindheit in Japan sind die letzten Momente der
Verbundenheit und des Verstehens zwischen den
beiden Frauen. Auf der Suche nach Wegen, die den
Abschied erträglich machen, entlockt die Tochter
Freunden und Freundinnen deren Geschichten
vom Verlust, denn vom Verlassenwerden gibt es
genügend Berichte. Die entstandene Lücke dann
wieder zu füllen ist eine andere Geschichte, in diesem
Fall führt sie nach Indien. Auf Sinnsuche, wo
die Mutter aufs Neue erschaffen werden soll. Eine
Lösung, die ein wenig planlos erscheint - doch wer
könnte schon behaupten, auf einen Verlust besonders
rational zu reagieren? Trotzdem hinterlassen
die Ereignisse, die auf den Tod der Mutter folgen,
Ratlosigkeit; das Sterben und die Reise nach Indien
wollen sich einfach nicht nahtlos zusammenfügen.
bw
Milena Michiko Flasar: Okaasa. Meine unbekannte
Mutter. Roman. 128 Seiten, Residenz Verlag, St.Pölten/Salzburg
2010 EUR 17,90
Einem alten sardischen Brauch folgend, nimmt
die kinderlose Schneiderin Bonaria das
Mädchen Maria zu sich. Maria wird damit zum
Kind des Herzens, so nennt man die Kinder, die
zweimal geboren werden, aus der Armut der einen
Frau und der Unfruchtbarkeit der anderen. Klar
und präzise wird vom Aufwachsen des Mädchens,
den sardischen Traditionen und Geisteshaltungen
der 50er-Jahre und von einem Geheimnis, das den
Tod in sich birgt, berichtet. Als Maria erkennt, was
sich hinter den nächtlichen Ausflügen der Pflegemutter
verbirgt, verlässt sie die Insel. Das Band zwischen
alter und junger Frau scheint zerrissen. Erst
als sie zurückkehrt, um die inzwischen dahinsiechende
Ältere zu pflegen, erkennt sie, dass Bonarias
Geheimnis auch als Akt der Barmherzigkeit gewertet
werden kann. Die Plastizität, mit der Murgia den
Mikrokosmos eines sardischen Dorfes und dessen
Beziehungsgeflechte ohne jeden Kitsch beschreibt,
macht das Lesen trotz des ernsten Kernthemas zum
Vergnügen. bw
Michela Murgia: Accabadora. Roman. Übersetzt von Julika
Brandestini. 176 Seiten, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin
2010 EUR 18,40
Das phantastische Element fügt sich in die Erzählungen
der Argentinierin Samanta Schweblin
stets subtil und nahtlos in das Alltägliche ein.
Ein Mädchen verschlingt lebende Vögel, eine
Schwangerschaft wird zurückgespult, aus Unfruchtbarkeit
entstehen eigentümliche Rituale,
doch niemals schlagen die Erzählungen um ins Absurde,
eher hinterlassen sie den Nachgeschmack
von Traumbildern; nicht ganz ohne Unbehagen zu
verursachen, wenn etwa ein beschädigter Schmetterlingsflügel
schlagartig eine völlig neue Bedeutung
erhält. Mit gelassener Selbstverständlichkeit
zeigt uns Schweblin, wie sich mit knapper, klarer
Sprache eine bezaubernd verschobene Wirklichkeit
erschaffen lässt. bw
Samanta Schweblin: Die Wahrheit über die Zukunft.
Erzählungen. Übersetzt von Angelica Ammar. 130 Seiten,
Suhrkamp, Berlin 2010 EUR 20,40
Im Nachhinein fragen sich viele, ob sie das
schöne Mädchen hätten retten können. Im
Nachhinein ist vielen klar, dass etwas passieren
musste. Ich weiß nicht, ob wir es geschafft hätten.
[…] Wir haben ja nichts geahnt. […] Was der
Mensch nicht sehen will, das sehen seine Augen
nicht. Auch sein Herz sieht es nicht, sagt ein Rezeptionist.
Ich hätte […] das ganze Hotel aufscheuchen
können. Vielleicht hätte ich so die verletzte
Gazelle aus den Händen ihrer Mutter retten
können. Vielleicht auch nicht, meint eine Hotelgästin.
Einig sind sich alle, dass das Mädchen wunderschön
war, fast wie aus einer anderen Welt.
Bambi wird sie von ihrer Mutter genannt, wie das
kleine Rehkitz, das Buch ist ihre Bibel. Sie fliehen
von einem Hotel zum anderen, meiden den Kontakt
mit anderen Menschen. Leben in ihrer eigenen
Welt. Sie brauchen niemanden, denn sie sind eine
Mondeinheit. Das schöne Mädchen geht täglich
schwimmen. Die Mutter hat gute und schlechte Tage,
die schlechten überwiegen, dann wird ihr Gesicht
ganz schwarz vor Traurigkeit und tagelang
spricht sie nicht. Gegen die Außenwelt verteidigt
sie sich, wenn es notwendig ist, mit Gewalt. Die Erzählschleifen
geben Stück für Stück preis, wovor
Mutter und Tochter fliehen. Am Ende wird die
Tochter zur Mittäterin. Und es bleibt die Frage, ob
Bambi ohne Mutter groß werden wird und heiraten
und glücklich werden … Eine packende Geschichte,
geschrieben mit messerscharfen Worten. vab
Perihan Magden: Wovor wir fliehen. Roman. Übersetzt
von Johannes Neuner. 239 Seiten, Suhrkamp, Berlin
2010 EUR 13,30
Bangladeschs Unabhängigkeitskampf hat zu
Beginn des Romans noch nicht begonnen, der
Rehanas jedoch schon. Früh verwitwet und mittellos
kann sie nicht verhindern, dass ihre beiden Kinder
Sohail und Maya dem Onkel zugesprochen
werden. Doch entschlossen verschafft sie sich ökonomische
Sicherheit, um letztendlich die Kinder
zurückzuholen. Das Motiv der Notwendigkeit nach
Selbstbestimmung kehrt wieder, als Jahre später der
Kampf um Bangladeschs Unabhängigkeit losbricht.
Zuerst konzentriert sich Rehana noch darauf, ihre
Kinder, die sich beide aktiv am Freiheitskampf der
Bengal_innen beteiligen, zu beschützen, entwickelt
jedoch bald ein eigenes politisches Bewusstsein
und lässt so nach und nach manche verinnerlichte
Konvention hinter sich. Ein rundum gelungener historischer
Roman, fein erzählt und selbst die wohldosierten
Spuren von Kitsch stören nicht weiter.
bw
Tahima Anam: Zeit der Verheißungen. Roman. Übersetzt
von Anke Caroline Burger. 318 Seiten, Insel Verlag, Berlin
2010 EUR 20,40
Die Welt steht auf kein Fall mehr lang. Die
Ratlosigkeit angesichts unseres Katastrophenalltags
bleibt scheinbar der letzte Rest von
Wirklichkeit. Wirtschaftskrise, Klimawandel, Grippewelle,
… . Terror an allen Ecken, und irgendwie
sind wir immer mit dabei. Sei es durch die Hochglanzbilder
der Medien, die sich kaum noch von
der Ästhetik hollywoodscher Weltuntergangsszenarien
unterscheiden oder beim bangen Warten auf
das nächste persönliche Unglück, birgt dies doch
stets auch noch die Gefahr, aus der Norm zu fallen.
Angst als Werkzeug zur Manipulation, Angst die
unsere Handlungsspielräume immer mehr einschränkt.
Röggla spielt gekonnt mit dem Wortschatz
der allgegenwärtigen Katastrophe und kreiert
damit Zustandsbilder einer Gesellschaft in Panik.
Lisbeth Blume
Kathrin Röggla: die alarmbereiten. Prosastücke. 192
Seiten, S. Fischer, Verlag, Frankfurt/M. 2010
EUR 19,50
Sie sind Anfang 40. Kinderlos. Alix und Jan
sind verheiratet, Anton und Bernd ohne fixe
Beziehung. Sie haben irgendwann angefangen,
sich in der Stille unseres Rückzugs behaglich zu
fühlen. Und alle fühlen sie sich zeitweise übriggeblieben,
irgendwie steckengeblieben in unserem
Leben.
Alix ist Grafikerin, sie leidet an Hellhörigkeit und
ist ein träumerisches Wesen. Ihr Bruder starb vor
ihrer Geburt durch einen Sturz ins Wasser. Jan ist
Psychotherapeut, seine Eltern sind bei einem Autounfall
ums Leben gekommen. Anton ist Arzt, er
sehnt sich nach der großen Liebe und vielleicht
wird er sie finden, wenn er einmal nicht mehr darauf
wartet, endlich die Frau seines Lebens kennen
zu lernen. Bernd hat sein Medizinstudium aufgegeben
und betreibt nun eine Buchhandlung. Seine
wechselnden Liebhaber machen ihn nicht glücklich.
Zu viert sind sie eine Art Wahlfamilie und treffen
sich jeden Sonntag bei Alix Eltern. Bis sie sich
dazu entschließen, die alten Leute einmal zum Es-
sen in ein vietnamesisches Restaurant auszuführen.
Der Roman hat mehrere Stimmen - innere Monologe,
Dialoge, Betrachtungen anderer. Auch grafisch
gibt es zwei Perspektiven: neben der Haupthandlung
befindet sich am Rand ein weiterer Erzählstrang.
Ein verwirrendes, irritierendes Buch
über Leben und Tod, Verletzungen, Hoffnungen,
Träume und vertane Chancen. vab
Katharina Hacker: Alix, Anton und die anderen. Roman.
125 Seiten, Suhrkamp, Berlin 2009 EUR 20,40
Hundeherz ist ein Buch, das mich seit dem Lesen
ständig begleitet. Vielleicht liegt es nur daran,
dass ich einen Hund habe, mit dessen Erziehung
ich nach wie vor beschäftigt bin? Irgendwie
ist die Geschichte ja ganz kitschig. Ein Hundewelpe
wird von seinem Menschen und seiner Mutter
getrennt. Auf sich gestellt, beginnt er gegen die Einsamkeit,
gegen das Verhungern und um sein Überleben
zu kämpfen. Aber kitschig ist eigentlich gar
nichts im Buch. Kräftig ist es und stark. Und schön.
Und vielleicht muss jetzt doch der Klappentext herhalten
für das, was ich sagen will: Hundeherz ist
eine kurze, kraftvolle Geschichte über die Natur,
die Einsamkeit und darüber, was es bedeutet zu leben.
Jenny Unger
Kerstin Ekman: Hundeherz. Roman. 128 Seiten, Piper
Verlag, München 2010 EUR 15,40
Das erste Mal passiert es bei einer Gedenkveranstaltung
für ihren Vater. Während ihrer Rede
beginnt Siri Hustvedt plötzlich am ganzen Körper
zu zittern. Nur ihre Stimme bleibt ruhig. Es ist
als wäre sie plötzlich zwei Personen: Die zitternde
Frau fühlte sich wie ich an und zugleich nicht wie
ich. Vom Kinn an aufwärts war ich mein vertrautes
Selbst. Vom Hals an abwärts war ich eine geschüttelte
Fremde. Die Anfälle kehren immer wieder. So
macht sich Siri Hustvedt auf die Suche nach der zitternden
Frau und durchforscht Psychoanalyse, Medizingeschichte
und verschiedene Theorien. Dabei
stellt sie grundlegende Fragen: Wer sind wir? Was
wissen wir über uns? Was ist Körper, was ist Geist?
Wie erinnern wir, wie funktioniert Vergessen? In
der Psychiatrie hält sie Schreibkurse ab und teilt
mit den PatientInnen die Erfahrung, dass die eigene
Geschichte Sprache braucht, um zur eigenen
Geschichte zu werden. Die ÄrztInnen können keine
körperliche Ursache für das Zittern feststellen.
Hustvedt wird bei ihrer akribischen Suche gleichsam
zur Ärztin ihrer selbst.
Der Text enthält kaum Persönliches und ist über
weite Strecken vor allem eine wissenschaftliche Abhandlung
über die Geschichte der Hysterie, Epilepsie
und Migräne. Und als solche ist er auch spannend
zu lesen. vab
Siri Hustvedt: Die zitternde Frau. Eine Geschichte meiner
Nerven. Übersetzt von Uli Aumüller und Grete Osterwald. 235
Seiten, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2010 EUR 19,50
Mira Magén ist in Israel eine Bestsellerautorin,
die, aus einer ostjüdisch geprägten gläubigen
Familie stammend, eine unorthodoxe Biografie gewählt
hat. Bevor sie preisgekrönte Schriftstellerin
wurde, studierte sie Psychologie und Soziologie,
gründete eine Familie, war Lehrerin, Sekretärin
und Krankenschwester und hält zur Zeit beachtete
Poetikvorlesungen an Universitäten. Auch in ihrem
neuen Roman gelingt ihr eine grandiose Verbindung
von israelischer Alltagswelt, angepassten und
nonkonformen Verhältnissen sowie philosophisch
anmutenden Lebensweisheiten. Anhand des fiktiven
Sommers einer etwas anarchischen Familie,
insbesondere der physisch behinderten 13-jährigen
Tochter Anna (- Du machst es dir wirklich zu
schwer…Na und, in der Shoa war es noch schwerer.),
die ungewollt an ihrem jüngeren Bruder
schuldig wird, werden die LeserInnen nicht nur mit
der Spannung von Mut und Demut in extremen
Schicksalssituationen konfrontiert, sondern bekommen
Einblicke in die mehr als angespannte israelische
Gesellschaftslage (- Ihr habt nur den Boden
und Gott im Kopf. Arme, Kranke, Behinderte -
das interessiert euch nicht.) und Ausblicke in die
Bewältigung existentieller Krisen (- zwischen Hiob
und Hoffnung). Gott ist kein Fremdwort, auch
nicht für die Gottlosen. Die Widersprüche von orthodoxen
und säkularen Lebens- und Glaubensformen,
die Konflikte zwischen JüdInnen und PalästinenserInnen
werden ohne zu polarisieren aufgezeigt.
Eine Aussicht auf schnelle Lösungen gibt es
nicht; die Zeit wird es zeigen. Nicht ohne kritische
Einsprengsel. Viele Kinder kriegen, das ist in
den konservativen Kontexten eine militärische
Verpflichtung der Gebärmutter für die demografische
Front.
Die Schriftstellerin, der für alle ihreWerke eine besondere
Fähigkeit zur Empathie attestiert wird, beschreibt
die menschliche Bedingtheit nicht ohne Ironie.
Das Leben ist gut, was war das für eine Antwort?
Worte aus Styropor, sie wiegen nichts und sind
nichts wert, nur darauf gerichtet nichts zu zerbrechen.
Wovor hat diese Sara Angst? Sie stopft ihr Leben
in eine Eierschachtel und schützt es von allen
Seiten mit Styroporworten. Ihre Worte dagegen sind
schwingend und intensiv. Birge Krondorfer
Mira Magén: Die Zeit wird es zeigen. Roman. Übersetzt
von Mirjam Pressler. 396 Seiten, Deutscher Taschenbuch
Verlag, München 2010 EUR 15,40
kannt vor, was Lemke hier in ihrem Debütwerk, in
ihren Stories sammelt. Junge Erwachsene, die zwischen
hier und da und dort und sonst wo herumtingeln.
Sei es von einer Bar zur nächsten. Von einer
WG zur anderen. Von einer Beziehung zur anderen.
Von einem schlecht bezahltem Job zum anderen.
Leben ohne sich um die Zukunft zu sorgen,
aber nicht sorglos. Ohne Netz, das eine auffangen
kann, aber trotzdem so. Irgendwie ungesichert,
und deshalb wichtig zu sichern. Und das ist ganz
schön und erinnert an Judith Hermann.Jenny Unger
Hanna Lemke: Gesichertes. Stories. 189 Seiten, Verlag
Antje Kunstmann, München 2010 EUR 18,40
Auf den ersten Blick scheint dieser Roman eine
tragische Liebesgeschichte zu sein: Voller Hoffnung
bricht Younes auf, um in den Westen, nach
Europa zu gelangen. In Marokko, einem Land, das
seinem Volk alle Hoffnung nimmt, hält ihn nichts
mehr, besonders, seit er Mariam kennen gelernt hat,
eine der Marocains Résidents à l'Ètranger, die im
Sommer zu Besuch in seinem Dorf waren. Doch auf
der illegalen Überfahrt kentert das Boot, nur mehr
tot erreicht Younes die spanische Küste.
Doch in der Geschichte geht es auch um Träume
und Sehnsüchte sowie um die schwierige Suche
nach der eigenen Identität zwischen den Kulturen,
zwischen der islamischen Tradition und der westlichen
Konsumwelt: Younes, der Marokko verlassen
will, seine junge Nachbarin Faiza, die in der dörflichen
Tradition verhaftet ist, Mariam, die sich in Belgien
Mara nennt und das Leben einer selbstbestimmten
Frau zu führen glaubt, ihr krimineller
Bruder Marwan, der nach den materiellen
Verlockungen nun seine islamischen Wurzeln sucht.
Durchaus realistisch erzählt Rachida Lamrabet vom
Leben dieser jungen Menschen, zugleich findet sie
aber immer wieder beeindruckende poetisch-symbolische
Bilder, die in ihren Bann ziehen. Man kann
annehmen, dass der Debütroman auch autobiographische
Züge beinhaltet, denn die Autorin wurde
1970 in Marokko geboren und lebt und arbeitet als
Juristin in Antwerpen.
Übrigens, Frauenland, das ist in den Augen der marokkanischen
Männer Europa: Dort haben die
Frauen angeblich das Sagen, dort sollen Stolz, Ehre
und Würde gegen Unterwürfigkeit eingetauscht
werden als Preis für die Aufenthaltsgenehmigung:
Dort ist sie der Chef und du bist der schmet, der
Loser. Gudrun Magele
Rachida Lamrabet: Frauenland. Roman. Übersetzt
von Heike Baryga. 256 Seiten, Luchterhand Literaturverlag,
München 2010 EUR 9,30
Sommer. Ferien. Baden. Langeweile. Himbeeren
und Hitze. Heißt aber nicht, dass das Buch
nur dafür gedacht ist. Es erinnert vielmehr an die
großen Ferien, die Sommerferien, in denen die Zeit
so schnell und so langsam dahin geht. Überhaupt
dann, wenn eine kein Kind mehr ist, aber dann
doch noch eines ist und eines sein muss. Die Zeit,
in der die Freundinnen einer davon wachsen. Die
schreckliche Zeit: Wie konnte er sich gern an diese
schreckliche Zeit erinnern, wusste er nicht mehr,
wie es war, jeden Morgen als eine andere aufzuwachen,
nie am Abend zu wissen, wer man nach dem
Schlaf sein würde, in was einen die Dunkelheit
würde verwandelt haben.
Naja, die Sommermonate des Jahres 1974 sind
dann doch anderes als Mika gedacht hat. Erst fährt
die Familie nicht ans Meer zu Fjorden, dann hauen
die älteren Brüder ohne sie zum Zelten ab und die
Eltern sind ohnehin mit dem Kleinen - dem kranken,
jüngeren Bruder - beschäftigt. Erwachsenwerden
ist schon schwer, aber dann auch noch allein?
Nach dem Sommer ist alles anders als es davor war
und zwischendrin ist es verwirrend.
Jenny Unger
Beate Rothmaier: Fischvogel. Roman. 215 Seiten, DVA,
München 2010 EUR 18,50
Erica Pedretti lehnt anekdotisches Erzählen
ab. Und so gerät ihr schmales Bändchen, das
in ihrem 80. Lebensjahr erscheint, mit dem programmatischen
Titel fremd genug, denn auch
nicht zu einem glatten Abriss eines wechselvollen,
durch Flucht und Vertreibung geprägten Lebens,
sondern zu einem sehr verdichteten Text, der präzise
schildert, wie das ist, als Fünfzehnjährige die
Heimat, Mähren, mit einem Rotkreuzzug zu verlassen.
Wie das ist, in der Schweiz trotz Schweizer
Großmutter zur Fremdenpolizei gehen zu müssen,
um dort die Frage zu hören Warum sind sie
noch hier?. Wie das ist, immer wieder eine neue
Sprache zu lernen, zum Beispiel Englisch, als die
wiedervereinte Familie endlich in New York ankommt
und endlich, wie das ist, als junge Frau
wieder in der Schweiz zu sein und lange, lange
später bei uns zu sagen. Ein großartiger Text
auch für alle, die über Menschen auf der Flucht
nachdenken wollen. HW
Erica Pedretti: fremd genug. Illustriert von Erica
Pedretti. 71 Seiten, Insel Verlag, Berlin 2010 EUR 12,20
Annette Pehnt, schon vielfach ausgezeichnete
deutsche Romanautorin, beschreibt in ihrem
ersten Erzählband Ausnahmezustände. Sei es in der
Geschichte von Georg, der in eine Familie hineingeboren
wird, in der keineR die Erwartungen der
anderen erfüllt, sei es in der Geschichte von der
Zugbegleiterin, die plötzlich aus ihrem geordneten
Leben und Arbeiten herausfällt, durch eine plötzliche
Stille, eine Gehörlosigkeit. Pehnt erzählt von
Kindern in einem Heim wie Yannis, der zu schwache
Handgelenke hat, um im Werkunterricht mitzumachen
und wie Susi, die in einem Kasten liegt,
weil sonst ihre Knochen zerbrechen könnten und
sie erzählt davon, was Yannis Susi schenken möchte,
von einem Puppenbett wie ein Kindersarg. Alles
ist sehr gut erzählt, auch der Ausnahmezustand gut
getroffen, aber auf mich haben die Erzählungen gewirkt,
als würde ich einer Aufführung, getrennt
durch eine Glaswand, beiwohnen, als würde die im
Klappentext beschworene Intensität abprallen oder
doch eher gar nicht entstehen. Warum auch immer.
HW
Annette Pehnt: Man kann sich auch wortlos aneinander
gewöhnen das muss gar nicht lange dauern.
Erzählungen. 185 Seiten, Piper Verlag, München 2010
EUR 17,50
Ende der 1980er-Jahre sind der deutsche Student
Andreas und die russische Studentin Marina
Alexandrova verliebt. Andreas darf jedoch nicht
in Russland bleiben, das Regime trennt das Paar und
Andreas fährt zurück in den Westen. 20 Jahre später
treffen sich die beiden wieder, als Marina, mittlerweile
Literaturwissenschafterin, in Deutschland
einen Vortrag über den im Stalinismus verfolgten
Avantgardisten Daniil Charms halten soll. - So viel
zum Plot, müsste er als eine lineare Geschichte erzählt
werden. Im Roman selbst verhält sich alles etwas
komplexer, zersplitterter, episodenhafter und
fragmentarischer. Martynova schreibt nämlich keinen
kitschigen Liebesroman, sondern zeichnet vielmehr
ein ungewöhnliches, zitathaftes Bild der russischen
und deutschen Literaturbohème und
schreibt über die Zeit, wie es sich mit dieser eben
verhält: mal langsamer, mal schnell und flüchtig.
Mit einigen bemerkenswerten Sprachbildern und
fragilen Prosa-Miniaturen, die in Stil und Herangehensweise
an die Arbeit von Charms selbst erinnern,
beglückt dieser Debüt-Roman über Zeit-Geschichte,
Literatur und die Überwindung von Osten und
Westen, von Zeiten und Räumen. jas
Olga Martynova: Sogar Papageien überleben uns.
Roman. 208 Seiten, Droschl, Wien 2010 EUR 19,60
Von Freiheit keine Spur fasst der Spion
Peterson das Leben auf offenem Meer in Bettina
Balàkas Geschichte über den Erfinder des
Schiffschronometers zusammen - zwanzig Schritt
in die eine Richtung könne man auf einem Schiff
gehen, fünfzehn in die andere, mehr Bewegung sei
nicht möglich. Und auch die für die erste Erzählung
titelgebende Titanic ist kein Luxusdampfer,
sondern eine sowjetische Gefangenenanstalt, in
dem zum Tode verurteilte Wissenschafter auf ihre
Hinrichtung warten. Schilderungen von Zwangslagen,
aber auch von Handlungsräumen, die sich
auch noch für zwei aneinander gekettete Gefangene
im Frauengefängnis ergeben, sind wiederkehrende
Themen in dem schmalen Band. Nach dem
mitreißenden Roman Eisflüstern zu den psychischen
Destruktionen, die Soldaten im Ersten Weltkrieg
erlebten, zeigt die Autorin nun in sechs dichten
Erzählungen nicht nur ihre Vorliebe für präzise
recherchierte Kontexte, sondern auch ihre Fähigkeit,
große Fragen wie jene nach der Un/Möglichkeit
von Beziehungen oder den Abgründen des Alltags
in knappe Sätze und beeindruckende Bilder zu
fassen. Johanna Gehmacher
Bettina Balàka: Auf offenem Meer. Erzählungen. 134
Seiten, Haymon, Innsbruck/ Wien 2010 EUR 16,90
Ein Auktionskatalog als Liebesgeschichte - so
erzählt uns die Autorin die Geschichte von Lenore
und Harold, die von 2002-2006 dauerte und
anhand unterschiedlichster Objekte erzählt wird.
Eine reizvolle Idee; geraume Zeit lässt sich die Ge-
schichte anhand der Objekte auch gespannt verfolgen,
aber dann schleicht sich Irritation ein. Wann
lebt dieses Paar? Nach der Datierung der Fotos, die
sie immer wieder bei diversen Partys zeigen, in den
Nullerjahren; nach den Objekten, die sie sammeln,
haben sie einen Hang zu den sechziger und siebziger
Jahren, nach den vielen Briefen und Postkarten
pflegen sie einen schön altmodischen Kommunikationsstil.
Nach dem, wie sie sich verhalten, wie die
ersten Konflikte, dargestellt durch Texte auf Karten,
E-Mails etc. abgewickelt werden, erinnert es ein
bisschen an Tarzan und Jane oder Männer sind
vom Mars … Sie ist praktischerweise Autorin einer
Kolumne über Kuchen in der New York Times, er
Fotograf, der viel herumkommt. Also ist dieses
Buch vielleicht ein Lehrstück über wahre Heterosexualität,
über die sexuelle Anziehung zwischen
Posten Nr. 1283: Einige T-Shirts (von Harold) und
Posten 1284: Einige BHs (von Lenore). Sollte es so
einfach sein, und so unabdingbar zum Scheitern
verurteilt? HW
Leanne Shapton: Bedeutende Objekte und persönliche
Besitzstücke aus der Sammlung von Lenore
Doolan und Harold Morris, darunter Bücher, Mode
und Schmuck. Übersetzt von Rebecca Casati. 129 Seiten,
Berlin Verlag, Berlin 2010 EUR 20,50
Nach ihren wunderbaren literarischen Gartenbüchern
entführt uns Barbara Frischmuth
mit ihrem neuen Werk in die Welt der
Tiere, die abwechslungsreicher nicht sein könnte:
Hier treffen wir nicht nur die titelgebende
Kuh, den Bock, seine Geiß und ihren Geliebten,
der übrigens der Schäfer ist. Nein, es geht auch
um Katzen - und um den dazugehörigen Jammer,
um Affen - und um deren Liebe, um Frösche,
ja genau, und um Schenkel …
Kurz gesagt: In diesem Buch wimmelt es nur so von
vorlauten Viechern. Doch die Hauptfigur ist und
bleibt die Sprache: Jeder Satz nimmt eine neue,
vergnügliche Wendung, mit jedem Satz kommt eine
komische bis absurde Überraschung daher.
Sprichwörter und Redewendungen werden zu
amüsanten Geschichten transformiert und zugleich
mit soviel Sprachwitz gefüttert, dass das Buch nicht
mehr aus der Hand zu legen ist.
Erwähnt sollen auch noch die großartigen Graphiken
von Wouter Dolk werden, die die Protagonistinnen
und Protagonisten der einzelnen Geschichten
nicht nur abbilden, sondern tatsächlich zum
Leben erwecken. Gudrun Magele
Barbara Frischmuth: Die Kuh, der Bock, seine Geiß
und ihr Liebhaber. Tiere im Hausgebrauch. Mit 19 Graphiken
von Wouter Dolk. 174 Seiten, Aufbau Verlag, Berlin
2010 EUR 18,-
Die historischen Persönlichkeiten Maria Theresia
Paradis, eine blinde Pianistin und Komponistin,
sowie der Arzt Franz Anton Mesmer stehen
im Roman Am Anfang war die Nacht Musik
von Alissa Walser im Mittelpunkt. Beim Öffnen der
Seiten stellen sich bange Fragen: Werden hier Mythen
weitergeschrieben (blindes Mädchen sucht
Hilfe beim umstrittenen Heiler, hatten sie eine Beziehung
…), spielt historische Korrektheit eine Rolle?
Nun ja, ausgerechnet beim berühmtesten
Stück, einer Sicilienne, die auch im Roman vorkommt,
ist Paradis Autorinnenschaft umstritten.
Dennoch treten solche Fragen schon rasch in den
Hintergrund, denn Alissa Walser erzählt in feinen
Abstufungen von Helligkeit und Dunkel, von Farben,
von Tönen, von Berührungen in all ihren seelischen
und feinstofflichen Ausformungen. Die Gespräche
sind in indirekter Rede wiedergegeben, sodass
die Leserin nicht in Versuchung kommt, jedes
Wort auf seine historische Relevanz zu untersuchen.
Aus wechselnden Perspektiven wird vom
Scheitern erzählt - vom Scheitern nach wissenschaftlicher
Anerkennung von Heilmethoden, vom
Scheitern der Suche nach Licht, vom Scheitern
sprachlicher Mitteilungen. Musik ist dabei nicht
nur ein bloßes Beiwerk, sondern wird in den Text
hineinverwoben - in knappen Sätzen, deren Bilder
jedoch keineswegs karg sind. Regina Himmelbauer
Alissa Walser: Am Anfang war die Nacht Musik. Roman.
253 Seiten, Piper Verlag, München 2010
EUR 20,60
Mein Herz ist von Liebe voll und von Liebe
leer zugleich - Diesen Satz eines persischen
Sufidichters stellt Andrea Winkler als Motto ihrem
jüngstem Buch Drei, vier Töne, nicht mehr voran.
Es sind elf Rufe, in denen eine Ich-Erzählerin Abschied
nimmt von Erinnerungen an eine Liebe, einen
Geliebten oder sich diesen Abwesenden erst im
Schreiben heraufbeschwört. Sie entführt uns mit
märchenhaften und bisweilen orientalischen Tönen
in eine fremde, ferne Welt der poetischen Einbildung
und Phantasie. Und immer wieder erinnern
Details und Objekte, das Palais mit Rosenstöcken,
der Garten, der Bach, der Wind, die Schaukel und
die wechselnden Benennungen der Dinge an verlorene
Kindheitswelten.
Was in der Kindheit mühelos gelingt, die Verwandlung
und der Betrug, das sucht Andrea Winkler, die
über Friederike Mayröcker dissertierte, in ihrer lyrischen
Prosa mit einer sehr eigenständigen Stimme
neu zu erschaffen, um sich ihrer eigenen Identität zu
versichern. Sie erzählt uns keine Geschichte von
Verlusten, sondern lässt uns teilhaben an ihren
Nachrufen oder Anrufen: Hörst Du den Ton, der
Tor um Tor öffnet für dich, der mich lockt, von der
Schaukel zu springen, durch den Zaun zu schauen
und in den Horizont ein Haus zu zeichnen, ein
Floß, eine Wohnstatt für später?
Andrea Winkler beweist auch mit ihrem neuen
Buch, dass es ihr auf faszinierende Weise gelingt, die
reale Welt aus den Angeln zu heben und die Lust
auf ein Leben, das sich noch verspielen lässt zu erwecken.
Christa Gürtler
Andrea Winkler: Drei, vier Töne, nicht mehr. Elf Rufe.
159 Seiten, Zsolnay Verlag, Wien 2010 EUR 15,40