HerbstHerbst 20102010::Feministische Theorie Feministische Theorie

Re-Okzidentierung

Brauchen „wir“ „die Anderen“, um uns selbst zu entdecken? Dieser Frage widmen sich die AutorInnen des Sammelbandes entlang der Kategorie Geschlecht. Ins Zentrum der Analyse rücken dabei FeministInnen, WissenschafterInnen und PolitikerInnen, welche die „Anderen“ an einer europäischen Norm messen, um sich selbst dabei als aufgeklärt zu präsentieren. Mit dieser Herangehensweise gelingt den AutorInnen ein fruchtbarer Perspektivwechsel. Statt „die OrientalInnen“ zu Forschungsobjekten zu degradieren, werfen sie den Blick auf das „Eigene“ zurück und folgern daraus, dass die Abgrenzung gegenüber den „OrientalInnen“ konstitutives Moment für die Konstruktion eines europäischen Selbst war und ist. Dem theoretischen Konzept von Fernando Coronil folgend, definieren sie Okzidentalismus deshalb nicht als Pendant zum Konzept des Orientalismus nach Said, sondern als dessen Vorbedingung, weil eine bloße Umkehr verschleiern würde, dass es aufgrund eines - noch immer präsenten - kolonialen Erbes ein fortwirkendes Machtgefälle zwischen Orient und Okzident gebe. Spannend dabei ist, dass so genannte „aufgeklärte“, vor allem akademische Diskurse kritisch reflektiert werden. Für die Leserin birgt dies die Herausforderung, Rassismus nicht nur als Problem so genannter bildungsferner Schichten zu erklären, sondern sich mit subtileren Formen europäischer „Selbstvergewisserung“ zu beschäftigen und damit – in Anlehnung an Spivak - etwas Eigenes zu machen. Katrin Oberdorfer
 
Kritik des Okzidentalismus. Transdisziplinäre Beiträge zu (Neo-)Orientalismus und Geschlecht. Hg. von Gabriele Dietze, Claudia Brunner und Edith Wenzel. 318 Seiten, transcript, Bielefeld 2009 EUR 29,80

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Feministischer Frühjahrsputz mit GPS

Dieses Lesebuch ist wie ein Omnibus, dem frau an verschiedensten Stationen zusteigen kann. Es versammelt Materialien unterschiedlicher Phasen, Kontexte und Strömungen des Denkens der Geschlechterdifferenz. Die sorgfältige Einleitung stellt die Fragen nach Geschlechtlichkeit und Sexualität vor sowie die Reflexion von Differenz und Verschiedenheit in ihren jeweiligen theoretischen Bezugnahmen und Traditionen. Das Anliegen der HerausgeberInnen liest sich wie eine Verteidigung feministischer Theorie als Praxis kritischen Denkens. Das bedeutet, zu verstehen, auf welche Weise unterschiedliche kulturelle Konzeptualisierungen geschlechtlicher bzw. sexueller Differenz die Welt ihrer Autorinnen figurieren, nach deren Sinn eher denn nach ihrer jeweiligen Funktion zu fragBrauchen „wir“ „die Anderen“, um uns selbst zu entdecken? Dieser Frage widmen sich die AutorInnen des Sammelbandes entlang der Kategorie Geschlecht. Ins Zentrum der Analyse rücken dabei FeministInnen, WissenschafterInnen und PolitikerInnen, welche die „Anderen“ an einer europäischen Norm messen, um sich selbst dabei als aufgeklärt zu präsentieren. Mit dieser Herangehensweise gelingt den AutorInnen ein fruchtbarer Perspektivwechsel. Statt „die OrientalInnen“ zu Forschungsobjekten zu degradieren, werfen sie den Blick auf das „Eigene“ zurück und folgern daraus, dass die Abgrenzung gegenüber den „OrientalInnen“ konstitutives Moment für die Konstruktion eines europäischen Selbst war und ist. Dem theoretischen Konzept von Fernando Coronil folgend, definieren sie Okzidentalismus deshalb nicht als Pendant zum Konzept des Orientalismus nach Said, sondern als dessen Vorbedingung, weil eine bloße Umkehr verschleiern würde, dass es aufgrund eines - noch immer präsenten - kolonialen Erbes ein fortwirkendes Machtgefälle zwischen Orient und Okzident gebe. Spannend dabei ist, dass so genannte „aufgeklärte“, vor allem akademische Diskurse kritisch reflektiert werden. Für die Leserin birgt dies die Herausforderung, Rassismus nicht nur als Problem so genannter bildungsferner Schichten zu erklären, sondern sich mit subtileren Formen europäischer „Selbstvergewisserung“ zu beschäftigen und damit – in Anlehnung an Spivak - etwas Eigenes zu machen.en. Frau kann dieses wunderbare Buch dank seiner leitenden Koordinaten kreuz und quer lesen, aber auch von vorne nach hinten, ohne jemals auf eine eindimensionale Deutung zu treffen, die uns die zeitgemäße Theorie der Geschlechterdifferenz als Überwindung älterer Anliegen erklären würde. Miriam Wischer
 
Paradigma Geschlechterdifferenz. Ein philosophisches Lesebuch. Hg. von Anke Drygala und Andrea Günter. 304 Seiten, Ulrike Helmer Verlag, Sulzbach/Taunus 2010 EUR 30,80

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Multikulturalismus und Queer Theory im Dialog

Jinthana Haritworn bezeichnete einen queeren Multikulturalismus, der sich auf einen bloßen „faulen, pessimistischen Anti-Essentialismus“ berufe und damit Positionalitäten und Dominanzverhältnisse außer acht lasse, in einem anderen Sammelband als „reaktionär“. Dem aktuellen Sammelband „Multikulturalismus queer gelesen“ kann dies nicht vorgeworfen werden, versucht er doch explizit, der Komplexität und Diffizilität von nationalistisch- rechten Diskursen, restriktiven Migrationsund Asylpolitiken und (heteronormativen) Herrschaftsverhältnissen in Mehrheits- und Minderheitscommunities nicht mit einem bloßen (metatheoretischen) queeren Anti-Essenzialismus zu begegnen. In vierzehn Beiträgen treten empirische Forschung, herrschaftskritische Perspektiven und dekonstruktivistische Theorieansätze miteinander in Dialog und versuchen entlang der Phänomene „Zwang zur Ehe“, was sowohl „unfreiwillige“ Eheschließungen als auch Diskurse zur Zwangsmatrimonialität umfasst, und „Verweigerung der Ehe“ (für Lesben und Schwule) die rassistische Dichotomie „liberaler Westen“ versus „traditionale Einwanderungs/ Kulturen“ aufzubrechen. Auch wenn die einzelnen Beiträge die Gratwanderung schaffen, (selbst-)kritisch feministisch zu argumentieren, ohne in ein rechtspopulistisches Fahrwasser zu geraten, so ist doch schade, dass nicht alle Beiträge konsequent „Multikulturalismus queer lesen“ bzw. „Queeres“ antirassistisch-intersektionell verorten und somit doch große Unterschiede zwischen den einzelnen Aufsätzen bestehen. Christine Klapeer
 
Multikulturalismus queer gelesen. Zwangsheirat und gleichgeschlechtliche Ehe in pluralen Gesellschaften. Hg. von Sabine Strasser und Elisabeth Holzleithner. 370 Seiten, Campus, Frankfurt am Main/New York 2010 EUR 33,90

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Neoliberale Geschlechterregime

Angela McRobbie stellt in ihrem Buch eine gewagte These auf: Der Feminismus wird von westlichen Regierungen mit dem Ziel instrumentalisiert, ein neoliberales Geschlechterregime durchzusetzen. Dafür werden Elemente des Feminismus aufgegriffen und junge (weiße) westliche Frauen als „emanzipierte Gewinnerinnen“ von Gleichstellungs-, feministischer und antirassistischer Politik präsentiert und funktionalisiert, um eine Trennlinie zwischen der „westlichen Welt“ und anderen, vor allem muslimischen Ländern zu ziehen. Feministische und antirassistische Positionen sind folglich ebenso überholt wie Bündnisse zwischen feministischen, antirassistischen und lesbisch-schwul-queeren Politiken. Dass dieses neoliberale Geschlechterregime nichts zum Abbau sozialer Ungleichheiten aufgrund von Geschlecht, Klasse oder „race“ beiträgt, sondern vielmehr neue Ungleichheiten und einen neuen Blacklash hervorbringt, illustriert McRobbie anhand von Beispielen aus dem Feld der Populärkultur. Sie verortet die Demontage von Feminismen aber auch in den eigenen Reihen. Zentrale Protagonistinnen des „second wave feminism“ und die jüngere Generation der „third wavers“ vollziehen ebenso ein „undoing feminism“ und unterstützen dadurch den Aufstieg des neoliberalen Geschlechterregimes. Ein sehr empfehlenswertes Buch, das zum Nachdenken über feministische antirassistische Politik anregt! Rosa Reitsamer
 
Angela McRobbie: Top Girls. Feminismus und der Aufstieg des neoliberalen Geschlechterregimes. 240 Seiten, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2010 EUR 25,70

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Links und feministisch gehören zusammen

2007, im Zuge der Parteigründung von DIE LINKE stellte sich die Frage danach, wie „das Feministische in das Parteiprogramm eingearbeitet werden kann“. Wie stellen sich feministische Wissenschafterinnen und Aktivistinnen ein linkes feministisches Projekt heute vor? Die Antworten von 49 Feministinnen aus 13 Ländern auf 6 Kontinenten sollten die Grundlage für dieses Programm bilden. Dementsprechend breit gestreut sind die Themen der Beiträge; die Zustandsbeschreibung feministischer Politik in Schweden, die Auswirkungen neoliberaler Politik auf das Leben brasilianischer Arbeiterinnen, die Auseinandersetzung mit hypersexuellen Stereotypen sollen nur ein kleiner Vorgeschmack auf die Bandbreite der entstandenen (Grundsatz-)Diskussionen sein. Denn dieses Buch, in seiner ganzen Vielfalt sollte jede lesen, die sich mit linker feministischer Politik beschäftigt. bw
 
Briefe aus der Ferne. Anforderungen an ein feministisches Projekt heute. Hg. von Frigga Haug. 320 Seiten, Argument Verlag, Hamburg 2010 EUR 19,10

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Privilegierte Blickrichtungen

Die Definition einer kritischen Weißseinsforschung ist ein oszillierendes Unterfangen, denn es geht nicht um wenig, handelt es sich doch um einen Angriff auf die Privilegien der Hegemonieproduktion sowie auf das weiße Unsichtbarkeitsprivileg. Die Autor_innen Julia Roth und Carsten Junker versuchen weiße Dominanzkritik, die sich im angloamerikanischen Sprachraum in verschiedenen Forschungsbereichen verankert hat, auch in die deutschsprachige Literaturwissenschaft zu übertragen. Ihren „dekolonialen Blickwechsel“ gestalten sie mit zwei afro-amerikanischen Autorinnen, die es aus einer marginalisierten Position heraus geschafft haben, Kritisches über Weißsein zu produzieren. Zora Neal Hurstons Autobiografie „Dust Tracks on a Road“ von 1942 stellen die Autor_innen als erstmaligen literarischen Befreiungsschlag Schwarzen Schreibens vor, das sich erlaubt, über Weiße zu schreiben. Mit Toni Morrison, als Literatur-Nobelpreisträgerin Galionsfigur afro-amerikanischer, feministischer Literatur, analysieren die Autor_innen die Bedeutung des Essays (etwa mit ihrem Essay „Unspeakable Things Unspoken“, das in die Kanondebatte eingreift) als aus eurozentrischen Territorien angeeignetes Genre. Das Buch leistet zwar eine Einführung in Fragen der Machtverhältnisse in der Literaturproduktion, jedoch wird die Kritik und ihre Bedeutung sehr spät an den deutschsprachigen Raum herangeführt und durchkreuzt. Eine Verschiebung der geografischen Schwerpunktsetzung hätte dem Buch gut getan. Marty Huber
 
Carsten Junker und Julia Roth: Weiß sehen. Dekoloniale Blickwechsel mit Zora Neale Hurston und Toni Morrison. 191 Seiten, Ulrike Helmer Verlag, Sulzbach/Taunus 2010 EUR 25,70

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Reden wir über Rassismus

Im öffentlichen Diskurs hat es sich (weitgehend) durchgesetzt, dass rassistische Benennungen wie ‚Zigeuner’ oder das N-Wort als völlig inakzeptabel gelten. Wie steht aber die Bezeichnung ‚people of colour’ im Verhältnis zu den Begriffen ‚coloured’/‚farbig’? Wie vermischen sich Strategien der Rassifizierung, der Ethnisierung, der Migratisierung und der Religiosisierung? Wie kann WegSprechen und WegSehen als aktive Handlung von Privilegierten sichtbar gemacht werden? In intensiver Zusammenarbeit haben Schwarze und „weiße“ Deutsche und People of Colour ein beeindruckendes, über 550 Seiten starkes Nachschlagewerk zu rassistischen Sprachhandlungen geschaffen. Theoretisch fundiert stellt es historische Hintergründe diskriminierender Sprechakte dar, und hat zum Ziel, deprivilegiert-emanzipatorische Perspektiven als Ausgangspunkt für das Sprechen über Diskriminierung zu etablieren. Durch seine verständliche Sprache und Differenziertheit bietet der Band eine hervorragende Basis, um gegen die Abwertung bewussten Sprechens als ‚political correctness’ anzugehen. Anregende Schreibweisen verdeutlichen außerdem, dass in sprachlichen BeNennungen die Herstellung einer Wirklichkeitsvorstellung steckt. Ein Muss für jedes Bücherregal! Doris Allhutter
 
Rassismus auf gut Deutsch. Ein kritisches Nachschlagewerk zu rassistischen Sprachhandlungen. Hg. von Adibeli Nduka-Agwu und Antje Lann Hornscheidt. 559 Seiten, Brandes & Apsel, Frankfurt/Main 2010 EUR 30,80

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Aufklärung als Dissidenz

Ein wichtiges Büchlein. Die Herausgeberinnen, beide jahrelang tätig im Vorstand der Internationalen Assoziation von Philosophinnen, haben in eben diesem Kontext die schöne und wichtige Idee geboren, sechs wesentliche Vertreterinnen der Philosophie und Linguistik aus Deutschland, Österreich, Schweiz, die so etwas wie Klassikerinnen im Kanon der feministischen Denkbewegung seit den 80er Jahren darstellen, in Form von biographischen Selbstpräsentationen und originalen Texten vorzustellen. E. List, C. Meier-Seethaler, H. Nagl-Docekal, L. F. Pusch, S. Trömel-Plötz, B. Weisshaupt kommen hier zu Ehren. Verbindende Motive der Texte sind die heute eher verloren gegangene Hinterfragung des pseudoneutralen Systems Wissenschaft und dessen frauenausschließenden Betriebs, die Einspruchsrechte und -pflichten feministischer Kritik, die Aufforderung zur Selbstreflexion, die Verhandlung weiblicher Subjektivitäten, die Durchkämmung der abendländischen Tradition in Hinblick auf Misogynie und Maskulinismus ... Die hier zusammengestellte Pionierarbeit philosophischer Diskurse erweckt die Lust zum Nachdenken über Alterität zu neuem Leben. Birge Krondorfer
 
Klassikerinnen des modernen Feminismus. Hg. von Maria I.P. Aguado und Bettina Schmitz. 320 Seiten, ein-Fachverlag, Aachen 2010 EUR 20,40

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Mama go home …

Zwischen zwei intellektuellen Traditionen sieht Elisabeth Badinter den Kampf um das Mutterbild. Dieserart sieht sie die feministische Bezugnahme auf Mutterschaft einen Kurswechsel vollziehen von der kulturalistischen Befreiung aus ideologischen Zwängen zu einer naturalistischen Einwilligung in dieselben. Das Recht auf Selbstbestimmung hat sich in eine Verpflichtung zur richtigen Entscheidung und im Zweifelsfall zur freiwilligen Unterwerfung, nicht unter eine verbindliche Norm sondern unter ein widersprüchliches Ideal verkehrt. In bösester Polemik befragt Badinter die demografische Entwicklung unterschiedlicher europäischer Staaten und der USA auf die Wirksamkeit ihrer Familienpolitiken und die Folgen für die gesellschaftliche Arbeitsteilung. Ihre historische Analyse belegt einen moralischen Wandel beispielsweise im Fall des so genannten Bondings oder des Stillens, der an die Stelle der Herrschaft des Mannes über die Frau, das Recht des Kindes auf seine bestmögliche Versorgung an die Mütter adressiert.Die Autorin plädiert dafür, die Vielfalt der Lebensweisen und Wünsche von Frauen visavis der Mutterschaft anzuerkennen und dies nicht als politische Schwäche gegenüber dem relativ homogenen Interesse der Männer vergleichbaren Alters zu verkürzen. Eine ebenso bittere wie kurzweilige Lektüre. Miriam Wischer
 
Elisabeth Badinter: Der Konflikt. Die Frau und die Mutter. Übersetzt von Ursula Held und Stephanie Singh. 222 Seiten, Verlag C.H.Beck, München 2010 EUR 18,50

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Überwinden der Zeit im Alter

… durch Gedanken – durch Phantasien – durch Träume ist eine ausgezeichnete menschliche Fähigkeit, schreibt die Grand Old Lady der deutschsprachigen Psychoanalyse Margarete Mitscherlich. Sie hat in ihrem 92sten Lebensjahr erneut ein Buch verfasst – aus verstreuten Aufsätzen, Reden und neuen Texten. Zeitlebens hat sie – geprägt durch den Faschismus – Zusammenhänge von Gesellschaft/Individuum und Rassismus/Sexismus analysiert und um Aufklärung der Untiefen gekämpft. Sie ist eine der ersten prominenten Intellektuellen gewesen, die sich auf die Seite der Frauen/bewegung gestellt haben – ein Affront für die angestammte Psychoanalyse. Faszinierend ist die unprätentiöse Art, komplexe theoretische und politische Probleme zu vermitteln und aktuelle Geschehnisse zu diagnostizieren. Thematisiert werden unter anderem ihr intensives Mutterverhältnis, Antisemitismus, Verdrängung, Angst vor Emanzipation, Lebenssinn, (Alters-)Reflexionen über das Alter. Ihr Motto (von Freud) für sich und uns: „Nichts darf uns davon abhalten, die Wendung der Beobachtung auf unser eigenes Wesen und die Verwendung des Denkens zu seiner eigenen Kritik gutzuheißen.“ Birge Krondorfer
 
Margarete Mitscherlich: Die Radikalität des Alters. Einsichten einer Psychoanalytikerin. 267 Seiten, S. Fischer, Frankfurt/Main 2010 EUR 19,50

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Genau, ja.

„Die absolute-Reihe stellt Schlüsseldiskurse der Gegenwart vor ... übersichtlich mit Originaltexten, Biografie und Interview ...“ (aus dem Verlagsprogramm). Mehr auf Einzeldarstellungen konzentriert, wo als einzige Frau bislang Beauvoir zu Ehren kam (immerhin), geht es in der neuen Ausgabe um den Feminismus „guthin“. Beginnend mit einem Gespräch (im Rahmen von „‚die.standard“) zwischen vier verschieden engagierten Wiener Frauen, in dem die Frage der Bedeutung der neuen medialen Vermarktung der Differenzen unter Feministinnen folgend beantwortet wurde: „Teile und herrsche. Alle anderen: Genau, ja“. Und genau ja deshalb ist das Büchlein auch wichtig, denn es werden querbeet durch die ältere und neuere Geschichte bekannte und zu entdeckende Texte von revolutionären Frauen unterschiedlicher Couleur und Profession präsentiert: in – je mit einer zeitund ideengeschichtlichen Einführung versehenen – vier Bewegungskapiteln „Komplizierte Kollektive“, „Exklusive Utopien“, „Body Moves’“, „Auflösungen und neue „Gemeinschaften“ sind Manifeste, künstlerische Darstellungen, philosophische Lektüren, Performance Lecture und widerspenstige und zornige Einsprüche von 1405 bis 2008 versammelt. Eine schöne Fundgrube. Birge Krondorfer
 
absolute Feminismus. Hg. von Gudrun Ankele. 221 Seiten, orange press, Freiburg 2010 EUR 18,50

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Ver/Behinderung

Wie sind Behinderung und Geschlecht mit Ethnizität, Sexualität und Lebensformen verknüpft? Dieser hervorragende Sammelband widmet sich dem Thema Ver/Behinderung und dem Kampf um soziale Teilhabe mit dem Anspruch, Erkenntniskritik und Gesellschaftskritik zusammen zu halten. Die gesellschaftskritische Dimension untersucht Diskriminierungen in gesellschaftlichen Strukturen sowie in Sprache, Anschauungen und Verhaltensweisen. Die dekonstruktivistische Perspektive fragt nach den Widrigkeiten von Normalisierungen und der Konstruktion von Abweichungen. Die behandelten Themen sind äußerst vielfältig und umfassen u.a. die Behinderungserfahrungen von People of Colour, die Interdependenzen von Migrationshintergrund und Beeinträchtigung, den Lebensalltag von Jungen und den Normalisierungsdruck auf Mädchen mit Behinderung. Ein wichtiger Aspekt, der in mehreren Beiträgen bearbeitet wird, ist die Ver/Behinderung der Sexualität bzw. auch die Hilflosigkeit von Behinderungsfachleuten in diesem Zusammenhang. Einige Artikel beschäftigen sich mit rechtlichen und politischen Aspekten mehrdimensionaler Diskriminierung und der Gewaltförmigkeit von medizinischen Klassifikationen, die dafür als notwendig erachtet werden, finanzielle Zuwendungen zu genehmigen. Das Buch vermittelt gute Grundlagen und regt dazu an, viele der interessanten Themen noch weiter zu vertiefen. Doris Allhutter
 
Gendering Disability. Intersektionale Aspekte von Behinderung und Geschlecht. Hg. von Jutta Jacob, Swantje Köbsell und Eske Wollrad. 237 Seiten, transcript, Bielefeld 2010 EUR 26,60

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Geschlecht macht Raum - Raum macht Geschlecht

Geschlecht(erverhältnisse) und Raum(strukturen) machen sich gegenseitig, sie konstruieren ihre Bedeutung wechselseitig mit. So wirken sich z.B. die verschiedenen Lebensweisen von Männern und Frauen unterschiedlich auf den Klimawandel aus. Gleichzeitig wirken sich dessen Folgen verschieden auf die Geschlechter aus. Beispielsweise sind Frauen und Kinder von klimabedingten Katastrophen stärker betroffen als Männer. Der Sammelband bündelt in elf Beiträgen die derzeitigen Forschungserkenntnisse, -lücken und - möglichkeiten der geschlechterbezogenen Humangeographie. Die sich vor allem auf die deutschsprachige Forschung konzentrierenden Autor_innen befassen sich auf unterschiedlichen Gebieten mit dem Zusammenhang von Raum und Geschlecht. Der Bogen spannt sich dabei von der Stadtentwicklung und dem Ländlichen Raum über Migrationsund Multilokalitätsdiskurse hin zu Arbeit, Klimawandel und zur Bedeutung des Körpers. Der Band bietet einen Überblick über die bestehenden Theorien, Arbeitsfelder und zukünftigen Betätigungsbereiche der Auseinandersetzung mit Raum und Geschlecht. Einige Artikel bringen anschauliche Beispiele, jedoch erhellen diese nicht immer ausreichend die Forschungsinhalte. Ohne Vorkenntnisse ist es schwierig, den Theorien zu folgen, da viele Begrifflichkeiten – wie etwa Raum und Geschlecht – nicht eindeutig definiert werden. Für Forscher_innen der geschlechterbezogenen Humangeographie bietet der Band jedoch eine gute wissenschaftliche Orientierungsmöglichkeit. Barbara Hamp
 
Geschlechterverhältnisse, Raumstrukturen, Ortsbeziehungen. Erkundungen von Vielfalt und Differenz im spatial turn. Hg. von Sybille Bauriedl, Michaela Schier und Anke Strüver. 253 Seiten, Westfälisches Dampfboot, Münster 2010 EUR 28,70

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Vergesellschaftetes Geschlecht

Die Soziolog_innen Marina Adler und Karl Lenz legen mit „Geschlechterverhältnisse“ den ersten von zwei Bänden zur Einführung in die sozialwissenschaftliche Geschlechterforschung vor. Nach einer Klärung der Grundbegriffe, einem Überblick über die Entwicklung des Forschungsbereichs und einer Herausarbeitung und Kontrastierung verschiedener theoretischer Ansätze zentriert dieser Band mit der makrosoziologischen Ebene die indirekten, institutionalisierten sozialen Beziehungen und untersucht die Geschlechterordnung in den Feldern Kultur, Recht, Politik, Bildung und Arbeit. Anhand vielfältiger Beispiele mit starkem Deutschlandbezug wird ersichtlich, wie umfassend Geschlecht vergesellschaftet ist: So wird im Bereich Arbeit etwa veranschaulicht, dass die auf kulturellen Zuschreibungen und Geschlechterbildern basierende Zuordnung bestimmter Tätigkeitsfelder zu Männern oder Frauen Auswirkungen auf deren Erwerbsbeteiligung hat und in Zusammenhang mit horizontaler wie vertikaler Geschlechtersegregation am Arbeitsmarkt steht, was wiederum die Realisierungsmöglichkeiten individueller Lebensentwürfe strukturiert. Anzumerken ist, dass weitere Benachteiligungskategorien neben Geschlecht in den Hintergrund treten und auch differences within nur gestreift werden. Weiters hätten die Literaturempfehlungen am Ende der einzelnen Kapitel etwas ausführlicher ausfallen können, um der Zielgruppe die Vertiefung in die Thematik zu erleichtern. Davon abgesehen ist diese Einführung durch ihre thematische Breite, ihre sprachliche Zugänglichkeit und ihre klare Struktur äußerst gelungen – man darf auf den zweiten Band gespannt sein. Susanne Oechsner
 
Karl Lenz und Marina Adler: Geschlechterverhältnisse. Einführung in die sozialwissenschaftliche Geschlechterforschung Band 1. 264 Seiten, Juventa Verlag, Weinheim/ München 2010 EUR 21,60

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Körperlichkeit erforschen

Der 2008 an der Universität Innsbruck abgehaltene Workshop „Körper er-fassen“ stellte zur Diskussion, wie Körper und Körperlichkeit wissenschaftlich erfasst werden können. Der daraus entstandene Sammelband stellt medial vermittelte Körperkonzepte, und historische Körpervorstellungen vor. Sehr spannend fand ich Maria Heideggers Analyse der aus den 1930er Jahren stammenden psychiatrischen Krankengeschichte der ‚Unterschicht- Patientin’ Magdalena H. Heidegger arbeitet darin körperhistorische Aspekte heraus und liest die Krankenakten zugleich als Erzählung über die organisationalen Rahmenbedingungen der ‚k.k. Provinzial- Irrenanstalt Hall in Tirol’. Das Buch versteht die Auseinandersetzung mit dem methodischen Umgang mit dem Körper als Experiment und demnach werden in den Beiträgen unterschiedliche Wege beschritten, den Körper „greifbar zu machen“. Offen bleibt die Frage, wie gefühlte Körperlichkeit methodisch wahrgenommen werden kann. Doris Allhutter
 
Körper er-fassen. Körpererfahrungen. Körpervorstellungen. Körperkonzepte. Hg. von Kordula Schnegg und Elisabeth Grabner-Niel. 156 Seiten, StudienVerlag, Innsbruck 2010 EUR 19,90

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Von der Revolution zum Aufstand

Dieses kurze und handliche Taschenbuch spannt einen großen Bogen von Körper und Subjekt über Gemeinsames (Commons) und Singularitäten bis hin zu Multitude und Gewesen-Seiendem. Robert Foltin bespricht in dem Zusammenhang eine Vielzahl an Theorien und Aktivismen. „Die Körper der Multitude“ handelt von Natur + Körper, geschlechtlicher (Un-)Eindeutigkeit, sexuellem Arbeiten, reeller Lebenssubsumption und in einem Exkurs von der Oktoberrevolution in Russland 1917. Das Buch bespricht weiter Arbeiter_innenklassen, Intellektuelle + Studierende, Rock’n’Roll, Biopolitik, Feminismen und in einem zweiten Exkurs die sexuelle Revolution 1968. Foltin thematisiert in seinem Buch darüber hinaus Frau-Werden, General Intellect und Fleisch sowie gesellschaftliche Individuen, queere Cyborgs und Arbeitskraft. Nicht zuletzt bekommen Ontologie, Klasse und Geschichte + Politik genauso Raum wie Wertgesetz, Kapitalismuskrise und Aufstand. Ein Buch also mit Anregungen für all jene, die neue Ideen zum Weiterlesen und Weiterdenken suchen. persson perry baumgartinger
 
Robert Foltin: Die Körper der Multitude. Von der sexuellen Revolution zum queer-feministischen Aufstand. 192 Seiten, Schmetterling Verlag, Stuttgart 2010 EUR 13,20

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Ungleich prekär?

Die politische Verantwortlichkeit akademischer Forschung, ohne ihre Widersprüchlichkeiten auszublenden, ist ein zentrales Anliegen der in drei Teilbereiche gegliederten Beiträge. Etwas schwerfällig liest sich der theoretische Abschnitt über Prekarisierung aus der Genderperspektive, während die Beispiele aus der Praxis spannend für die aktuelle soziologische Diskussion sind und jedenfalls im Diskurs über Prekarisierung einige Unschärfen beseitigen. Wie gesellschaftliche Entkoppelung, Entsicherung und Deregulierung sich in der fordistischen Erwerbsarbeitsgesellschaft quantitativ fortschreiben, wird nachvollzogen. Die Frage, ob die Geschlechterasymmetrie dadurch verschärft wird, wird unterschiedlich beantwortet. Durch den Ausbau des Niedriglohnsektors insbesondere in traditionell weiblichen Branchen (Care-Arbeit) wird einerseits die Verschränkung von rassistischen mit sexistischen Herrschaftsverhältnissen deutlich. Zunehmend weisen aber auch immer mehr Männer Prekarisierungsbiografien auf und weichen von der heteronormativen Figur des Normalarbeitsverhältnisvertreters ab. Interessant, wenn Prekär-Werden als mehrschichtige brüchige Lebenslage mit Nichtmännlichkeit übersetzt wird, hier sollte die Genderdebatte über Intersektionalität noch einige Leerstellen in der Prekarisierungsforschung inhaltlich ausfüllen. Antonia Laudon
 
Prekarisierung zwischen Anomie und Normalisierung. Geschlechtertheoretische Bestimmungen. Hg. von Alexandra Manske und Katharina Pühl. 274 Seiten, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2010 EUR 28,70

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