HerbstHerbst 20102010::Kunst Kunst

„Lach-Schlager“ und Kinodramen

Asta Nielsens Gesicht und – aufgrund ihres epochemachenden Kurzhaarschnitts – selbst ihre Rückansicht, vielleicht auch einige hymnische Reflexionen von Kritiker/innen oder Künstler/innen sind heute auch noch jenen bekannt, die sich nicht gerade mit dem frühen Film, dem dänischen und deutschen Stummfilm der 1910er und 20er Jahre beschäftigen. Sie war einst weltberühmteste Schauspielerin, der erste Weltstar des Kinos, wiewohl sie sich wenig zur Verklärung als Diva eignete. Wenig dezent gebärdend und mimend eroberte sie das Publikum mit Komödien und Liebesdramen in einem erstaunlich weiten Spektrum an möglichen, nunmehr darstellungswürdigen Weiblichkeiten, Maskeraden und „Figuren“ (Backfisch, Dienstmädel, Suffragette, Räuberhauptmann, Dirne, Bürgersfrau, Journalistin, Raskolnikow etc.). Aufgrund ihres oft schalkhaften Umgangs mit dem um 1910 voll erblühten Geschlechterkonflikt, aufgrund ihrer Verwirrspiele und Tauschszenarien nicht nur in so genannten Hosenrollen, sondern auch um Klassenzugehörigkeit oder Alter gewinnen ihre Filme aus heutiger Perspektive einige queerness, auch wenn sie nicht frei von Exotismen sind. Mit der von Nielsen-Expertinnen ausgerichteten Retrospektive im Filmarchiv Austria ging die bereits zweite Auflage der 2009 erstmals erschienenen Publikation eines Sammelbandes und einer Dokumentation der Filme einher, die nun Zugang zu den über 70 Filmen der Asta Nielsen bieten. Kaum die Hälfte dieser Filme ist auch erhalten. Der erste Band ist Filmhistorischem, Kulturwissenschaftlichem sowie ausführlichen Untersuchungen zu Produktionsverhältnissen und zur Rezeption gewidmet. Die noch stark szenisch organisierten Filme an der historischen Schwelle von einem bildästhetisch durchgestalteten hin zu einem entlang der Erzählhandlung organisierten Kino stellten, so Heide Schlüpmann, mit ihren mitunter bereits medienreflexiven Szenarien („Die Filmprimadonna“/1913 oder „Die falsche Asta Nielsen“/ 1919) den Begriff vom Beginn des narrativen Kinos infrage. Nielsens Kunst des Blicks als gleichsam innerer Montage wird herausgearbeitet (Ute Holl) und mit ihrem Selbstkommentar in Form der Darstellung einer Blinden konfrontiert („Die ewige Nacht“/1916) – mehrere AutorInnen kommen darin überein, dass Nielsens Spiel vor allem auch in den Blickinszenierungen von Mehrschichtigkeit lebe, von gleichzeitigen Adressierungen verschiedener Positionen von Betrachtung. Grotesken analysiert Claudia Preschl mit Bachtin in Richtung einer Umkehrbarkeit gesellschaftlicher Verhältnisse, die Art, in der Nielsen im Stummfilm „gehört“ werden konnte (Katharina Sykora), aber auch ihr Umgang mit Taschen als ausgelagertem Geschlecht (Sykora) oder Hüten als gleichsam deleuzeschen Stabilisatoren innerhalb einer „Logik der Sensation“ (Anke Zechner) werden gleich wie Fragen nach der AutorInnenschaft der Filme (Schröder) und der Modernität des Androgynen (Teunissen) – und vielem anderen mehr – diskutiert. Neben einer Positionierung von Nielsens Schauspiel und Film und kulturwissenschaftlichen Detailanalysen bietet der erste Band viel Wissenswertes zu Technik, Produktion, Vertrieb und Konservierung/ Restaurierung des frühen Films. Der zweite Band stellt eine trotz schwierigster Quellenlage sorgfältig in vielen europäischen Filmarchiven und -instituten zusammengetragene Dokumentation der Streifen dar; kurze Inhaltsangaben werden von ausgezeichnet reproduzierten Stills und Kaderausbelichtungen, Programmen, Plakaten, filmografischen und bibliografischen Daten der zeitgenössischen Erwähnungen ergänzt. Es ist ein Werkverzeichnis, das auch als Fundgrube für Kulturgeschichte, als Quelle vornehmlich für die 1910er Jahre fungieren kann, wo wir noch anhand der Stills und Paraphernalien Nielsens „Ästhetik des aktiven weiblichen Körpers“ (Teunissen) erahnen können. Edith Futscher
 
Unmögliche Liebe. Asta Nielsen, ihr Kino. Hg. von Heide Schlüpmann u.a. 509 Seiten, Verlag Filmarchiv Austria, Wien 2010
Nachtfalter. Asta Nielsen, ihre Filme. Hg. von Karola Gramann und Heide Schlüpmann. 431 Seiten, Verlag Filmarchiv Austria, Wien 2010
Beide Bände im Schuber EUR 39,90

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Suchbildminiaturen

Candida Höfer war jetzt also in Philadelphia. Wie schwierig das war, erfahren wir in einem larmoyanten Hohelied an die Fotografin, verfasst von Mari Shaw. „Candida in der besten aller Welten“ nennt sie ihren Text, dabei scheint es beim Bestaunen der Bildtafeln angebrachter zu sagen: Candida im Wunderland. Denn wie ein Bühnenbild für Alice wirken die großformatigen, bis auf den Punkt detailgetreuen, auf surreale Weise auf allen Blickebenen scharfen Fotografien, die Höfer in verschiedenen repräsentativen Institutionen der ehemaligen US-amerikanischen Hauptstadt gemacht hat. Bibliothek, Synagoge, Freimaurertempel, College und Kunstakademie – aus Augenhöhe (nicht symbolträchtig, sondern stativtechnisch) schauen wir in die Tiefe der Räume, die nur vom gegebenen Licht (Lampen, Halogenstrahler, Sonne durch Fenster) ausgeleuchtet werden. Kein Authentizitätsfimmel, sondern die Reaktion von verschiedenen Lichtquellen auf die lange Öffnungszeit einer professionell eingesetzten Architekturkamera. Das macht Höfers Innenraumfotografie auch so eindrucksvoll: die Genauigkeit in der Komposition und die Zeit, die offensichtlich während der Aufnahmen vergeht (Licht spielt rund um Tempelfenster, ein Luster schwingt in die Unschärfe). Anna- Maria Ehrmann-Schindlbeck gibt ein kurzes Intro zur dazugehörigen Ausstellung, der Einführungstext von Richard Torchia rahmt die Bildtafeln mit Details über die angewandte Technik. Mari Shaws Text kommt eher aus der Perspektive des Fanclubs, dem mensch wohl auch angehören muss, um den völlig überzogenen Preis für ein Heftchen mit 13 Bildtafeln zu bezahlen. Da lieber – wenn irgend möglich – auf die nächste Ausstellung warten und Höfers Abzüge in der Pracht ihrer vollen Größe genießen. Lisa Bolyos
 
Candida Höfer: Philadelphia. Texte von Anna-Maria Ehrmann- Schindlbeck, Richard Torchia und Mari Shaw. 60 Seiten, Schirmer/Mosel, München 2010 EUR 30,70

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Hayde, Künstler_innenschaft!

Was bedeutet es für das künstlerische Arbeiten, Migrationserfahrung gemacht zu haben, und darüber hinaus ständig die Erfahrung zu machen, von außen als Migrantin definiert zu werden? Die Künstlerinnen Agnes Achola, Carla Bobadilla, Petja Dimitrova und Nilbar Güres haben gemeinsam mit Stefania Del Sordo eine ausgewählte Anthologie antirassistischer Kunst herausgegeben, die diesen Fragen jenseits von Selbstbezüglichkeit nachforscht. In vier Kapiteln, die jeweils einer Künstlerin gewidmet sind, wird nicht ihr Werk präsentiert, sondern das Arbeiten und Reflektieren innerhalb einer rassistischen Gesellschaft, gegen die sich antirassistisch zur Wehr gesetzt wird. Kunst wird dabei einmal mehr als kollektiver (Denk- und Handlungs-)Prozess verstanden, der sich nicht abseits von gesellschaftlichen Widersprüchen abwickeln lässt, sondern mittendrin dazu aufgefordert wird und auffordert zu agieren. Die Forderungen der Künstlerinnen sind sowohl die nach Antirassismus als politischer Arbeit als auch nach Dekolonialisierung auf einer strukturellen Ebene im Kunstbetrieb. Der dekoloniale Anspruch an die Bildung wird als Lernen durch Fragen, als Verunsicherung der Zustände und Positionen verstanden – dennoch fallen die Statements der Künstlerinnen zur aktuellen und sich weiter entwickelnden Situation von Migrant_innen in Österreich sehr sicher aus. Besonders empfehlenswert aus aktuellem Anlass ist die Zeittafel österreichischer Fremdenpolitik und antirassistischer Kämpfe, die Dimitrova ihren Collagen und Zeichnungen wie eine Legende zur Seite stellt. Sowohl zum Trost als auch zur Motivation für politische Interventionen nach den Wienwahlen höchst empfehlenswert! Lisa Bolyos
 
Migrationsskizzen. Postkoloniale Verstrickungen, antirassistische Baustellen. Hg. von Agnes Achola, Carla Bobadilla, Petja Dimitrova, Nilbar Güres und Stefania Del Sordo. Mit Texten von Radostina Patulova, Luisa Ziaja, Maria do Mar Castro Varela und Fatih Aydogdu. 256 Seiten, Löcker, Wien 2010 EUR 24,80

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GenderWissen

Die Wiener Universität für Musik und darstellende Kunst gilt eher als Hort der Tradition denn als Hochburg feministischer Forschung. Umso erfreulicher ist, dass mit „Screenings. Wissen und Geschlecht in Musik, Theater, Film“ nun der 1. Band der Reihe „Mdw Gender Wissen“ erschienen ist. Die Herausgeberinnen verweisen auf den programmatischen Titel – „Screening“ bedeutet so viel wie Durchleuchtung, in diesem Fall durchaus kritisch die der eigenen Institution. Entstanden ist der Band aus einer Ringvorlesung, an der die Vielseitigkeit des Angebots der Universität sichtbar wird, das aus weit mehr als Instrumentalstudien besteht. Die Themen, die sich da vor allem im Musikbereich stellen, sind durchaus nicht neu, z.B. die mehrere Jahrzehnte alte Suche nach einem weiblichen Beethoven, die nun endlich in eines der Zentren der Musikausbildung eingesickert ist. Soziale Kategorien im künstlerischen Bereich – in Theater oder Film, die ebenfalls an der Universität vertreten sind, nicht unbedingt eine Neuentdeckung. Dennoch verflüchtigen sich rasch die anfänglichen Befürchtungen, dass da eine bloße Einführung in die breite Thematik vorliegt. Nach einer Würdigung der Einzelkämpferinnen an der ehrwürdigen Institution erfolgt eine profunde Analyse der Etablierung von Musik als akademischer Disziplin, die durchaus an das Selbstverständnis des Hauses rührt. In weiteren Beiträgen wird der Bogen über Musikerziehung, Musikethnologie und Musiksoziologie bis hin zu allgemeinen Überlegungen des Verhältnisses zwischen Cultural Studies und Gender Studies gespannt. Ein spannender Beginn, dem hoffentlich tatsächlich noch weitere Bände folgen werden. Regina Himmelbauer
 
Screenings. Wissen und Geschlecht in Musik, Theater, Film. Hg. von Andrea Ellmeier, Doris Ingrisch, Claudia Walkensteiner- Preschl. 165 Seiten, Böhlau Verlag, Wien/Köln 2010 EUR 24,90

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