Asta Nielsens Gesicht und – aufgrund ihres
epochemachenden Kurzhaarschnitts – selbst
ihre Rückansicht, vielleicht auch einige hymnische
Reflexionen von Kritiker/innen oder Künstler/innen
sind heute auch noch jenen bekannt, die sich
nicht gerade mit dem frühen Film, dem dänischen
und deutschen Stummfilm der 1910er und 20er
Jahre beschäftigen. Sie war einst weltberühmteste
Schauspielerin, der erste Weltstar des Kinos, wiewohl
sie sich wenig zur Verklärung als Diva eignete.
Wenig dezent gebärdend und mimend eroberte
sie das Publikum mit Komödien und Liebesdramen
in einem erstaunlich weiten Spektrum an möglichen,
nunmehr darstellungswürdigen Weiblichkeiten,
Maskeraden und „Figuren“ (Backfisch, Dienstmädel,
Suffragette, Räuberhauptmann, Dirne, Bürgersfrau,
Journalistin, Raskolnikow etc.). Aufgrund
ihres oft schalkhaften Umgangs mit dem um 1910
voll erblühten Geschlechterkonflikt, aufgrund ihrer
Verwirrspiele und Tauschszenarien nicht nur in so
genannten Hosenrollen, sondern auch um Klassenzugehörigkeit
oder Alter gewinnen ihre Filme aus
heutiger Perspektive einige queerness, auch wenn
sie nicht frei von Exotismen sind.
Mit der von Nielsen-Expertinnen ausgerichteten
Retrospektive im Filmarchiv Austria ging die bereits
zweite Auflage der 2009 erstmals erschienenen Publikation
eines Sammelbandes und einer Dokumentation
der Filme einher, die nun Zugang zu den
über 70 Filmen der Asta Nielsen bieten. Kaum die
Hälfte dieser Filme ist auch erhalten. Der erste Band
ist Filmhistorischem, Kulturwissenschaftlichem sowie
ausführlichen Untersuchungen zu Produktionsverhältnissen
und zur Rezeption gewidmet. Die
noch stark szenisch organisierten Filme an der historischen
Schwelle von einem bildästhetisch
durchgestalteten hin zu einem entlang der Erzählhandlung
organisierten Kino stellten, so Heide
Schlüpmann, mit ihren mitunter bereits medienreflexiven
Szenarien („Die Filmprimadonna“/1913
oder „Die falsche Asta Nielsen“/ 1919) den Begriff
vom Beginn des narrativen Kinos infrage. Nielsens
Kunst des Blicks als gleichsam innerer Montage
wird herausgearbeitet (Ute Holl) und mit ihrem
Selbstkommentar in Form der Darstellung einer
Blinden konfrontiert („Die ewige Nacht“/1916) –
mehrere AutorInnen kommen darin überein, dass
Nielsens Spiel vor allem auch in den Blickinszenierungen
von Mehrschichtigkeit lebe, von gleichzeitigen
Adressierungen verschiedener Positionen von
Betrachtung. Grotesken analysiert Claudia Preschl
mit Bachtin in Richtung einer Umkehrbarkeit gesellschaftlicher
Verhältnisse, die Art, in der Nielsen
im Stummfilm „gehört“ werden konnte (Katharina
Sykora), aber auch ihr Umgang mit Taschen als ausgelagertem
Geschlecht (Sykora) oder Hüten als
gleichsam deleuzeschen Stabilisatoren innerhalb einer
„Logik der Sensation“ (Anke Zechner) werden
gleich wie Fragen nach der AutorInnenschaft der
Filme (Schröder) und der Modernität des Androgynen
(Teunissen) – und vielem anderen mehr –
diskutiert.
Neben einer Positionierung von Nielsens Schauspiel
und Film und kulturwissenschaftlichen Detailanalysen
bietet der erste Band viel Wissenswertes
zu Technik, Produktion, Vertrieb und Konservierung/
Restaurierung des frühen Films. Der zweite
Band stellt eine trotz schwierigster Quellenlage
sorgfältig in vielen europäischen Filmarchiven und
-instituten zusammengetragene Dokumentation
der Streifen dar; kurze Inhaltsangaben werden von
ausgezeichnet reproduzierten Stills und Kaderausbelichtungen,
Programmen, Plakaten, filmografischen
und bibliografischen Daten der zeitgenössischen
Erwähnungen ergänzt. Es ist ein Werkverzeichnis,
das auch als Fundgrube für Kulturgeschichte,
als Quelle vornehmlich für die 1910er
Jahre fungieren kann, wo wir noch anhand der
Stills und Paraphernalien Nielsens „Ästhetik des aktiven
weiblichen Körpers“ (Teunissen) erahnen
können. Edith Futscher
Unmögliche Liebe. Asta Nielsen, ihr Kino. Hg. von Heide
Schlüpmann u.a. 509 Seiten, Verlag Filmarchiv Austria, Wien
2010
Nachtfalter. Asta Nielsen, ihre Filme. Hg. von Karola Gramann
und Heide Schlüpmann. 431 Seiten, Verlag Filmarchiv
Austria, Wien 2010
Beide Bände im Schuber EUR 39,90
Candida Höfer war jetzt also in Philadelphia.
Wie schwierig das war, erfahren wir in einem
larmoyanten Hohelied an die Fotografin, verfasst
von Mari Shaw. „Candida in der besten aller Welten“
nennt sie ihren Text, dabei scheint es beim Bestaunen
der Bildtafeln angebrachter zu sagen: Candida
im Wunderland. Denn wie ein Bühnenbild für
Alice wirken die großformatigen, bis auf den Punkt
detailgetreuen, auf surreale Weise auf allen Blickebenen
scharfen Fotografien, die Höfer in verschiedenen
repräsentativen Institutionen der ehemaligen
US-amerikanischen Hauptstadt gemacht hat.
Bibliothek, Synagoge, Freimaurertempel, College
und Kunstakademie – aus Augenhöhe (nicht symbolträchtig,
sondern stativtechnisch) schauen wir
in die Tiefe der Räume, die nur vom gegebenen
Licht (Lampen, Halogenstrahler, Sonne durch Fenster)
ausgeleuchtet werden. Kein Authentizitätsfimmel,
sondern die Reaktion von verschiedenen
Lichtquellen auf die lange Öffnungszeit einer professionell
eingesetzten Architekturkamera. Das
macht Höfers Innenraumfotografie auch so eindrucksvoll:
die Genauigkeit in der Komposition
und die Zeit, die offensichtlich während der Aufnahmen
vergeht (Licht spielt rund um Tempelfenster,
ein Luster schwingt in die Unschärfe). Anna-
Maria Ehrmann-Schindlbeck gibt ein kurzes Intro
zur dazugehörigen Ausstellung, der Einführungstext
von Richard Torchia rahmt die Bildtafeln mit
Details über die angewandte Technik. Mari Shaws
Text kommt eher aus der Perspektive des Fanclubs,
dem mensch wohl auch angehören muss,
um den völlig überzogenen Preis für ein Heftchen
mit 13 Bildtafeln zu bezahlen. Da lieber – wenn irgend
möglich – auf die nächste Ausstellung warten
und Höfers Abzüge in der Pracht ihrer vollen
Größe genießen. Lisa Bolyos
Candida Höfer: Philadelphia. Texte von Anna-Maria Ehrmann-
Schindlbeck, Richard Torchia und Mari Shaw. 60 Seiten,
Schirmer/Mosel, München 2010 EUR 30,70
Was bedeutet es für das künstlerische Arbeiten,
Migrationserfahrung gemacht zu haben,
und darüber hinaus ständig die Erfahrung zu machen,
von außen als Migrantin definiert zu werden?
Die Künstlerinnen Agnes Achola, Carla Bobadilla,
Petja Dimitrova und Nilbar Güres haben gemeinsam
mit Stefania Del Sordo eine ausgewählte Anthologie
antirassistischer Kunst herausgegeben, die
diesen Fragen jenseits von Selbstbezüglichkeit
nachforscht. In vier Kapiteln, die jeweils einer
Künstlerin gewidmet sind, wird nicht ihr Werk präsentiert,
sondern das Arbeiten und Reflektieren innerhalb
einer rassistischen Gesellschaft, gegen die
sich antirassistisch zur Wehr gesetzt wird.
Kunst wird dabei einmal mehr als kollektiver
(Denk- und Handlungs-)Prozess verstanden, der
sich nicht abseits von gesellschaftlichen Widersprüchen
abwickeln lässt, sondern mittendrin dazu
aufgefordert wird und auffordert zu agieren. Die
Forderungen der Künstlerinnen sind sowohl die
nach Antirassismus als politischer Arbeit als auch
nach Dekolonialisierung auf einer strukturellen
Ebene im Kunstbetrieb.
Der dekoloniale Anspruch an die Bildung wird als
Lernen durch Fragen, als Verunsicherung der Zustände
und Positionen verstanden – dennoch fallen
die Statements der Künstlerinnen zur aktuellen und
sich weiter entwickelnden Situation von
Migrant_innen in Österreich sehr sicher aus. Besonders
empfehlenswert aus aktuellem Anlass ist
die Zeittafel österreichischer Fremdenpolitik und
antirassistischer Kämpfe, die Dimitrova ihren Collagen
und Zeichnungen wie eine Legende zur Seite
stellt.
Sowohl zum Trost als auch zur Motivation für politische
Interventionen nach den Wienwahlen höchst
empfehlenswert! Lisa Bolyos
Migrationsskizzen. Postkoloniale Verstrickungen, antirassistische
Baustellen. Hg. von Agnes Achola, Carla Bobadilla,
Petja Dimitrova, Nilbar Güres und Stefania Del Sordo. Mit Texten
von Radostina Patulova, Luisa Ziaja, Maria do Mar Castro
Varela und Fatih Aydogdu. 256 Seiten, Löcker, Wien 2010
EUR 24,80
Die Wiener Universität für Musik und darstellende
Kunst gilt eher als Hort der Tradition
denn als Hochburg feministischer Forschung. Umso
erfreulicher ist, dass mit „Screenings. Wissen
und Geschlecht in Musik, Theater, Film“ nun der 1.
Band der Reihe „Mdw Gender Wissen“ erschienen
ist. Die Herausgeberinnen verweisen auf den programmatischen
Titel – „Screening“ bedeutet so viel
wie Durchleuchtung, in diesem Fall durchaus kritisch
die der eigenen Institution. Entstanden ist der
Band aus einer Ringvorlesung, an der die Vielseitigkeit
des Angebots der Universität sichtbar wird,
das aus weit mehr als Instrumentalstudien besteht.
Die Themen, die sich da vor allem im Musikbereich
stellen, sind durchaus nicht neu, z.B. die mehrere
Jahrzehnte alte Suche nach einem weiblichen
Beethoven, die nun endlich in eines der Zentren der
Musikausbildung eingesickert ist. Soziale Kategorien
im künstlerischen Bereich – in Theater oder
Film, die ebenfalls an der Universität vertreten sind,
nicht unbedingt eine Neuentdeckung. Dennoch
verflüchtigen sich rasch die anfänglichen Befürchtungen,
dass da eine bloße Einführung in die breite
Thematik vorliegt. Nach einer Würdigung der
Einzelkämpferinnen an der ehrwürdigen Institution
erfolgt eine profunde Analyse der Etablierung
von Musik als akademischer Disziplin, die durchaus
an das Selbstverständnis des Hauses rührt. In
weiteren Beiträgen wird der Bogen über Musikerziehung,
Musikethnologie und Musiksoziologie bis
hin zu allgemeinen Überlegungen des Verhältnisses
zwischen Cultural Studies und Gender Studies gespannt.
Ein spannender Beginn, dem hoffentlich
tatsächlich noch weitere Bände folgen werden. Regina Himmelbauer
Screenings. Wissen und Geschlecht in Musik, Theater, Film.
Hg. von Andrea Ellmeier, Doris Ingrisch, Claudia Walkensteiner-
Preschl. 165 Seiten, Böhlau Verlag, Wien/Köln 2010
EUR 24,90