FrühjahrFrühjahr 20112011:: GeschichteGeschichte

Reforminternationalismen und globale Ungleichheit

Als Beitrag zur Internationalismusforschung bietet dieses Buch eine weitreichende kritische Beschreibung und Analyse der Reforminternationalismen: Antisklavereipolitik, christliche Mission und Frauenbewegung. Susan Zimmermann beleuchtet die Vorgehensweisen und Strategien dieser Bewegungen in Bezug auf die jeweiligen gesellschaftlichen und globalen Machtverhältnisse. Besondere Bedeutung hat die Analyse der Positionierung der Bewegungen in Bezug auf globale Ungleichheit und Nationalstaatlichkeit. Wird Kritik an globaler Ungleichheit aus strategischen Gründen vermieden? Gibt es Tendenzen, sich auf Einpunktagenden zu beschränken, um möglicherweise deren Umsetzbarkeit zu erleichtern? Die Verstrickungen der Reforminternationalismen in die Politiken der globalen Ungleichheit werden aufgezeigt. Zu diesen Politiken gehört das Schweigen zu Fragen der globalen Ungleichheit ebenso wie die Rechtfertigung der Kooperation mit geltenden Machtpolitiken im Dienste „der guten Sache”. Vielfach werden Reforminternationalismen genutzt, um den Einflussbereich für vordefinierte Vorstellungen von Reformen auszuweiten und sie angeblich rückständigen Ländern oder Bevölkerungsgruppen vorzugeben. Besondere Wirksamkeit zeigt die Verbindung von Reformagenden mit kapitalistischer Expansionspolitik. Die Öffnung von Märkten, die Transformation von Arbeitsverhältnissen hin zu Marktorientierung sind Beispiele dafür. Katja Russo
 
Susan Zimmermann: Grenzüberschreitungen. Internationale Netzwerke, Organisationen, Bewegungen und die Politik der globalen Ungleichheit vom 17. bis zum 21. Jahrhundert. 270 Seiten, Mandelbaum Verlag, Wien 2010 EUR 24,90

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Brief-Wechsel im Widerstreit

Zu dem Zerwürfnis zwischen ihr und Gershom Scholem hat Hannah Arendt irgendwann einmal in etwa gesagt, dass dieses zu den enttäuschendsten Erfahrungen gehörte, da sie davon ausginge, dass eine Freundschaft als nichtfamiliale Verbindung alle (politischen) Differenzen aushalte. Nun liegt der komplette Briefwechsel (1939-1964) der beiden vor; nicht nur das persönliche Zeugnis einer Freundschaft zwischen dem „kabbalistischen” Religionswissenschafter und der politischen Philosophin, sondern auch ein historisches Dokument, das die (mentalen) Erfahrungen und unterschiedlichen Perspektiven jüdischer Intellektueller der Kriegs- und Nachkriegszeit auf die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Judentums spiegelt. Unterschiede, die schließlich in unaufhebbare Widersprüche mündeten. Wobei sich hier zwei unbeirrbare Charaktere begegnen, die wenig geneigt sind, sich auf Kompromisse einzulassen. Erste Verbindung der beiden ist die Sorge um Walter Benjamins verstreuten Nachlass. Neben kleinen Berichten aus den (Forschungs-)Alltagen in Jerusalem (gewollte Migration eines deutsch-jüdischen Assimilierten) und New York (erzwungene Migration einer deutsch-jüdisch Assimilierten), dem Austausch über das beidseitige Engagement in der Rettung der jüdischen Kultur nach 1945, den Denkarbeitsvorhaben, dem Zusenden der jeweils neuesten Schriften spannt sich der Bogen bis zur Veröffentlichung von Arendts Berichterstattung über den Eichmannprozess. Die darin formulierte Kritik an den jüdischen Funktionären während der Shoah, sowie ihre Reflexion auf „Die Banalität des Bösen” (des Massenmörders ohne Motivation) führten zu einer unversöhnlichen Kontroverse, denn Scholem, der diese dann auch in die Öffentlichkeit trug, sah dies als Verrat an der Liebe zu den Juden an, ein Vorwurf der für Arendt absurd war. Was sie jedoch ablehnte war eine jegliche geschlossene Weltanschauung. Diese fundiert editierte und kommentierte Briefsammlung ist für Materieneulinge wie für KennerInnen eine Fundgrube an jüdisch-intellektueller ZeitzeugInnenschaft. Birge Krondorfer
 
Der Briefwechsel. Hannah Arendt. Gershom Scholem. Hg. von Marie Luise Knott, unter Mitarbeit von David Heredia. 694 Seiten, Jüdischer Verlag, Berlin 2010 EUR 41,10

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Zum Geburtstag einer Tradition

Pünktlich zum 100. Jubiläum des Internationalen Frauentags erscheint mit diesem Frauentagsbuch ein gut recherchiertes Werk, das die Ursprungsgeschichte(n) und Wandlungen dieses besonderen Tages hierzulande in den Blick nimmt. Somit ist das Buch auch ein wichtiger Beitrag zur Frauen- und feministischen Geschichtsschreibung. Anhand der am Frauentag öffentlich präsentierten, jeweils aktuellen politischen Forderungen zeichnet es zunächst die Kämpfe der Frauen um mehr Rechte als Bürgerinnen nach, um dann mit der Neuen Frauenbewegung einen Paradigmenwechsel hin zur Selbstbestimmtheit über das eigene Leben zu reflektieren. Der Frauentag in Österreich hat im Wesentlichen zwei Wurzeln: eine sozialistisch/kommunistische und eine feministisch-autonome. Die Pole, zwischen denen sich die frauenpolitischen Veränderungsbestrebungen bewegten, waren und sind jener, der das Leben und die Möglichkeiten von Frauen in die gesamtgesellschaftliche Entwicklung eingebettet sieht, und jener, der „Frau” als Individuum denkt, das sein volles Potential entfalten möchte, und zwar durch Überschreitung der vorgegebenen Rahmenbedingungen. Ein Buch wie dieses wirft auch die Frage auf, wie die Geschichte weitergeht. Weder ist die neoliberale Entwicklung der letzten Jahrzehnte spurlos an den Frauenbewegungen vorübergegangen, noch ihre Integration ins Establishment, was möglicherweise Ausdruck genau dieser Entwicklung ist. 100 Jahre sind zwar seit dem ersten Internationalen Frauentag vergangen, aber die Situation von Frauen ist noch immer die der „Anderen”, unabhängig davon, welche Optionen sich für einen Teil von uns inzwischen eröffnet haben. Und obwohl jede neue Frauengeneration dies zunächst nicht wahrhaben zu wollen scheint, sprechen Fakten und Zahlen, ebenso wie Lebens- und Karriereverläufe eine deutliche Sprache. Insofern braucht es noch viele Frauenkampftage — mit der Beteiligung von Frauen über die üblichen Szenen und Kreise hinaus, die leidenschaftlich genug sind, für eine andere Welt und für ein anderes Leben für sich selbst einzutreten. Hilde Grammel
 
Frauentag! Erfindung und Karriere einer Tradition. Hg. von Heidi Niederkofler, Maria Mesner und Johanna Zechner. 343 Seiten, Löcker, Wien 2011 EUR 29,80

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Zwischen Praxis und Forschung

Zum 65. Geburtstag von Angelika Ebbinghaus entstand dieser gelungene Band, der zunächst einige ihrer Weggefährtinnen zu Wort kommen lässt, die gemeinsam mit ihr die verschiedensten autonomen frauenspezifischen Sozial- und Forschungsprojekte in den 1960er und -70er Jahren gestaltet haben. Interessant ist daran neben den vorgestellten praktischen Erfahrungen das interdisziplinäre Hinterfragen von klassischen wissenschaftlichen Konzepten, das Abweichen von der Linie, um auf Antworten von unten zu kommen. Immer wieder der Gedanke: wie kann die Praxis mit der Theorie verknüpft werden? Es folgen von Ebbinghaus publizierte Beiträge aus unterschiedlichen zeitlichen Etappen ihrer Forschungspraxis. Der erste Beitrag repliziert die politischen Themen um 1968. Angemessen ist dann ihr gnadenloser Beitrag über die Ewiggestrigen im Wissenschaftsbetrieb, ebenso wie der Beitrag über den Massenmord in Konzentrationslagern durch Zyklon B und die Rolle der Chemieunternehmen. Sie lässt auch den Widerstand gegen den Nationalsozialismus nicht unbeachtet. An anderer Stelle greift sie die blinden Flecken der Frauenforschung auf. Das Thema „Frauen” als Täterinnen im Faschismus hat sie mitbesetzt, indem sie die berufliche Rolle der Fürsorgerin in Wohlfahrtsämtern oder der Krankenschwester in psychiatrischen Kliniken oder der KZAufseherin in Ravensbrück nicht unterschätzt. Auch die „andere Arbeiter_innenbewegung” wird trotz Taylorismus und anderer Waffen, die gegen diese aufgefahren werden, hervorgehoben. Die Themen kennzeichnen die Stärke der Autorin, ihre unermüdliche Bemühung, die Koordinaten ihrer Zeit auf den Punkt zu bringen. ML
 
Angelika Ebbinghaus: Ein anderer Kompass. Soziale Bewegungen und Geschichtsschreibung. Texte 1969—2009. Hg. von der Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts. 334 Seiten, Assoziation A, Hamburg 2010 EUR 20,60

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Mit Kind und Kegel

Der in den USA bereits in den 1990ern als „Gayby”-Boom bezeichnete rasante Zuwachs an Kindern, die in gleichgeschlechtliche Beziehungen hineingeboren werden, scheint endgültig auf den (mittel-)europäischen Raum übergegriffen zu haben. Anzeichen hierfür lassen sich nicht zuletzt anhand der Entwicklungen im Bereich des Adoptionsrechts sowie der wachsenden medialen Berichterstattung über diese neuen Familienformen ausmachen. Die systematische wissenschaftliche Behandlung des kontroversiellen Themas führe aber, so die Herausgeberinnen des umfangreichen Sammelbandes, bislang ein Schattendasein. Dieses zu beenden ist zentrales Anliegen des Bandes, der Auseinandersetzungen mit demographischen, medizinischen, rechtlichen, ethischen, psychologischen, soziologischen, therapeutischen und künstlerischen Aspekten gleichgeschlechtlicher Elternschaft versammelt. Vor allem für Personen mit Kinderwunsch und solche, die schon Kinder haben, bieten die informativen Beiträge aus unterschiedlichen Perspektiven Einblick in vielfältige Facetten der Lebenssituation gleichgeschlechtlicher Personen mit Kindern. Deren Zusammenführung, so sei abschließend kritisch angemerkt, obliegt dabei jedoch weitgehend den Leser_innen. Sushila Mesquita
 
Die gleichgeschlechtliche Familie mit Kindern. Interdisziplinäre Beiträge zu einer neuen Lebensform. Hg. von Dorett Funcke und Petra Thorn. 498 Seiten, transcript, Bielefeld 2010 EUR 33,80

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