Das nunmehr zum neunten Male erschienene
Jahrbuch der Erotik „Mein lesbisches Auge“
bietet in gewohnter Manier und Qualität vielschichtige
Einblicke in Varianten lesbisch-queeren
Begehrens und gelebtem oder auch phantasiertem
Sex. Was dieses Lesebuch so einmalig im deutschsprachigen
Raum macht, ist die darin vorfindbare
konsequente Offenheit gegenüber unterschiedlichsten
Begehrensformen und Sexpraktiken, die die
Leser*innen vor ausschließlich banalen Beschreibungen
selbiger bewahrt. Dies gelingt der Herausgeberin
Laura Méritt über die Auswahl unterschiedlicher
Textsorten wie Gespräche, Essays und
Glossen, über Bilder und über Sachtexte, die lesbisch-
queeres Begehren auch in historischen Kontexten
nachspüren. Das „lesbische Auge“ bietet alle
Jahre wieder unterhaltsame, manchmal auch irritierende
und verstörende Einblicke in die unbändige
Vielschichtigkeit lesbischer Existenzen, die sich
nicht in Schablonen pressen lassen. A must have für
alle, die sich gerne irritieren lassen, sich in Texten
und Bildern wiederfinden wollen und die lesbischen
Sex mit allen Höhen und Tiefen als nie endende
Leidenschaft betrachten. Roswitha Hofmann
Mein lesbisches Auge 9. Das lesbische Jahrbuch der Erotik.
Hg. von Laura Méritt. 256 Seiten, Konkursbuchverlag
Claudia Gehrke, Tübingen 2010 EUR 15,–
Signe von Scanzoni, ursprünglich Sängerin
und Schauspielerin, dann Musikjournalistin
und Musikkritikerin kannte Erika Mann flüchtig
aus Kindheitstagen. Als sie sich 1957 zufällig wieder
begegnen, beginnt eine enge FreundInnenschaft,
eine Liebe, die geprägt ist von den Zwängen
einerseits der fünfziger und sechziger Jahre in
Deutschland, andererseits von den Vorgaben und
Einschränkungen durch die Mann-Familie und die
Aufgaben, die Erika Mann als Nachlassverwalterin
daraus ableitet. So erfahren wir in diesem Bericht,
in dem vieles nur angedeutet, vieles vorausgesetzt
wird, so manches über ein Leben, eine Beziehung,
die aus vereinzelten „Höhlentagen“ in Hotels bestand,
aus Urlauben, aus vielen politischen Diskussionen,
aus einer immer wieder neu hergestellten
Nähe. Als Erika Mann 1969 an einem Gehirntumor
operiert wird, pflegt Signe von Scanzoni sie, beklagt
die vermeintliche oder wirkliche Gefühlskälte der
Mann-Familie, und berichtet über die intensiven
letzten Monate mit ihrer Freundin. Ursprünglich
galt dieser eindrucksvolle Bericht als verschollen,
nunmehr hat die bekannte Literaturwissenschafterin
Irmela von der Lühe, die 2009 eine Lebensgeschichte
Erika Manns verfasst hat, diesen Text als
Typoskript wieder entdeckt und kommentiert herausgegeben.
Ein berührender Text und ein kostbarer
Fund! HW
Signe von Scanzoni: Als ich noch lebte. Ein Bericht
über Erika Mann. 242 Seiten, Wallstein Verlag, Göttingen
2010 EUR 22,70
Genau zehn Jahre ist es her, dass Michelle Tea
– Mitbegründerin von „Sister Spit“ – den autobiographischen
Roman Valencia geschrieben hat
und nun liegt dieses aufregende, queerfeministische,
verrückte Buch endlich in deutscher Sprache
vor. Erschienen ist es im Wiener Verlag Zaglossus,
der es sich mit seinem Programm zur Aufgabe machen
möchte, die Vielfältigkeit von Lebensweisen,
insbesondere lesbischer und queerer Frauen aufzuzeigen.
Mit „Valencia“ legt der kleine Verlag auf jeden
Fall einen fulminanten Start hin. Michelle Tea
scheint durch San Francisco zu rasen, organisiert
ihre open-mic-Veranstaltungen, probiert Drogen
aus, fährt mit dem Fahrrad, bis es gestohlen wird,
bricht ins Gewerkschaftsbüro der mackrigen Anarchisten
ein, um Zines zu produzieren, und verliebt
sich nebenbei oder doch hauptsächlich in eine Frau
nach der anderen und hat massenhaft Sex.
Und ob eine so ein Leben haben will oder nicht, ist
egal, die Authentizität, mit der Michelle Tea erzählt,
ist mitreißend. Die tolle Übersetzung macht das
ganze auch im Deutschen zu einem echt lesenswerten
Buch. Paula Bolyos
Michelle Tea: Valencia. Roman. Übersetzt von Nicole Alecu
de Flers und Katja Langmaier. 269 Seiten, Zaglossus, Wien
2010 EUR 14,95
Moskau in den 1960er Jahren: Eine schöne
kühle Spionin, ihr Kompagnon und ein braver
Regierungsbeamter. Boston am Beginn des 2. Jahrtausends.
Eine ebenso schöne wie toughe Geschäftsfrau,
ihre Mutter, die gerne Schriftstellerin
wäre und ihr Vater, der ein Wissenschafter ist, wie
er im Buche steht. Eine auch sehr schöne sensible
Künstlerin, deren Vater, welcher der Bruder der
Spionin ist, und schließlich der Regierungsbeamte
von einst, der nun ein erfolgreicher Geschäftsmann
am Ende seiner Karriere ist. Das sind die Personen,
die Shamin Sarif in ihrem neuen Roman einfühlsam
porträtiert. Und die Handlung? Trotz Recherchen
der Autorin eher oberflächlicher Spionage-Kram,
eine große Liebe, die mit dem Tod endet, ein Geheimnis,
das aufgeklärt wird, gelebte und ungelebte
Träume und neue Lieben. Und die Botschaft: Lebe
deine Träume, ergreife deine Chancen – egal wie
alt du bist.
Die Liebesgeschichte zwischen Alexander, dem
ehemaligen Regierungsbeamten, der seine Leidenschaft
fürs Kochen zum Beruf gemacht hat, und
Estelle, der Frau des Wissenschafters, die ihre Leidenschaft
fürs Schreiben nicht zum Beruf gemacht
hat, wird sensibel erzählt. Jene zwischen Alexander
und Katja, der Spionin, die nur deshalb zur Spionin
wurde, weil Stalin ihre Eltern ermorden ließ,
leidet ein wenig unter übertriebener Dramatik. Jene
schließlich zwischen Lauren, Alexanders Nichte
und Melissa, Estelles Tochter, ist leider nicht viel
mehr als ein Nebenschauplatz. Welche also nicht in
erster Linie Frauen im Sinn hat und die Dramatik
an der Oberfläche erträgt, findet durchaus ein anregendes
Lesevergnügen. vab
Shamim Sarif: Das Leben, von dem sie träumten.
Roman. Übersetzt von Andrea Krug. 355 Seiten, Krug & Schadenberg,
Berlin 2010 EUR 23,60
Lisa, verheiratet und Mutter zweier Kinder, arbeitet
als Lektorin in einem kleinen Verlag und
lebt ein glückliches Familienleben bis sie zu einem
verhängnisvollen Klassentreffen eingeladen wird.
Dort trifft sie nämlich wieder Carmen, die Frau in
die sie als Jugendliche verliebt war und begibt sich
in einen Kampf der Gefühle. Zerrissen, ob sie sich
der Liebe zu Carmen hingeben soll, geplagt von
Schuldgefühlen ihrer Familie gegenüber, beendet
sie zunächst wieder den Kontakt zu Carmen. Doch
da ihr Mann weitere Treffen der beiden Frauen forciert,
um die Verbindung zur alten Schulfreundin
wieder neu zu entfachen, muss Lisa sich den Hochs
und Tiefs ihrer Gefühle stellen. Als Lisa endlich soweit
ist und sich auf die sexuelle Begegnung mit
Carmen einlässt, werden sie von Lisas Ehemann
überführt.
Der darauf folgende Streit zwischen Carmen und
Bernd endet für Carmen leider tödlich. Durch dieses
Schicksal und die Trauer erfährt Lisa ihr Coming-
out und kann endlich zu sich, ihren Gefühlen
und ihrem wahren Leben stehen.
Ein leicht zu lesender Roman von Sabine Brandl
mit Witz, Charme, Traurigkeit. Jedoch wenig beglückend,
da die Lesbe in alt hergebrachter Weise
sterben muss. Das Ende ist wiederum ermutigend,
da die zuvor heterosexuell lebende Lisa durch dieses
Schicksal zu ihrem wahren Inneren findet und
dazu stehen kann. Karin Pertl
Sabine Brandl: Und täglich grüßt die Erinnerung.
204 Seiten, Butze Verlag, Elmshorn 2010 EUR 17,50
Allah und der Regenbogen ist der Erstlingsroman
der steirischen Autorin Ulrike Karner, ein
Buch über drei siebzehnjährige Jugendliche, liest
sich aber auch gut mit 38. Hauptsächlich geht es
um Ebru, ein Mädchen aus einer traditionell lebenden
türkischen Familie, irgendwo in einer österreichischen
Kleinstadt. Ebru verliebt sich Hals über
Kopf in eine Schulkameradin, was sie in große innere
Konflikte stürzt, die sie in ihrem Tagebuch
festhält – natürlich nur im inoffiziellen Tagebuch,
das sie viel besser versteckt, als das offizielle, das
von ihrer Familie kontrolliert wird. Zweite wichtige
Person ist ihre Klassenkameradin Lisa, die zwei
lesbische Mütter und zwei schwule Väter hat, was
auch sie als Neue in der Kleinstadt vor Herausforderungen
stellt. Lisa ist verliebt in Tarek, den Bruder
von Ebru, der sich entschließen muss, auf welcher
Seite er stehen möchte: Tradition im Sinne seiner
Familie oder Lisa und Ebru. Ein flüssig geschriebenes
Buch auch mit viel Spaß, Spannung
und Überraschungen. Andere lesbische Rezensentinnen
(L-Mag vom September/Oktober 2010)
haben sich bitter beklagt über eingeflochtene türkische
Sätze – die Rezeption scheint kontroversieller
als ich es angenommen hätte… Karin Schönpflug, für die Lesbenberatung Lila Tipp
Ulrike Karner: Allah und der Regenbogen. 350 Seiten,
Ulrike Helmer Verlag, Sulzbach/Taunus EUR 20,60
Ebba auf Gotland und Marthe aus Amrum,
aber dann schon aus Berlin, als sie sich kennen
lernen. Die eine Komponistin und vierzehn Jahre
älter als die andere, die ist Fahrerin, Chauffeurin
und sehr großstädtisch. Das sind die Vorgaben, aus
denen Karen-Susan Fessel in ihrem neuen, dicken,
unterhaltsamen Roman einen Geschichtenteppich
webt, von Lesben, von Inselmenschen, von Krankheit,
Missbrauch und Tod, von Gewalt und Widerstand,
von Tierrechten und Hunden ... Also alles,
was ein Lesbenleben von den neunziger Jahren bis
jetzt so ausmacht? Im gewohnt leicht elegischen
Grundton Fessels erzählt da die eine, Marthe, wie
das so war mit ihrem Leben, mit ihrer Liebe zur anderen,
zu Ebba, mit ihren Affären in Berlin und mit
den Freundinnen und Freunden rundherum. Und
was so wird aus einer Fernbeziehung über die Jahre
hinweg, wenn „im Leben nicht immer alles
kommt, wie man es sich wünscht“, wie die Pastorin
beim Gottesdienst in der kleinen Inselkirche
sagt. HW
Karen-Susan Fessel: Leise Töne. Roman. 492 Seiten,
Querverlag, Berlin 2010 EUR 20,50