Der Tagungsband „Orte der Diversität” beschäftigt sich mit
dem mittlerweile zur Wort hülse verkommenen Begriff „Diversität”.
Die HerausgeberInnen versuchen der oft mangelnden theoretischen
Schärfe des Begriffs zu begegnen und so einem reduzierten
Verständnis von Diversität entgegenzuwirken. Zu diesem Zweck werden
in den Buchbeiträgen unterschiedliche Diskursstränge identifiziert,
die sich dazu in den letzten Jahrzehnten in unterschiedlichen
Wissenschafts- und Politikbereichen entwickelt haben. Zugleich werden
Ergebnisse empirischer Untersuchungen präsentiert, die das
tagtägliche Erleben von Diversität vor allem in städtischen und
institutionellen Kontexten und in Organisationen sowie mediale
Inszenierungen davon beleuchten. Die thematischen Schwerpunkte der
Beiträge liegen dabei allerdings neben allgemeineren theoretischen
Betrachtungen vor allem auf Ethnizität, Interkulturalität und
Gender, wodurch die geplante Darstellung der Komplexität von
Diversität sehr relativiert wird. Was in diesem Kontext allerdings
mehr irritiert, ist unter anderem die Annahme, dass die
unterschiedlichen Diskurse zu Diversität zunehmend auf einen
gemeinsamen Diskurs zielten, sowie die fehlende geschlechter-
beziehungsweise diversitätsgerechte Sprache der HerausgeberInnen.
Trotz dieser überaus diskussionswürdigen Aspekte ist dieses Buch
für alle interessant, die in ihren jeweils eigenen Arbeitsbereichen
gegen das Stehsatz- und Worthülsen-Denken Roswitha Hofmann
Orte der Diversität. Formate, Arrangements und Inszenierungen. Hg.
von Christina Allemann-Ghionda und Wolf-Dietrich Bukow. 245 Seiten,
VS Verlag, Wiesbaden 2011 EUR 30,80
„Im Streit um den Feminismus ist schon viel Tinte geflossen,
zurzeit ist er fast beendet; reden wir nicht mehr davon.” — mit
einer Verabschiedung des Themas beginnt Simone de Beauvoir 1949 ihre
mehr als tausend Seiten umfassende Studie „Das andere Geschlecht”.
Der vorliegende Band versammelt Grundlagentexte des Feminismus aus
den Jahren 1920 bis 1985 und schließt damit an den bis 1919
reichenden ersten Band der „Klassikerinnen” an. Im Fokus steht
dabei die westdeutsche Frauenbewegung der 1970er und 1980er Jahre,
deren bevorzugte Lektüren in den Blick genommen werden. Das sind zum
einen die Texte der als Vorläuferinnen (wieder-)entdeckten
Vertreterinnen der Brückenzeit zwischen Alter und Neuer
Frauenbewegung, die in biographischen Skizzen und mit Ausschnitten
aus inzwischen kanonisch gewordenen Texten vorgestellt werden —
neben Beauvoir unter anderem Virginia Woolf mit „Ein Zimmer für
sich allein” und Betty Friedan mit dem „Weiblichkeitswahn”. Zum
anderen werden zu einzelnen Themenfeldern — von „Sexualpolitik”
über „Lesbischen Feminismus” bis „Differenzfeminismus”
zentrale Texte vorgestellt. Deutlich wird dabei, welch großen
Einfluss englischsprachige — insbesondere US-amerikanische —
Autorinnen von Kate Millet über Gayle Rubin bis Adrienne Rich
hatten. Aus diesem Muster fällt der Differenzfeminismus, angeführt
durch Luce Irigaray heraus. Eher als deutschsprachiges Thema
erscheint der konfliktreiche Zusammenhang zwischen Feminismus und
Sozialismus, hier unter anderem vertreten durch einen Text von Jutta
Menschik und Fragen nach der (Haus-) Arbeit. Ein Buch wie das
vorliegende Werk ist ein schwieriges Unterfangen: es muss
Kanonisierungen vornehmen und steht damit vor folgenreichen
Entscheidungen, die es zweifellos angreifbar machen. So ließe sich
fragen, warum hier zwar Perspektiven der feministischen
Literaturtheorie einbezogen wurden, andere Disziplinen, in denen sich
feministische Theorie entwickelt hat (so etwa die
Geschichtswissenschaft), weitgehend ausgeblendet bleiben. Auch die
Zuspitzung auf westdeutsche Perspektiven ließe sich diskutieren.
Gleichwohl muss jede Historisierung auf Eingrenzungen zurückgreifen,
und wenn sie wie hier in präzisen und anregenden Einleitungen und
Kommentaren erläutert werden, dann ist damit ein wichtiger
Ausgangspunkt für differenzierte historische Rückblicke auf den
Feminismus und die Geschichte der Neuen Frauenbewegung gesetzt.
Johanna Gehmacher
Klassikerinnen feministischer Theorie.
Grundlagentexte Band II (1920-1985). Hg. von Ulla Wischermann,
Susanne Rauscher und Ute Gerhard. 350 Seiten, Ulrike Helmer Verlag,
Königstein/Taunus 2010 EUR 30,80
Bereits 1984 erhob Donna Haraway in ihrem „Manifest für
Cyborgs” — einer Analyse moderner Technowissenschaft und der
veränderten Grenz ziehung zwischen Mensch und Maschine, Natur und
Kultur, Wissenschaft und Technik — ein Plädoyer dafür, „die
Verwischung dieser Grenzen zu genießen und Verantwortung bei ihrer
Konstruktion zu übernehmen”. Damit eröffnete sie nicht nur einen
analytischen Blick auf techno-/wissenschaft-/ gesellschaftliche
Entwicklungen; sie räumte kritischen AnalystInnen auch eine aktive
Rolle ein und nahm sie zivilgesellschaftlich wie persönlich in die
Pflicht. Mehr als 25 Jahre später lohnt sich nun die Frage danach,
was aus dem technowissenschaftlichen Projekt und der
Technowissenschaftsforschung geworden ist. Die von Jutta Weber
versammelten Beiträge widmen sich dieser Frage mit besonderem (aber
bei weitem nicht ausschließlichem) Augenmerk auf den neuen Umgang
mit den Grenzen zwischen den Disziplinen und zwischen Wissenschaft,
Technologie und Gesellschaft. Petra Schaper-Rinkel vergleicht
Erwartungen, Versprechungen und tatsächliche Entwicklungen rund um
die Nano- und Neurowissenschaften und konstatiert kritisch, dass „die
Freiheit zur neurotechnologischen Hochrüstung bei bestehender
sozialer Ungleichheit zur Verschärfung von Herrschaftsverhältnissen
und damit zum Verschwinden von Freiheit führt”. Ein ähnlich
nüchternes Resümee ziehen Cheris Kramarae (in ihrer Analyse von Web
Science und Gender), Maria Osietzki (zum Flirt zwischen
Neurowissenschaft und Buddhismus) und Bettina Wahrig und Stephanie
Zuber (zu Interdisziplinarität in den Gender Studies). Zwar bleiben
viele der getroffenen Aussagen thesenhaft; dem Band gelingt es aber
jedenfalls, das schon etwas zerredete Konzept der
Interdisziplinarität kraft- und sinnvoll zu aktualisieren und den
Technowissenschaftsbegriff weiter zu denken. Karen Kastenhofer
Interdisziplinierung? Zum Wissenstransfer zwischen den Geistes-,
Sozial- und Technowissenschaften. Hg. von Jutta Weber. 250 Seiten,
transcript, Bielefeld 2010 EUR 29,70
Die Soziologin Eva Eichinger greift mit dem Thema Selbsttötung
ein berührendes Thema auf. Sie untersucht in Anlehnung an Foucault
und Bourdieu, wie stark das Phänomen von der äußeren
gesellschaftlichen Definitionsmacht konstituiert wird und wie
fragwürdig die vorgestellten historischen Gewissheiten darüber
sind. Die öffentliche Bewertung des Suizids hat sich im Laufe der
Jahrhunderte gewandelt, indem die nur pathologisch gesehene
Selbsttötung zunehmend auch mit gesellschaftlichen Ursachen
verknüpft wurde, bis hin zum Diskurs um den Freitod als Grundrecht
(vg. JeanAmery). Ein weiterer Abschnitt des Buches greift
diskursanalytisch auf, wie ExpertInnen aus Kriseninterventionsstellen
Suizid, die Suizidgefährdung, und die dahinter stehenden Subjekte
aktuell einschätzen. Dabei werden Strukturkategorien wie Geschlecht,
soziale Ungleichheit und Alter einbezogen, die unzweifelhaft eine
Rolle spielen, allerdings nicht überstrapaziert werden sollten.
Interessant ist dennoch, dass Frauen mittleren Alters in materiellen
Notlagen die Hauptgruppe darstellten, die sich wegen Krisen oder
Suizidgefährdung an Interventionsstellen wendet. Oft begründen ein
sozialer Funktionsverlust oder eine sich zuspitzende
Mehrfachbelastung die Notwendigkeit, um sich an eine professionelle
Hilfe von außen zu wenden. Auch der Anteil jüngerer Männer in
sozialen Randlagen, die in medizinischen Interventionsstellen Hilfe
suchen, steigt. Das spannende an der hier vorgelegten Untersuchung
ist, dass gesellschaftlich gebildete Mystifikationen rund um das
Thema reflektiert werden und einer Vereinfachung damit massiv
entgegengewirkt wird. Eine attraktive, feministische Einladung dazu,
eine gewonnene Sichtweise stärker zu hinterfragen. ML
Eva
Eichinger: Suizidär. suizidal. suizidant — Suizid als
pathologisches Phänomen? Diskurs. Genealogie. Analyse. 233 Seiten,
Löcker Verlag, Wien 2010 EUR 24,80
In „Die Grenzen der Gerechtigkeit” entwickelt Martha Nussbaum
ausgehend von John Rawls einflussreicher Arbeit eine
Gerechtigkeitstheorie, die insbesondere auf drei Grundprobleme und
damit Defizite seiner Überlegungen verweist. Rawls und andere gehen
davon aus, dass uneingeschränkt kooperative Gesellschaftsmitglieder
zum gegenseitigen Vorteil einen Gesellschaftsvertrag schließen, der
gerechte Verhältnisse für alle sicherstellen soll. Nussbaum stellt
diese nutzenorientierte Konzeption von Personen in Frage, weil sich
daraus logisch ergibt, dass Personen mit physischen und mentalen
Beeinträchtigungen einen solchen Vertrag oft nicht eingehen und
daher auch kein Recht auf Gerechtigkeit erwerben können. Sie bleiben
somit abhängig von Wohltätigkeit und Mitgefühl der vertragsfähigen
Gesellschaftsmitglieder. Da sich die Gerechtigkeitstheorien zudem auf
den BürgerInnenstatus einer Person beziehen, erscheint unter dieser
Prämisse auch eine globale Gerechtigkeit unmöglich. Nussbaum hält
daher der grundsätzlichen Ausrichtung am gegenseitigen Vorteil und
an nationaler Zugehörigkeit ihren Fähigkeitsansatz entgegen, nach
dem Gerechtigkeit dann entsteht, wenn Wesen (auch Tiere) elementare
Ansprüche (z.B. körperliche Integrität, die Anteilnahme am Leben
anderer Spezies, Gesundheit etc.) erfüllen können. Es geht Nussbaum
damit nicht nur um die gerechte Verteilung von Gütern, sondern um
die Verteilung von Bedingungen für ein gutes Leben, womit sie zwei
bekannte feministische Diskurse weiterführt, dass nämlich nicht nur
der gegenseitige Vorteil zu einem guten und gerechten Leben führt,
sondern auch die Sorge um andere und dass die Trennung zwischen
Mensch und belebter Umwelt einem guten Leben entgegensteht. Nussbaum
hebelt damit das vorherrschende rationale und nutzen orientierte
Denken über Gerechtigkeit aus und schlägt zudem eine Brücke
zwischen menschlichem und nicht-menschlichem Leben. Roswitha
Hofmann
Martha C. Nussbaum: Die Grenzen der Gerechtigkeit. 599
Seiten, Suhrkamp, Berlin 2010 EUR 38,—
Mit einer Fülle empirischer Daten und ambitionierten Analysen
wird das kritische Potenzial der Frauenbewegung gegenüber
neoliberalen Positionen dargestellt: elf Artikel zum Um-
beziehungsweise Abbau des Wohlfahrtsstaates beleuchten die aktuellen
Veränderungen der Geschlechterverhältnisse durch Re-Definition von
sozialen Rechten und Sicherungssystemen sowie die neuen Entwicklungen
in der Sorgearbeit. „Aktivierende” Arbeitsmarktpolitik fordert
die Erwerbsbeteiligung von Frauen ein, etabliert aber das Idealbild
des „Arbeitskraftunternehmers”, der von allen sozialen Bindungen
frei ist. In der Pflegearbeit verstärken sich
Ungleichheitsperspektiven entlang von Geschlecht, sozialer und
ethnischer Herkunft — oft verschärft durch die konkrete Gestaltung
der Arbeitsbeziehungen im informellen Sektor. Die Autorinnen zeigen,
wie sehr „das Persönliche” gerade in der neuen internationalen
Arbeitsteilung politisch ist — Grundlage ist nach wie vor die
Trivialisierung der Reproduktionsarbeit. Wesentlich für die
aktuellen Transformationen ist aber auch eine umfassende
Sicherheitsrhetorik: Die neuen Formen sozialer Kontrolle werden
exemplarisch anhand der Gemeinwesenarbeit und der „Frühen Hilfen”
dargestellt — samt aller Widersprüche! Hedi Presch
Wohlfahrtsstaatlichkeit und Geschlechterverhältnisse aus
feministischer Perspektive. Hg. von Regina Dackweiler und Reinhild
Schäfer. 248 Seiten, Westfälisches Dampfboot, Münster 2010 EUR
30,80
Intersektionalität, also das Ineinandergreifen und die
wechselseitige Beeinflussung von Differenzsetzungen via Geschlecht,
Alter, sexuelle Orientierung und andere mehr, ist bereits seit
längerem in Diskussion. Der vorliegende Tagungsband zeichnet
aktuelle feministische Debatten zum Thema Intersektionalität im
europäischen Kontext nach, ohne dabei die Gründungsgeschichten zu
vernachlässigen, die nicht nur wesentlich für das Erfassen der
Diskursstränge sind, sondern vor allem für den Nachvollzug der
Rezeptionsgeschichte und der Kontextualisierung von
Entwicklungssträngen. In diesem Buch werden daher ausgehend von
frühen Arbeiten aus dem US-amerikanischen Raum neben einer
theoretischen, methodologischen und methodischen Bestandsaufnahmen
und den damit verknüpften Kontroversen auch Entwicklungsperspektiven
diskutiert und unterschiedliche disziplinäre wie räumliche
Verortungen und Entwicklungen wissenschaftlicher Diskurse dargelegt.
In dem Band sind daher Beiträge von AutorInnen aus den
unterschiedlichsten kulturellen Kontexten versammelt. Zudem nehmen
neuere Themen innerhalb der Intersektionalitätsforschung — wie zum
Beispiel Heteronormativität und kritische Perspektiven, die der
Weiterentwicklung des Themenfeldes dienen sollen — einen breiten
Raum ein. Der Tagungsband bietet somit einen historisch gut
eingebetteten und auf gegenwärtige und zukünftige Entwicklungen hin
ausgerichteten Überblick zum Themenfeld und kann daher allen an dem
Thema Interessierten als fundierte und gut lesbare Roswitha
Hofmann
Einführung dienen. Fokus Intersektionalität. Bewegungen
und Verortungen eines vielschichtigen Konzepts. Hg. von Helma Lutz,
Maria Teresa Herrera Vivar und Linda Supik. 259 Seiten, VS Verlag,
Wiesbaden 2010 EUR 25,70
Die deutsche Judaistin Christina Thesing untersuchte in einer
gründlich recherchierten und (was keineswegs selbstverständlich
ist) klar und gut formulierten Studie die Einflüsse des Feminismus
auf das amerikanische Judentum. Das Buch, das als Dissertation an der
Goethe Universität in Frankfurt am Main entstanden ist, bietet im
zweiten Kapitel auch eine Einführung in die vier grundlegenden
Strömungen des amerikanischen Judentums: orthodox, konservativ,
reformiert (liberal) und rekonstruktionistisch. In einigen
Unterkapiteln beschreibt die Autorin danach kurz die Eroberung der
Ämter, insbesondere den Kampf um die Ordination von Rabbinerinnen
und die Ausbildung von Kantorinnen ab den 1970er Jahren. Sie zitiert
zwar den Satz der einflussreichen amerikanischen orthodoxen Feminstin
Blu Greenberg: „Where there was a rabbinic will, there was a
halakhic way”, nicht jedoch deren Überzeugung, dass es in
absehbarer Zeit in Teilen der Orthodoxie auch Rabbinerinnen geben
wird. In der Orthodoxie, bei der sie eine zunehmende Fragmentierung
konstatiert, sind es vor allem Frauengebetsrunden, Jeschiwot für
Frauen und ein pionierhafter Versuch mit Gemeindepraktikantinnen in
New York, die einen Wandel bewirkten. Ausführlich widmet sich
Thesing in der Folge der feministischen Sprachkritik und den
Änderungen in den amerikanischen Gebetsbüchern der verschiedenen
Denominationen. Ein weiteres Kapitel geht auf die Ritualkritik und
die Entstehung von analogen Ritualen für Mädchen und Frauen in
allen Strömungen ein. Eine ausführliche Bibliographie und ein
Personenindex ergänzen das empfehlenswerte Buch, das besonders für
den deutschen Sprachraum eine wichtige Wissenslücke schließt.
Evelyn Adunka
Christina Thesing: Feminism kosher. Frauen
erobern das amerikanische Judentum. 383 Seiten, Ulrike Helmer Verlag,
Sulzbach/Taunus 2011 EUR 41,10
Das neue Buch „Die große Verschleierung” von Alice Schwarzer
ist eine Sammlung verschiedener EMMA Artikel, die nicht sehr
liebevoll in einem Buch zusammengefasst wurden. So fällt auf, dass
die Artikel oft veraltet, nicht mehr zeitgemäß sind, und dass sich
die inhaltlichen Thesen zum Teil sinngemäß oder fast wortwörtlich
wiederholen. Dies könnte natürlich auch eine Taktik von
Indoktrinierungsversuchen ihrer Botschaft gegen den Islamismus sein.
Durchwegs alle Artikel der Herausgeberin haben sich dem auf
polemische Weise verschrieben. Dies beginnt damit, dass sie in der
Einleitung den Islamismus mit dem Nationalsozialismus (!) vergleicht
und nicht nur einmal die sehr problematische Belagerungsmetapher für
die Migration muslimischer Menschen nach Europa verwendet. Ihr klarer
Feind sind die extremistischen, orthodoxen Islamisten und
Islamistenverbände sowie radikale Konvertit_innen, denen sie die
Schuld an der Frauenunterdrückung zuschreibt. Mag ihr
Befreiungsversuch der Frauen noch so gut gemeint sein, eine
unreflektierte Kulturalisierung verschiedenster sozialer Probleme, in
denen sich Migrant_innen wiederfinden, namentlich: Isolation, Armut,
Perspektivenlosigkeit, Diskriminierung etc. ist genau dabei nicht
zielführend, wahrscheinlich sogar das Gegenteil. Außer staatlichen
Verboten für Kopftuch an Schulen, Burkaverbot und anderen
gesetzlichen Vorschriften hat sie wenige Lösungsvorschläge zu
bieten. Auch Lale Akgün wünscht sich in ihrem Buch „Aufstand der
Kopftuchmädchen” mehr Unterstützung vom Staat, wenn es um die
Liberalisierung des Islams in Deutschland geht. Dazu gehört ihrer
Meinung nach ebenso ein Kopftuchverbot. Sie zeichnet allerdings ein
viel differenzierteres Bild der Situation. Sie versucht den Islam
modern zu interpretieren und fordert ein laizistisches Deutschland,
dessen muslimische Staatsbürger_innen sich (aus Überzeugung) zu den
deutschen Grundrechten bekennen. Ebenso kritisch wie Alice Schwarzer
steht sie den ultra-orthodoxen Islamisten und ihren Verbänden
gegenüber, in denen beide eines der grundlegenden Probleme der
heutigen Situation und Debatten sehen. Akgün pocht auf die Vernunft
und Selbstständigkeit der modernen muslimisch-deutschen Bevölkerung,
sich gegen die politischen Bestrebungen dieser Verbände zu
positionieren. Dieses Buch könnte hilfreich dabei sein. Vor allem
für Menschen mit nicht-muslimischem Hintergrund ist es eine
spannende und leichte, wenn auch etwas oberflächliche Einführung in
den Islam, die zu mehr Sympathie und Verständnis beitragen könnte.
Für beide Autorinnen ist klar, dass Frauen nicht mehr Drehscheibe
politischer, religiöser und sozialer Zwänge sein dürfen und Frauen
endlich selbst und frei bestimmt leben können sollen, egal welcher
Religion sie schlussendlich angehören oder nicht. Der Weg, den die
beiden dorthin einschlagen, ist jedoch grundverschieden. Am Ende soll
noch hinzufügt werden, dass auch im Buch „Die große
Verschleierung” einige spannende Beiträge zu finden sind. Es sind
vor allem jene, welche selektiv ausgewählt wurden, um die Grundthese
Schwarzers zu unterstreichen. Als Geschichten über betroffene Frauen
sollten sie durchaus eine Würdigung erfahren. Nichtsdestotrotz gebe
ich dem Buch von Lale Akgün aufgrund seiner Differenziertheit den
Vorzug. Helene Hattmansdorfer
Alice Schwarzer: Die große
Verschleierung. Für Integration, gegen Islamismus. 318 Seiten.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010 EUR 10,30 Lale Akgün:
Aufstand der Kopftuchmädchen. Deutsche Musliminnen wehren sich gegen
den Islamismus. 279 Seiten, Piper, München 2011 EUR 17,50
Der Staat, seine unterschiedlichen (Diskurs-) Arenen und seine
komplexen Beziehungen zu LGBTIQ-Bewegungen gelten nach wie vor als
erkenntnistheoretische Lücke innerhalb der Queer Theory. Mit ihrer
Publikation „Sexuelle Politiken. Die Diskurse zum
Lebenspartnerschaftsgesetz” trägt die Politikwissenschafterin
Heike Raab nun dazu bei, einige dieser Leerstellen äußerst
produktiv zu erschließen. Auf Basis einer fundierten
staatstheoretischen Herangehensweise, die Raab u.a. mit queeren,
feministischen und gouvernementalitätstheoretischen Ansätzen
verknüpft, wird anhand von politischen Diskursen über die
„Homo-Ehe” in Deutschland das komplexe Verhältnis zwischen
Staat/lichkeit, Identität/spolitiken und lesbischen/schwulen
Bewegungen analysiert. Raab verbleibt in ihrer Analyse jedoch nicht
auf einer theoretischen Metaebene, sondern untersucht im Rahmen einer
differenzierten Policy-Analyse die Vielschichtigkeit und Ambivalenz
der Positionen, AkteurInnen und institutionellen (Diskurs-) Arenen,
in denen die „Homo-Ehe” verhandelt wird. Damit trägt Raab nicht
nur zur Entwicklung eines queeren Staatskonzeptes bei, sondern ihre
Untersuchung verweist auch auf die (queere) Notwendigkeit, die
politischen Handlungsmöglichkeiten und Strategien von
lesbischen/schwulen Bewegungen, die oft vorschnell als ‚identitär'
abgetan werden, stärker im Kontext staatlicher Rahmenbedingungen und
politischer Rationalitäten zu situieren. Christine Klapeer Heike
Raab: Sexuelle Politiken. Die Diskurse zum
Lebenspartnerschaftsgesetz. 352 Seiten, Campus Verlag, Frankfurt am
Main 2011 EUR 35,90
Das diskursive Spannungsfeld politischer und epistemischer Gewalt
versucht Claudia Brunner in Hinblick auf das Wissensobjekt
Selbstmordattentat zu (re)konstruieren. Ihr Anspruch, keine
Erklärungen für dieses Phänomen liefern zu wollen, irritiert
herrschende Wissensordnungen und stellt die eigentliche
Herausforderung der Lektüre dar. Der Autorin gelingt es zu
dekonstruieren, wie ExpertInnen die Unerschließbarkeit eines
Phänomens durch dessen Naturalisierung zu kompensieren versuchen und
sich dabei orientalistischer Stereotype bedienen. Damit knüpft sie
an feministische und postkoloniale Kritiken gegenüber
positivistischen und androzentrischen Wissenstraditionen an. Die
naturalisierende und kulturalisierende Hervorbringung eines
„Wissensgegenstandes Selbstmordattentat” ist jedoch nicht nur in
epistemologischer Hinsicht relevant: mittels Konstruktion einer von
einem „kranken Fieber” heimgesuchten arabischen oder islamischen
„Selbstmordkultur” wird auch staatliche und strukturelle Gewalt
gegenüber orientalisierten Anderen legitimiert. Brunners zentrale
Leistung ist, dass sie den Begriff der Gewalt für
wissenschaftstheoretische Auseinandersetzungen nutzbar macht. Neben
der Vertiefung theoretischer Fragestellungen im Kontext einer
intersektionalen Analyse bietet „Wissensobjekt Selbstmordattentat”
auch eine methodische Hilfestellung für LeserInnen, die im Rahmen
eigener empirischer Projekte diskursanalytisch arbeiten. Katrin
Oberdorfer
Claudia Brunner: Wissensobjekt Selbstmordattentat.
Epistemische Gewalt und okzidentalistische Selbstvergewisserung in
der Terrorismusforschung. Hg. von Reiner Keller. 379 Seiten, VS
Verlag, Wiesbaden 2011 EUR 51,40
Polyamory ist ein Einführungsbuch. Eine kritische Erinnerung an
„ein Beziehungsgeflecht, in dem mehrere Liebesbeziehungen
verantwortungsvoll, ehrlich, offen und verbindlich gleichzeitig
entwickelt und gelebt werden”. Neben der philosophischen,
soziologischen theoretischen Einbettung des Begriffs Polyamory und
der geschichtlichen Entwicklung von Theorie und Praxis werden
zentrale Fragen und Themen abgearbeitet: Liebe und Eifersucht,
Privatbesitz oder Subversion, Heteronormativität und
Gesellschaftskritik sowie Werte und Grundsätze. Ganz besonders
gefallen hat mir die geschichtliche Aufarbeitung von Polyamory und
der „Mono-Normativität”. „Polyamory. Eine Erinnerung” bietet
viel Interessantes — Theoretisches, Geschichtliches, Praktisches
zum Thema für Anfänger_innen und Wiederentdeckende. Für mich als
Laie eine kurze, knappe, eher theoretische, aber praktische
Einführung mit viel Wissenswertem zu Polyamory und
Mono-Normativität. Inklusive der Frage nach Utopien und schönen
Aussichten. Ganz im Sinne der feinen Reihe „theorie.org”. persson
perry baumgartinger
Thomas Schroedter und Christina Vetter:
Polyamory. Eine Erinnerung. 168 Seiten, Schmetterling Verlag,
Stuttgart 2010 EUR 10,30
In einer Sammlung klassischer und neuerer Beiträge dokumentiert
der von Barbara Eder und Felix Wemheuer herausgegebene Band die
Debatten, die innerhalb der Linken über Sex und seine Beziehung zu
Arbeit und Reproduktion geführt wurden und werden. Historische
Texte, z.B. vom ‚Reichsverband für proletarische Sexualpolitik',
Alexandra Kollontais Vorstellung von der ‚erotischen Freundschaft',
Clara Zetkins Gespräch mit Lenin über die Modenarrheit deutscher
Genossinnen, Sex- und Eheverhältnisse zu politisieren, oder
Shulamith Firestones Idee vom ‚kybernetischen Kommunismus' werden
mit queertheoretischen Texten zusammen gebracht. Darunter etwa
Beatriz Preciados ‚postsexuelle Körper' oder Michel Foucaults
Interview zum lesbischen Sadomasochismus als Widerstandspraktik. Die
ausführliche Einleitung der HerausgeberInnen kontextualisiert die
verschiedenen Zugangsweisen und bringt sie miteinander auf erhellende
Weise ins Gespräch. So wird etwa der linke Anspruch der ‚sexuellen
Befreiung' der Frage gegenübergestellt, „wem das Privileg sich
von seiner Sexualität zu befreien, überhaupt zukommt” (S. 10).
Während es queeren AkteurInnen „weitgehend an einer fundamentalen
Kritik der Verhältnisse im real existierenden Kapitalismus”
mangle, verstehen Eder und Wemheuer die Reproduktion von
Geschlechternormen und von Zwangsheterosexualität als „Epiphänomene
kapitalistischen Denkens, Handelns und Fühlens” (S. 11f.) Der Band
inspiriert dazu, die retrospektive Betrachtung linker Gesellschafts-
und Beziehungsentwürfe den Befreiungspotenzialen gegenwärtiger
Lebensformen und theoretischer Grenzverschiebungen
gegenüberzustellen. Die Vorschläge reichen dabei von zeitlich
befristeten Verträgen über das Zusammenleben von zehn Erwachsenen
und ihren Kindern, über die Erotisierung der Gesamtpersönlichkeit
und die Überwindung der genital fixierten Sexualität, bis zur
Selbst-Deklaration als „Loch und als Arbeiter des Arschlochs”.
Eine interessante Mischung an Texten zu einer Debatte, die keineswegs
abgeschlossen ist! Doris Allhutter
Die Linke und der Sex. Hg.
von Barbara Eder und Felix Wemheuer. Promedia Verlag, Wien 2011 EUR
12,90