FrühjahrFrühjahr 20112011:: RomaneRomane

Mörderische Moral

Die schwedische Autorin Kerstin Ekman versetzt die LeserInnen diesmal ins Jahr 1919. Der Arzt Pontus Revinge blickt zurück auf 13 ereignisreiche Jahre, in denen er sich viele Notizen gemacht hat. Diese will er nun noch einmal lesen, bevor er sie vernichtet. Vieles in seinem Leben ist von der Überzeugung, ja Besessenheit, bestimmt, dass er einst den Autor Hjalmar Söderberg zu dessen berühmtem Roman „Doktor Glas” inspirierte. Dieser Roman löste bei seinem Erscheinen 1905 einen Skandal aus, kreiste er doch um die Frage, ob es eine moralische Rechtfertigung für einen Mord geben kann. Revinge bildet sich also ein, einen wichtigen Anstoß zu Söderbergs Roman geliefert zu haben. Tatsächlich wird er selbst zum Mörder. Als sich die Gelegenheit bietet, tötet er den Arzt, für den er arbeitet. Dieser ist ihm schon länger verhasst, weil er in Revinges Augen seine Stieftochter belästigt. Scheint seine Motivation erst noch sympathisch, zeigt sich allzu bald, dass Revinge unter anderem in dieser Hinsicht in die Fußstapfen seines Arbeitgebers steigen will. „Tagebuch eines Mörders” ist ein kunstvoll angelegter Roman, der mit der Spannung zwischen Fiktion und Tatsachen spielt und so auch die oft völlig an jeder Realität vorbeigehenden Gedanken der Hauptfigur spiegelt. Wie schon früher in Ekmans Werk dreht sich vieles um die Lebensbedingungen von Frauen zu jener Zeit: etwa die Umstände von Abtreibungen oder die ersten Frauen, die es schafften Ärztinnen zu werden. Ein grundsätzliches Thema ist hierbei die Verfügbarkeit weiblicher Körper für Männer — und die Rolle von Ärzten dabei. Das Buch ist mit seinen vielen Anspielungen eine Fundgrube für Literaturwissenschaftlerinnen aber auch eine anspruchsvolle Lektüre für alle anderen Literaturbegeisterten. ESt
 
Kerstin Ekman: Tagebuch eines Mörders. Roman. Übersetzt von Hedwig M. Binder. 245 Seiten, Piper, München 2011 EUR 18,50

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Der zu hohe Preis für ein Leben in Europa!

Die Selbstverständlichkeit, mit der wir uns als Europäer_innen auf die Reise begeben, gilt nicht für jemanden, der aus Afrika zu uns kommt. Maxi Obexer beschreibt den unbeirrbaren Weg einer nigerianischen Frau, die nach Europa flüchtet, um ein selbstgewähltes Leben zu führen. Helens Weg ist ein Höllenszenario, sie verzagt nicht, das einzige, was sie aufrecht hält, ist, dass sie ihr Ziel unbedingt erreichen möchte. Sie erreicht ihr Ziel, das gewünschte Land, aber nicht die Chance ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Davon ist sie entfernter denn je … Der Roman ist ein Gewinn für all die Leserinnen, die sich mit Flüchtlingsfragen beschäftigt haben und ein „Muss” für die, die noch immer Grenzen für notwendig erachten, um darüber oberflächlich zu urteilen, wem ein Bleiberecht zusteht. Die gewählte Sprache ist eindeutig und klar. In die Erzählung werden immer wieder parallel Briefe an die Familie eingeflochten. Zuerst ist der Inhalt der Briefe frei erfunden, dann wechseln die Briefe in eine andere Form, indem die Ich-Erzählerin so schreibt, als wenn nicht sie die Erlebende wäre, sondern sie über eine Freundin schriebe, dann endlich kann sie über sich als „ich” schreiben, nachdem sie das real unzumutbare Europa erreicht hat. Das Buch ist nicht leicht aus der Hand zu legen, sondern berührend, aufwühlend, schmerzhaft. Migration mit all ihren Schattenseiten ist ein wichtiges Thema. Es ist ein Zufall, wenn wir gerade heute nicht davon betroffen sind. ML
 
Maxi Obexer: Wenn gefährliche Hunde lachen. 165 Seiten, Folio Verlag, Wien/Bozen 2011 EUR 22,90

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Schatten der Vergangenheit

Die 23-jährige Jelisaweta freut sich auf ihren neuen Job, auf die Großstadt Frankfurt, darauf, der Obhut ihrer Mutter zu entkommen und auch auf ihre neue Arbeit als Pflegerin einer alten Dame, die ihr weitaus weniger anstrengend scheint als der Job im Krankenhaus und noch dazu besser bezahlt ist. Auch wenn es nicht ideal beginnt — das Haus liegt am Stadtrand, die Verwandten der 91jährigen Wilhelmine gönnen ihr keine Verschnaufpause und verabschieden sich auch gleich in den Urlaub — Jelisaweta scheint es mit der alten Dame gut getroffen zu haben. Wilhelmine, die seit einem Sturz von der Leiter bettlägerig ist, ist umgänglich und dankbar für die liebevolle Betreuung. Doch plötzlich kippt die Stimmung, als Wilhelmine Jelisaweta am Telefon russisch sprechen hört. Wilhelmine erinnert sich an schreckliche, lange verdrängte Erlebnisse, denen sie sich plötzlich stellen muss und es beginnt ein subtiler, grausamer Kampf zwischen den beiden Frauen. Auch in Jelisawetas Familiengeschichte gibt es einen dunklen Fleck … Das auf einer wahren Begebenheit beruhende Buch der deutschen Autorin Eva Baronsky ist eine sensibel erzählte Geschichte über Vergangenheitsbewältigung, das Älter werden und zwei Frauen, die unterschiedlicher nicht sein könnten und deren Schicksale dennoch miteinander verbunden sind. vab
 
Eva Baronsky: Magnolienschlaf. Roman. 184 Seiten, Aufbau, Berlin 2011 EUR 18,50

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Das lässt sich ändern

„Das lässt sich ändern” ist Adam Czupeks Motto für so ca. alle Widrigkeiten im Leben seiner Umgebung. Es handelt sich jeweils um praktischhandwerkliche Probleme wie Reparaturen, Renovierungen und landwirtschaftliche Tätigkeiten, die im Lauf des Romans zunehmend anwachsen. Dabei wird chronologisch beschrieben, wie sich das Leben der Erzählerin durch ihre Entscheidung für den als grundguten Menschen stilisierten Adam verändert. Es gelingt ein oft amüsanter, von viel Leichtigkeit getragener Angriff auf die bürgerliche Alltagswelt, die als eine Art „Kontrastfolie” zu Adams Schaffen und Werken ständig präsent ist. Auf der Holzapfelwiese in Ilmenstett landet die Familie schließlich in selbstbestimmter Subsistenzwirtschaft gemeinsam mit Gleichgesinnten. Dieses sehr idealisierte Glück wird immer wieder durchbrochen, denn die Polizei ist schnell gerufen. Besonders die befreundete Familie Özyilmaz bekommt im Lauf der Geschichte zunehmende Schwierigkeiten. Der Roman hat keinerlei tiefgründige Gesellschaftsanalyse vor, sondern beschreibt mit Ironie und Trotz das selbstbestimmte Überleben der von kapitalistischen Modernisierungsprozessen „Ausgestoßenen”. Kategorien wie Geschlecht bleiben dabei unterbeleuchtet. So wird die Beziehung zwischen Adam und der Erzählerin kaum beschrieben und auch die Besonderheit der prekären Situation von Familie Özyilmaz im Unterschied zu den Übrigen bleibt unbedeutend. Damit sackt die Erzählung für mich in eine Art „Multi-Kulti”-Glücklichsein ab, die als überzuckertes Märchen schnell wieder zur Seite gelegt wird. Alice Ludvig
 
Birgit Vanderbeke: Das lässt sich ändern. Roman. 160 Seiten, Piper, München, Zürich 2011 EUR 17,50

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Gemalte Worte

Ein namenloser Maler, Rembrandt, so wird im Laufe des Buches klar, begegnet im Amsterdam des 17. Jahrhunderts dem Mädchen Elsje Christiaens, wenn auch nicht ihrer lebenden Person, denn als sie für den Mord an ihrer Zimmerwirtin der Todesstrafe zugeführt wird, befindet er sich gerade in einer Apotheke und wählt Farben für seine nächsten Gemälde aus. Sein Sohn, der Urteilsverkündung und Hinrichtung beigewohnt hatte, berichtet ihm von dem außergewöhnlichen Verhalten des Mädchens, und Rembrandt macht sich auf zu Elsjes Schandpfahl, um ein Bild der Toten zu malen. Der Roman erzählt die Geschichte der Annäherung und Kreuzung der Wege des Malers und des Mädchens und somit die eines Bildes, das heute in New York betrachtet werden kann. Die Geschichte wird aus beider Perspektiven erzählt, die des Malers erschließt sich jedoch leichter, man ist ihm näher, mit seiner Trauer um seine zweite Frau, die er an die Pest verlor, seinen finanziellen Nöten und insbesondere seinem Zugang zur Malerei und den alten Meistern. Man versteht zwar Elsjes Beweggründe, Aarhus zu verlassen und ihrer Stiefschwester nach Amsterdam zu folgen, jedoch bleibt ihr Charakter stärker in der Außenbetrachtung, verweist auf eine Figur in einem Bild. Was diesen Roman aber so besonders macht, ist die phantastische Fähigkeit der Autorin, der Leser_in Gemälde in die Erinnerung zu setzen, leuchtende, klare, ausdifferenzierte Bilder in perfekten Farbkombinationen, die die Leser_in niemals gesehen hat, die sich ihr alleine über Buchstaben, Worte und Sätze erschließen. Hier ist alles Farbe, alles Pinselstrich. Susanne Oechsner
 
Margriet de Moor: Der Maler und das Mädchen. Roman. Übersetzt von Helga van Beuningen. 304 Seiten, Carl Hanser Verlag, München 2011 EUR 20,50

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Freundinnen

Helle Tage bringt das Leben immer wieder — egal ob in Kindheit, Jugend oder Erwachsenenalter. Für Aja sind die Tage besonders hell, als ihr Vater Zigi lange sommerliche Wochen mit ihr und Évi in dem Häuschen hinter Kirchblüt verbringt, Aja das Radfahren beibringt und seine Kunststücke vorführt, während die Kinder der kleinen Stadt am Zaun stehen und schließlich sogar den Garten betreten. Seri ist immer dabei, etwas im Hintergrund, wenn Zigi da ist, aber bald die beste Freundin an Ajas Seite. Später kommt noch Karl dazu, dessen Vater in dem Haus mit den geschlossenen Läden lebt, seit der Bruder als kleines Kind verschwunden ist. Die Geschichte, die Zsuzsa Bánk in ihrem aktuellen Roman durch Seri erzählen lässt, ist nicht nur eine von Freund_innenschaft, Liebe, Verrat der drei Kinder, sondern besonders jene der Mütter. Durch Seri erfährt die Leserin, wie die von ihr bewunderte und geliebte Évi immer wieder von Amt zu Amt gangen ist, um eine Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis zu bekommen, wie sie in Zigis Briefen nach ihrem Namen sucht, weil sie nicht lesen kann und die Anzahl ihres geschriebenen Namens Botschaften vermittelt. Sie beschreibt auch die Verlorenheit von Karls Mutter seit dem Verlust ihres anderen Sohnes und jene der eigenen Mutter nach dem Tod deren Mannes. Viel mehr als das Schicksal der drei Kinder fesselt die Entstehung einer Freundinnenschaft zwischen den Frauen, die anfängliche Distanz, die schüchternen Annäherungen und schließlich handfeste Unterstützung, wie es sich eine von Freundinnen nur wünschen kann. Viel mehr als Liebe und Verlust zwischen Männern und Frauen sticht diese Freundinnenschaft hervor, und je unaufdringlicher sie beschrieben wird, desto stärker wirkt sie nach. Und dass sie eine Meisterin des unaufdringlichen, aber gerade deswegen so eingängigen Beschreibens von Gefühlen ist, beweist Zsuzsa Bánk in ihrem aktuellen Roman aufs Neue. Mit ihrer präzisen Sprache lässt sie ihre Protagonistinnen in Kirchblüt, in Rom und an allen anderen Orten so lebendig werden, dass die Leserin sich mittendrin meint, im sommerwarmen Gras in Évis Garten, dem Geruch frischgebackenen Kuchens und unter der warmen Sonne dieser hellen Tage. Paula Bolyos
 
Zsuzsa Bánk: Die hellen Tage. Roman. 542 Seiten, S. Fischer, Frankfurt/Main 2011 EUR 22,60

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Schwarzschrift

Töchter und Mütter haben es in der Literatur ja oft nicht leicht miteinander. Einblick in eine komplexe Variante erhält die Leserin hier aus der Perspektive von Louise, deren nüchterne Fassungslosigkeit angesichts ihrer Verpflanzung nach Deutschland, in den durch und durch spießbürgerlichen Haushalt der Großeltern, zur Grundmelodie wird. Der prügelnde Vater wurde in Frankreich zurückgelassen, die Mutter wird bald völlig blind sein. Ein Umstand, der eine ganz eigene Mutter-Tochter Beziehung begründet, in der Louise quasi als Blindenstock fungiert. Doch die Mutter wird zur Blindenschule gehen und sie bei den Großeltern zurücklassen in einer bedrückenden Atmosphäre von rigider Verkrampftheit, wo ihr der Großvater von Blondi, dem Schäferhund, erzählt und die Großmutter den korrekten Umgang mit Dienstpersonal erläutert. Der spröde Blick des Kindes fängt die der bürgerlichen Kleinfamilie immanenten Absurditäten in aller Deutlichkeit ein und lässt trotz der dichten und problembeladenen Thematik auch schmunzeln. Zuletzt bleibt Verstörung zurück, über eine Wendung im Abhängigkeitsverhältnis von Mutter und Tochter, die entbehrlich gewesen wäre. bw
 
Christine Velan: Der blinde Fleck. Roman. 312 Seiten. Braumüller Literaturverlag, Wien 2011 EUR 21,90

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Geheimnisse aus der Vergangenheit

Die junge Kunsthistorikerin Cate Albion flüchtet sich aus einer üblen Beziehung aus New York und zieht zu ihrer Tante Rachel nach London, die hier ein Auktionshaus besitzt. Um sie abzulenken, setzt Rachel sie gemeinsam mit ihrem Assistenten Jack Coates ein, die Antiquitäten eines Anwesens in Devon, Endsleigh, zu katalogisieren und für eine Versteigerung vorzubereiten. Dort findet Cate einen alten Schuhkarton, der einer von zwei Schwestern gehörte, die früher in dem Anwesen wohnten und gesellschaftliche Berühmtheiten waren. Cate ist vor allem von der einen Schwester fasziniert, die sich nicht an die an sie gerichteten Erwartungen anpassen wollte und die schon vor langer Zeit spurlos verschwand. Der Aufbau des Romans ist spannend angelegt, was damals wirklich passiert ist, wird nur stückchenweise durch Zitate aus alten Briefen verraten. Aber leider ist das Lesevergnügen getrübt durch eine über weite Strecken viel zu traditionelle Gestaltung der Geschlechterrollen, Beziehungen und Machtverhältnisse. Gabriele Mraz
 
Kathleen Tessaro: Debütantinnen. Roman. Übersetzt von Elvira Willems. 384 Seiten, Goldmann Verlag, München 2010 EUR 9,30

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Die globale Normalität patriarchaler Strukturen

Die Lebenswege vier afrikanischer Frauen treffen in Antwerpen aufeinander. Dort verkaufen sie ihre Körper als Prostituierte in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Erst durch den gewaltsamen Tod von Sisi wird die Zwangsgemeinschaft zu einem gemeinschaftlichen Denkprozess angeregt, in dem sich die verbliebenen Frauen, Ama, Efe und Joyce einander anvertrauen. Sie beginnen über ihre Vergangenheit und ihre Träume zu sprechen. Interessant ist dabei der Erzählstil, da die Perspektiven zwischen den vier Frauen ständig wechseln, um dann wieder zusammengeführt zu werden. Schade, dass ihre Beschreibungen über ihr Leben in Afrika nur von den persönlichen Beziehungen geprägt sind und die Länder Afrikas wenig näher gebracht wird. „Schwarze Schwestern” zeigt die globale Normalität patriarchaler Strukturen auf und wie Frauen innerhalb dieser versuchen, das Beste für sich herauszuholen, ohne jemals die Chance zu haben, die Strukturen tatsächlich zu sprengen. Solange Frauen auf ihre Funktionalität reduziert werden und nicht sie selbst es sind, die ihren Wert und ihre Bestimmung festsetzen, bewegen sie sich in Gefängnissen, in denen sie sich mit ihrer zugewiesenen Rolle arrangieren oder sie leben in der drohenden Gefahr, bei einem auflehnenden Akt mit ihrem Leben bezahlen zu müssen. VV
 
Chika Unigwe: Schwarze Schwestern. Roman. Übersetzt von Ira Wilhelm. 283 Seiten, Klett-Cotta, Stuttgart 2010 EUR 20,50

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Burgfräulein meets Dr. Stefan Frank

Einzig die immer wieder aufblitzende Selbstironie ermöglicht es, der Protagonistin der Herznovelle gelegentlich Sympathie entgegenzubringen. Diese hat sich gerade einer Herzoperation unterzogen und mit der fad geworden Ehe im Rücken fällt es ganz leicht, sich in den behandelnden Arzt zu verlieben. Arztroman? Jein. Zum einem ist da der recht gleichgültige Angetraute, der wahrscheinlich mit der gleichen distanzierten Höflichkeit eine Trennung akzeptieren würde, mit der er ihr früh morgens eine Tasse Kaffee reicht. Da mag ein weißer Kittel schon aufregender sein. Schließlich hat er ihr Herz berührt. Daraus lässt sich eine solide Obsession konstruieren. Zum anderen ist sie eben noch mit dem Leben davongekommen, und findet dieses doch recht leer vor. Da scheint das Bedürfnis nach Neuorientierung nachvollziehbar und erlaubt auch einen etwas verständnisvolleren Blick auf ihre einigermaßen dramatischen Bemühungen die Aufmerksamkeit des vermeintlichen Retters zu erregen. Für den ist der Job jedoch erledigt und somit besteht ja dann doch noch Hoffnung. bw
 
Julya Rabinowich: Herznovelle. Roman. 160 Seiten, Deuticke Verlag, Wien 2011 EUR 16,40

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Das Antwerpener Testament

An der englischen Küste versammelt sich die Familie von Henriette Stanley, um von der verstorbenen Patriarchin Abschied zu nehmen. Von diesem Begräbnis ausgehend, wird nun eine tragische, das gesamte 20. Jahrhundert umspannende Familiengeschichte erzählt. Im Mittelpunkt steht die Liebe zwischen Henriettes Tochter Anne und dem jungen deutschen Wissenschafter Ulrich, den Anne bei einem Sprachaufenthalt in Deutschland kennen und lieben lernt. Henriette Stanley, die aus einer angesehenen Antwerpener Reederfamilie stammt, welche von den Nationalsozialist_innen verfolgt wurde, ist von Beginn an gegen diese Beziehung. Mehr noch, sie macht diese Verbindung dafür verantwortlich, dass sie um ihr belgisches Erbe, das titelgebende „Antwerpener Testament”, gebracht wurde. Evelyn Grill hat sich mit diesem Roman sehr viel vorgenommen und leider macht sich das bemerkbar durch zu viele Schicksalsschläge und Tragödien, die sich besonders zu Beginn des Romans in so manchem Klischee verlieren. Mag eine_r am Anfang noch leise hoffen, dass sich zumindest einiges zum Guten wendet, so verliert man letztendlich diesen Glauben und muss erkennen, dass die Figuren in diesem Roman ihrem Schicksal unerbittlich ausgeliefert sind. Ulrike Edlinger
 
Evelyn Grill: Das Antwerpener Testament. Roman. 316 Seiten, Residenz Verlag, Salzburg 2011 EUR 22,90

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Ein Leben auf Jamaica

Weil Julys Sohn ein ungeduldiger Mensch ist und den Erzählungen seiner Mutter nur so kurz wie möglich lauschen möchte, weil er aber Verleger ist und sich vorstellen kann, dass sich diese Lebensgeschichte aufgeschrieben ganz gut verkaufen könnte, schlägt er vor, sie solle einfach niederschreiben, was sie ihm mitteilen will. Also erzählt July von den Jahren ihrer Kindheit auf einer Zuckerrohrplantage, zunächst bei ihrer Mutter im Dorf der Sklaven und Sklavinnen, davon, wie die Schwester ihres „Herren” sie, als wäre sie ein niedliches Haustier, der Mutter wegnimmt und als Sklavin im Haus behält. Es sind die letzten Jahre der Sklaverei auf Jamaica, von denen Andrea Levy July berichten lässt. Aber weniger die Kämpfe um Befreiung stehen im Mittelpunkt, als vielmehr das ganz normale Leben der Sklavinnen und Sklaven, geprägt von schwerster Arbeit und extremer (sexualisierter) Gewalt, aber auch von Freund_innenschaften und gegenseitiger Unterstützung. Beziehungen zwischen Frauen sind der Leitfaden des Buches. Die von Macht und Gewalt geprägten Beziehungen zwischen Sklavinnen und ihren Besitzerinnen auf der einen, Konkurrenz, aber auch große Solidarität zwischen den Sklavinnen auf der anderen Seite. Andrea Levy hat einen großartigen Roman zur Brutalität der Sklaverei auf Jamaica, zu Aufständen und schließlich dem Ende der Sklaverei geschrieben. In der deutschen Übersetzung stolpert die Leserin dann aber doch über die rassistische Sprachverwendung, die im Wissen um deutsche/österreichische koloniale und faschistische Geschichte nicht einfach als authentisch wortwörtlich übersetzt werden kann, ohne zumindest in einer Fußnote auf die Problematik hinzuweisen. Paula Bolyos
 
Andrea Levy: Das lange Lied eines Lebens. Roman. Übersetzt von Hans-Christian Oeser. 363 Seiten, DVA, München 2011 EUR 20,60

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Schöne neue Welt

Niemand isst mehr Tiere, die einmal gelebt haben, und auch Pflanzen, die in der Erde wachsen, gelten als unnatürlich. Frauen sind gebärmutterfrei und lassen sich spätestens mit 30 Jahren genfixieren, Männer mit 40. Roboter unterschiedlichster Art erleichtern den Alltag. Konzerne regieren die Welt und Widerstandsbewegungen gibt es nur wenige. Die Ressourcen des Planeten sind nach jahrelanger Ausbeutung am Ende, da kommt es gerade zur rechten Zeit, dass ein neuer Planet entdeckt wurde, auf dem menschliches Leben möglich scheint. Jeanette Winterson entführt uns auf eine Zeitreise in die Zukunft, die Vergangenheit und die Gegenwart, wobei die Grenzen von Raum und Zeit verschwimmen. Und sie erzählt die Geschichte einer Liebe, die alle Grenzen sprengt, der Liebe zwischen Billie, die sich einer Genfixierung verweigert und Spike, einem Robo Sapiens im Körper einer wunderschönen Frau. Die Welt geht zu Grunde, aber die Liebe lässt selbst das Herz eines Roboters schlagen. „Wie lange, glaubst du, wird es dauern, bevor ein Mensch wieder ein Gedicht schreibt? Es wird Millionen von Jahren dauern und es wird ein Liebesgedicht sein. Woher weißt du das? Ich weiß es, weil es passieren wird, wenn jemand feststellt, dass der geliebte Körper die Landmasse der Welt ist.” Winterson setzt sich auf intelligente, fantastische, beklemmende, wunderbare und humorvolle Weise mit unserer Zivilisation auseinander, geht der Frage nach, was einen Mensch zum Menschen macht und glaubt an die unendliche Kraft der Liebe. vab
 
Jeanette Winterson: Die steinernen Götter. Roman. Übersetzt von Monika Schmalz. 268 Seiten, Berlin Verlag, Berlin 2011 EUR 22,70

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Großstadtpflanze im Regenwald

Die New Yorker Werbefrau Lila Grace Nova beschließt, ihrem Singleleben eine Topfpflanze hinzuzufügen: Eine Paradiesblume darf einziehen, und Lila stellt fest, dass sie ein Händchen für tropische Pflanzen hat. Von da an beginnt sich in ihrem Leben alles um das exotische Grünzeug zu drehen. Die geschäftstüchtige Lila sieht sich schon in einer neuen Karriere als Dealerin für exotische Pflanzen. Aber es kommt anders, und sie findet sich mit drei Männern im tropischen Regenwald von Yucatán auf der Suche nach den sogenannten neun Pflanzen der Sehnsucht und der von ihnen versprochenen Leidenschaft wieder. Ab nun verändert sich die Erzählung. Was bis dahin liebenswert seltsam und ein bisschen freakig war, wird nun zunehmend mystisch und gefährlich. Leider etwas irritierend sind die manipulativen Züge einiger Männergestalten und ihre Ansichten über weibliche Leidenschaft. Das Erstlingswerk der Autorin liest sich jedoch über weite Strecken gut und witzig. Gabriele Mraz
 
Margot Berwin: Hot House Flower. Roman. Übersetzt von Andrea Fischer. 336 Seiten, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2011 EUR 12,30

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Märchenwanderung

Einem Mädchen soll das „Zuviel an Fantasie” in einer Anstalt abgewöhnt werden. Was bleibt der vierzehnjährigen Mina also anderes übrig als die Flucht zu ergreifen und sich dabei auf die Suche nach den scheinbar verschollenen Brüdern zu machen. Eine Flucht, die zur Reise in fast vergessene Märchen und Legenden wird und Mina vor ganz neue Herausforderungen stellt. Dass dabei nicht immer alles glatt läuft versteht sich von selbst, wo bliebe denn sonst das Abenteuer. Sagen- und Märchensammlungen aus Norddeutschland waren ebenso Grundlage und Inspiration für Lilach Mers kurzweiligen Fantasyroman, wie die Auseinandersetzung mit den Zinken genannten Geheimzeichen nicht sesshafter Gruppen. Die Handlung nimmt durchaus gefangen, wirkt jedoch streckenweise ein wenig überfrachtet und hält sich eine Spur zu brav an gängige Fantasymuster. Angesichts der überzeugend gezeichneten Figuren lässt sich dann auch der gar blumig schwülstige Stil aushalten. Gerade richtig zur Urlaubszeit. Lisbeth Blume
 
Lilach Mer: Der siebente Schwan. Roman. 560 Seiten, Wilhelm Heyne Verlag, München 2011 EUR 14,40

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Rosa gegen den Dreck der Welt

Aus einer desolaten Vergangenheit putzt sich Rosa ihren Weg in eine Zukunft, von der sie überzeugt ist, sie könne nur dem Untergang geweiht sein. Höchster Anspruch der Putzfrau mit starkem, um nicht zu sagen extrem ausgebildetem, ökologischen Bewusstsein dabei: absolute Spurenlosigkeit. In der Figur Rosas stets abwesender neuer Kundin Hatschek findet sich eine Projektionsfläche, auf der Rosas Innenleben und ihre Wahrnehmung der kapitalistischen Welt der Zerstörung um sie herum ausgebreitet werden. Durch die Dringlichkeit und Ernsthaftigkeit mit der Rosa die Welt „loslassen” will und gleichzeitig immer noch bestrebt ist, selbige zu retten, wird der Leserin eine Person vorgestellt, die so extrem, so verschroben, so achtsam, so liebenswert, so bemüht nicht bemüht und damit letztlich so realistisch ist, dass das Leserinnenherz gut und gerne empathisch höher schlagen könnte. Sehr schön für in Wien lebende Leserinnen werden auch die beschriebenen Radfahrten mit hohem Wiedererkennungswert von Rosas Wohnung am Margaretenplatz aus sein. Mit sarkastischem Unterton und ökologischem Bildungsauftrag eine absolute Leseempfehlung. Ulrike Prattes
 
Bucher, Nadja: Rosa gegen den Dreck der Welt. Roman. 207 Seiten, Milena Verlag, Wien 2011 EUR 16,90

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Was ist schon normal?

Mila ist am Ende ihrer Kräfte, kann nur noch heulen und wird in eine psychosomatische Klinik eingewiesen. Dieser Zeitpunkt stellt den Beginn des ersten Romans von Eva Lohmann dar, der aus der Perspektive von Mila geschrieben ist und diese acht Wochen Aufenthalt schildert. Erstaunlich leichtfüßig und zugleich spannend wird erzählt, wie sich Mila in dieser neuen Umgebung zurecht findet und wie sie voller Zweifel Einzel- und Gruppentherapie, Medikamente, Gymnastik und neue Freund_innen_schaften erlebt. Sie lernt im Klinikalltag das Leben und die Welten von Magersüchtigen, Bulimikerinnen, Zwanghaften u.a. kennen, nähert sich langsam den Hintergründen für ihren Zusammenbruch und stößt zunehmend auf die Frage, was wann schon normal sei. „Wir Verrückte” in der „Klapse” sind die selbstironischen Bezeichnungen, mit denen sie anerkennend diese Klinik als Erholungsort von der überfordernden „Welt da draußen” beschreibt. Der Roman ist schön zu lesen, viele schwierige Themen werden einfach und doch auch mit Tiefgang angesprochen, der/die Leser_in kann sich über die Erkenntnisse und Schritte der Protagonistin mitfreuen — und muss sich nicht unnötig Gedanken machen, ob es diese ideal geschilderte Anstalt auch wirklich gibt. Es ist ein Roman, der sich berührend, anregend und immer wieder auch amüsant liest. Meike Lauggas
 
Eva Lohmann: Acht Wochen verrückt. Roman. 195 Seiten, Piper Verlag, München/Zürich 2011 EUR 17,50

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Buchbinderin als Aufdeckerin

Ledereinbände, Intarsien, Vorsatz, Vergoldestempel, Lettern — eine Welt tut sich der LeserIn auf, die verzaubert, es entsteht der Wunsch sofort in die Werkstatt der Buchbinderin Mathilde einzutauchen und dort selbst zu schnuppern, zu kleben, zu prägen. Mathilde ist noch nicht lange als Buchbinderin tätig, sie war vorher Diplomatin in Paris, hat sich aber entschlossen das Handwerk ihres Großvaters auszuüben und sich ein Häuschen mit Werkstatt in einem kleinen Dorf in der Dordogne gesucht. Das Geschäft läuft gut an, und Mathilde etabliert Beziehungen zur Nachbarschaft, die auch kleine Geschäfte betreibt, sei es als Bäcker, Schuster, Eisenwarenhändlerin oder Uhrmacher. Ein mysteriöser Kunde bringt Unruhe in ihr Leben. Er übergibt ihr ein Buch zur Restauration und wird kurz darauf Opfer eines Verkehrsunfalls. Mathilde macht sich auf die Suche nach seinen Verwandten, um das Buch zurückgeben zu können. Im Buch verborgen entdeckt Mathilde eine Namensliste, die ihr schon bald Probleme bereitet. Mit akribischer Recherche und einer großen Portion Zufall lässt sich jedoch alles auflösen. Das Erstlingswerk der Autorin ist wunderbar geschrieben, die Handwerkstätten und Menschen in dem kleinen Dorf sind mit ihren mehr oder weniger liebenswerten (zu Hauf vorhandenen) Schrullen sehr pointiert gezeichnet, über allem schwebt ein leicht altmodischer Touch mit viel französischer Lebensart. Absolut empfehlenswert. Gabriele Mraz
 
Anne Delaflotte: Mathilde und der Duft der Bücher. Roman. Übersetzt von Christian Kolb. 256 Seiten, Kindler, Reinbeck b. Hamburg 2011 EUR 18,50

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Zum Theater!

Lili Grün war gerade 31, als 1935 ihr zweiter Roman erschien: „Zum Theater!” Wie schon ihr Debüt „Alles ist Jazz” zwei Jahre zuvor, wird er von der Kritik sehr wohlwollend aufgenommen. Grün wird eine große Karriere als Schriftstellerin prophezeit. Doch dazu sollte es nie kommen: Lili Grün wurde 1942 aufgrund ihrer jüdischen Herkunft aus Wien deportiert und ermordet. Ihr literarisches Werk blieb lange vergessen. Nun hat Anke Heimberg auch den zweiten Roman im AvivA Verlag neu herausgegeben. Auch das Nachwort stammt von ihr. In „Zum Theater!” geht es um die junge Schauspielerin Loni, die ihr lang ersehntes erstes Engagement erhält. Dazu muss sie von Wien in die Provinz nach Mährisch-Niedau reisen. Auf die Euphorie folgt bald der Alltag. Gemeinsam mit dem Rest der Theatergruppe wohnt sie im Hotel, verbringt die Tage mit Textlernen und Proben. Das Publikum will unterhalten werden — mit leichter Kost in Form von Lustspielen. Das war nicht gerade die künstlerische Herausforderung, auf die Loni gehofft hatte. Sie hungert und friert, weil das Geld vorne und hinten nicht reicht. Dazu kommt eine komplizierte Liebesgeschichte. Und dennoch — für sie trifft der Spruch mit den (Bühnen)Brettern, die die Welt bedeuten, voll zu. Das Milieu, das Grün beschreibt, kannte die Autorin aus eigener Erfahrung, hatte sie doch selbst ihren Weg als Schauspielerin begonnen, zwar nicht in der Provinz, sondern in Berlin, aber Hunger und Kälte waren auch dort für viele KünstlerInnen an der Tagesordnung. Grüns realistische Schilderungen zeichnen ein genaues Bild der Zeit. Es ist eine interessante Möglichkeit, sich der Geschichte nicht in einem historischen Roman, sondern einem zeitgenössischen zu nähern. In kleinen sprachlichen Unterschieden, in einer anderen Art über Gefühle zu reden und in der selbstverständlichen Aufzählung alltäglichen Handelns, wie dem Einkauf von Seife, gelingt ein authentisches Eintauchen in die Vergangenheit. ESt
 
Lili Grün: Zum Theater! Roman. Hg. und mit einem Nachwort von Anke Heimberg. 213 Seiten, AvivA Verlag, Berlin 2011 EUR 18,50

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Küchengespräche

Die kleine Agatina, von den Eltern als weiblicher Nachwuchs unbeachtet und ungeliebt, findet Zuflucht bei ihren Großeltern. Die Großmutter mütterlicherseits weiht sie in die Zubereitung der Agathenküchlein ein — ein Geheimrezept, das nur an ausgewählte Familienmitglieder weitergegeben wird und mit welchem sich ein ausgeprägter sizilianischer Glaube an die Kräfte der namensgebenden Heiligen verbindet. In der Küche bei der Großmutter erfährt Agata von der Geschichte und den Geschichten der eigenen Familie. Doch dass sich Giuseppina Torregrossas Roman über weite Strecken liest wie Klatschgeschichten und Legenden mit recht grotesker Personage, täuscht nie über die Abgründe in den familiären Beziehungen hinweg. Die Eindimensionalität und gleichzeitige Überzeichnung von Figuren und Handlungen machen eine Tradierung über viele Jahrzehnte glaubwürdig; gleich Märchen werden schwere Schicksale in eine leichthin erzählte Form gefasst, deren Rahmen die gesellschaftliche und politische Entwicklung Siziliens bildet. Mehr als zwei Drittel des Romans liegen bereits hinter der Leserin, wenn die mittlerweile erwachsene Agata sich anschickt, die Tragödie ihres eigenen Lebens, ihren Beitrag zur Familiengeschichte, zu erzählen. Vieles wird in diesem Buch in knappen Worten angedeutet, nur bei der Beziehung der Frauen und Männer zueinander macht die Geschichte halt. Sizilianische Spracheinschübe unterstützen die Leserin beim (Zeit-)Sprung in diese Welt der tiefen Gläubigkeit, des Aberglaubens und des Machismo, der strengen gesellschaftlichen Hierarchien und der Mafia. Daran kann auch die stellenweise zwischen nord- und süddeutschen Dialektausflügen, zwischen „Flunsch” und „Watschen”, unmotiviert oszillierende Übersetzung nichts ändern. Helga Lackner
 
Giuseppina Torregrossa: Kirschen auf Ricottaschnee. Roman. Übersetzt von Verena von Koskull. 347 Seiten, Hoffmann und Campe, Hamburg 2011 EUR 20,60

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Geld und Glück

Laura Theiler hat seit ihrer Heirat mit einem reichen Mann alles, was man für Geld kaufen kann. Glück jedoch ist nicht käuflich und Laura fühlt sich zunehmend unwohl auf dem Parkett der Reichen. Gemeinsam mit ihrem Mann war sie nach Singapur gezogen, wo sie nach dessen Rückkehr in ihre gemeinsame Heimat Schweiz alleine und einsam in einem Haus am Meer lebt. Ihre Zeit verbringt Laura Gin Tonic trinkend und mit weißen Shorts bekleidet in der Lobby eines Luxushotels. Eines Tages beobachtet sie einen Mann und eine Frau, die miteinander eine Affäre beginnen. Irgendetwas fasziniert Laura an den beiden, zieht sie zu ihnen hin und was mit Belauschen beginnt, endet mit einem Rollentausch … Ein Buch über Reichtum und Armut, Heimat und das Finden der eigenen Identität. Beklemmend und intelligent. vab
 
Mireille Zindel: Laura Theiler. Roman. 121 Seiten, Salis, Zürich 2010 EUR 20,50

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Eine Frau ohne Mann …

Dass die türkische Autorin Hatice Meryem lange Jahre Herausgeberin einer Satirezeitschrift war, wundert die Leserin nicht. Witzig, böse, schlau und gesellschaftskritisch sind ihre Texte. In „Hauptsache ein Ehemann” ist die Ich-Erzählerin einmal die Frau eines Kurierfahrers, dann jene eines Faulpelzes, die Frau ihrer ersten Liebe oder auch die Frau eines Fleischers: „Arg beneide ich die Schenkel im Eisschrank und abends, wenn unvermeidlich mein Mann der Fleischer seinen nach Blut, Fleisch, Knochen und Mark stinkenden Körper an meinem zarten Leib reibt, überlege ich unwillkürlich, ob er jetzt wohl von einer Kuh träumt …” Es ist nicht wie der Klappentext sagt, „ein charmantes Buch über die vielseitigen Seiten des Lebens”, sondern ein kluges Buch über patriarchale Strukturen. vab
 
Hatice Meryem: Hauptsache ein Ehemann. Übersetzt von Sabine Adatepe. 123 Seiten, Orlanda, Berlin 2011 EUR 15,40

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Herkunft und Dazugehören

Celia wächst in den französischen Pyrenäen mit ihrer alleinerziehenden Mutter Vanessa auf, die sie liebevoll „Rat” (Rattenkind) ruft. Das selbstbewusste Mädchen entstand bei einem OneNight-Stand und ist nach der berühmten Mutter ihres ihr unbekannten Vaters benannt. Vanessa lebt als Flohmarkthändlerin einigermaßen unstrukturiert in den Tag hinein, erweitert wird im Laufe des Buches die Familie um den kleinen, verwaisten Morgan und um Stiefväter unterschiedlicher Freundlichkeit. Als das undogmatische Familienleben zunehmend aus den Fugen gerät, beginnt die inzwischen 15-Jährige ihre Mutter zu hinterfragen, die emotionale Distanznahme führt zu einer geographischen in Form einer abenteuerlichen Flucht über viele Grenzen und der Suche nach dem leiblichen Vater. Eingebettet ist dies in zahlreiche reale politische Bezüge. Über weite Strecken ist der Roman aus Celias Perspektive geschrieben. Fernanda Eberstadt stellt eigentlich interessante Fragen nach Formen von Familie, nach Herkunft und Dazugehörigkeit, sowie nach den Verantwortungen, die — nicht — übernommen werden. Zum Erwachsenwerden und den unterschiedlichen Bezugsformen der Generationen zueinander kommen auch Abhängigkeiten, sexueller Missbrauch und Gewalt. Dennoch ist die Lektüre enttäuschend, die Figuren bleiben ohne Tiefe, die Wendungen und Bezugnahmen wirken schematisch. Die Sprache (der Übersetzung?) plätschert dahin, sodass der Roman trotz einer interessanten Geschichte insgesamt etwas blass bleibt. Meike Lauggas
 
Fernanda Eberstadt: Celia. Roman. Übersetzt von Julia Schwaab. 381 Seiten, Kindler Verlag, Reinbek bei Hamburg 2011 20,60 Euro

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Elfmal feministischer Elchtest

Sex — Geld — Schmerz — Anstrengung — Zeit — Religion — Erfolg — Einsamkeit — Unvollständigkeit — Alter — Eltern: Das waren nach Meinung der elf Figuren in den elf Essays nicht die Auslöser für die Zustände, in denen sie sich befinden. Was war es dann, das die Situationen hervorgerufen hat, in denen sie feststecken, gegen die sie Widerstand leisten oder vor denen sie kapitulieren? Streeruwitz schreibt in ihrem neuesten Werk über feministische Basisthemen wie etwa die Enge der weiblich konnotierten Rollenbilder, den Druck der Heteronormativität, das Korsett gesellschaftlicher Erwartungen, Machtverhältnisse. Meine Lieblingsgeschichte ist die von Renate S., die als eine von zwei Diskutantinnen auf einer Podiumsdiskussion von einer Frau aus dem Publikum angegriffen wird, die sich darüber legitimiert, dass ihr Mann vom Fach ist: „Verheiratet. Das war wie eine Hautfarbe. Das war wie ein Religionsbekenntnis … Es war so, als hätte diese Frau gerufen: ‚Ich bin Arierin und jetzt gesteht einmal. Was seid denn ihr beide da!‘” Streeruwitz nimmt sich kein Blatt vor den Mund, zieht Vergleiche, die aufrütteln, zur Auseinandersetzung anfeuern. In gewohnt genialem Stil liefert sie mit ihren zerstückelten Sätzen Bilder, die viele Fragen aufwerfen: Wie konnte das einer emanzipierten Person passieren? Wo ist der Wagen gekippt? Was könnte eine feministische Haltung verändern? Gabriele Mraz
 
Marlene Streeruwitz: Das wird mir alles nicht passieren … Wie bleibe ich FeministIn. Essays. 106 Seiten, Fischer Taschenbuch Verlag, Wien 2011 EUR 10,30

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Extremdekorateusen

Die Berliner Mauer als Schutzwall vor einer bösartigen Oma, die wohl endgültig vernichtende Beschimpfung unter Jugendlichen, Kartoffeln die es zu retten gilt, Feuerwehrmänner mit einem Bedürfnis nach Publikum, Kräftemessen im Unfreundlich sein, und eine Liste der wichtigsten Lügen; das und viel mehr ist in den amüsanten, im Berliner Alltag angesiedelten und gekonnt verknappten Geschichten in Sarah Schmidts Erzählband „Bitte nicht freundlich” angesiedelt. Da stört die Bemühtheit der Autorin, die BerlinerInnen als durchwegs schillernd originelle Personen darzustellen, nicht weiter, über die LangweilerInnen will schließlich keine lesen. Ein Büchlein, unter Gekicher in einem Zug durchzulesen. bw
 
Sarah Schmidt: Bitte nicht freundlich. Geschichten. 140 Seiten. Verbrecher Verlag, Berlin 2010 EUR 12,40

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Kobaltblau und geheimnisvoll

Das Cover passt zu den neun Geschichten, die die junge Schweizer Autorin Stefanie Sourlier in ihrem Erzählband „Das weiße Meer” vorgelegt hat: Eine Seenlandschaft, klirrend kalt, eigentlich unspektakulär und doch geheimnisvoll, kobaltblau wie der Titel der ersten Erzählung. „Als ich elf Jahre alt war, wollte ich sterben und schluckte das Kupfersulfat aus dem Kosmos-Chemiekasten, den mein Bruder zum Geburtstag bekommen hatte.” So beginnt die erste der Geschichten, die von einem Sommer in Südfrankreich handelt, dessen Langeweile die beiden jungen Freundinnen durch das Erzählen von „schlimmen Dingen” entkommen wollen, bis tatsächlich etwas Schlimmes passiert … Es sind keine großen Tragödien, es sind Dramen, die leise daher kommen, kleine Abweichungen im Leben und stille Abschiede. Die Ich-Erzählerinnen sitzen in Zugabteilen, im Schwimmbad oder in einer Kneipe. Sie erfinden sich mit dem Bruder eine eigene Sprache, fahren mit der Geliebten ans weiße Meer, besuchen ihren alten Onkel oder den Großvater, der im Sterben liegt. Immer wiederkehrende Themen sind Tod und Familienbeziehungen, Verlust und Einsamkeit. Die Sprache ist klar und vielfärbig. Zu Recht wird Sourlier von der Presse als neues literarisches Talent gelobt. vab
 
Stefanie Sourlier: Das weiße Meer. Erzählungen. 169 Seiten, Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt/Main 2011 EUR 20,50

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Fantastik — hochaktuell

Alice B. Sheldon wurde in den 1960er Jahren als Science Fiction AutorIn unter anderem unter dem Pseudonym James Tiptree Jr. bekannt. Sie gilt als eine jener Autorinnen des Genres, die sich der Kritik von Geschlechterverhältnissen und lange vor der Ökologiebewegung ökologischen Themen widmeten. Der Septime Verlag macht ihre sämtlichen Erzählungen nunmehr in mehreren Bänden auch in deutscher Übersetzung zugänglich. Im vorliegenden fünften Band sind Erzählungen über die Region Quintana Roo in Mexiko versammelt, die sie zu Beginn der 1980er Jahre verfasste. Im Stil des mystischen Realismus verknüpft sie darin das mythische Erbe der Maya-Kultur und der Lebensrealität ihrer Nachfahren mit der Kritik an der in den 1980er Jahren beginnenden Kommerzialisierung der Küstenstrände, Korallenriffe und Mangrovensümpfe. In phantastischen Geschichten, die durch detaillierte aber sinnliche Erzählbilder getragen werden, zeichnet Sheldon/Tiptree die Geschichte eines Landstriches und seiner BewohnerInnen nach, die aufgrund ihrer „Exotik” zum Ziel kommerzieller Begehrlichkeiten werden. Dem setzt die Autorin sich zwischen den Kulturen bewegende Einheimische und eine mystische, nicht begreifbare Natur/See entgegen, die auf ihre Art mit der kulturellen und ökologische Verwüstung umgehen. Ein Buch, das in keinem Regal von Social-Fiction Fans fehlen sollte. Roswitha Hofmann
 
James Tiptree Jr.: Quintana Roo. Roman. 158 Seiten, Septime Verlag, Wien 2011 EUR 18,90

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Für jede etwas

Der Wiener Kleinverlag Septime hat sich den Anforderungen Qualität und Rarität verschrieben, was erfreulicherweise auch Bücher für den Weiberdiwan hervorbringt. Eines davon ist ein Band mit Kurzprosa aus der Reihe Perspektivenwechsel. Die elf Texte des Bandes warten mit einigen Überraschungen auf, wobei sich bekannte (Siri Hustvedt) und weniger bekannte (Irmgard Maenner), jüngere (Nina Horvath) und ältere Autorinnen (Hélène Cixous), Schreiberinnen von Österreich (Andrea Grill) bis Japan (Yôko Ogawa), von Chile (Nona Fernándes) bis in die USA (Susan Sontag) in verschiedenen Genres versammeln. Andrea Grill beschreibt in ihrer Kurzgeschichte, was in einer Frau vorgeht, die beim Radfahren von einem Mann auf die Farbe ihrer Unterwäsche angequatscht wird. Einerseits harmlos, weil sich alles am helllichten Vormittag mitten in der Stadt abspielt; andererseits nur zu vertraut, was einer da so alles durch den Kopf gehen und auch Stunden später noch beschäftigen kann. Yôko Ogawas Protagonistin begleitet in ihrem Tagebuch die Schwangerschaft ihrer Schwester, der sie skeptisch gegenüber steht. Die Erzählung von James Tipptree Jr. — dem Pseudonym von Alice B. Sheldon — ist beispielhaft für die Science Fiction-Autorin der 1970er Jahre, die hier wiederentdeckt werden darf. (Siehe auch Rezension zu „Quintana Roo” in diesem Heft.) Abwechslungsreiches Lesevergnügen ist garantiert. ESt
 
Frauen! Starke Erzählungen über das starke Geschlecht. Hg. von Jürgen Schütz und Christiane Barnaházi. 320 Seiten, Septime Verlag, Wien 2010 EUR 16,95

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Der Grund ihres Wunsches, die Welt zu verlassen

Beiläufigkeitstexte nennt die Autorin ihre, über die Jahre hinweg entstandenen Erzählungen. Doch beiläufig sind nur die Details, um die herum die einzelnen, großteils in der ehemaligen DDR angesiedelten Geschichten aufgebaut wurden. Das Augenmerk liegt dabei stets auf den Randfiguren und auf den Menschen, die versuchen, in prekären Verhältnissen durchzukommen. In schlichter Alltäglichkeit sind Schmidts Figuren verankert, und kaum eine davon ist besonders glücklich, ob ekelhafte Großmutter, jugoslawischer Deserteur, überforderte Mutter oder einsame Rentnerin. Keine blühenden Landschaften, dafür zwischen Einkaufslisten und Fernsehabenden genug Raum zur Interpretation, der es immer wieder erlaubt, sich selbst in den Erzählungen wieder zu finden. Mit wohldosiertem trockenem Humor und großer sprachlicher Präzision legt Schmidt Geschichten vor, die im Gedächtnis bleiben. bw
 
Kathrin Schmidt: Finito. Schwamm drüber. Erzählungen. 240 Seiten, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011 EUR 18,50

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Zwischen hier und hier

„Wir hatten uns Weihnachten verlobt, als meine Mutter schon mit dem Sterben begann.” Das Heiraten scheint Ellen aber plötzlich gänzlich unpassend, hinterlässt doch die Eröffnung, dass die Mutter jahrelang zwei Männer liebte, die beide ganz gut damit klarkommen, eine ganz neue Perspektive. Amy Blooms Erzählband versammelt Geschichten, die in den letzten achtzehn Jahren entstanden und erschienen sind, und scheut sich dabei nicht, die Dinge beim Namen zu nennen. Da beginnt eine Erzählung mit dem Satz „Ich hatte schon immer vor meinen Vater umzubringen”, schildert dann fast nebenbei eine Bandbreite an häuslicher Gewalt und endet dann doch ganz anderes als gedacht. Es sind letztlich genau diese Wendungen, die überzeugen, denn Blooms Figuren sind im Grunde ganz vernünftige Leute, die sich nicht allzu ernst nehmen und vielleicht gerade deshalb auch mit einer gewissen heiteren Traurigkeit leben können. bw
 
Amy Bloom: Wo der Gott der Liebe haust. Erzählungen. 320 Seiten, Hoffmann und Campe, Hamburg 2010 EUR 20,60

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Geliebte Wesen

Frauen und ihre Katzen — wenn sich das überhaupt so formulieren lässt, wissen doch alle Katzenliebhaber_innen, dass diese Beziehung so klar definiert nicht ist — sind die Protagonist_innen dieser zauberhaften Kurzgeschichtensammlung, herausgegeben von Ruth Rybarski. 25 Autor_innen schreiben über die eigenen oder fremde Katzen, sie erzählen vom nicht suchen und doch gefunden werden, vom willkommen heißen und Abschied nehmen, vom Aufbauen von Nähe und dabei doch einer Zurückhaltung, diese als gegeben anzunehmen. Es treten Katzen aus Fleisch und Blut auf und Katzen im übertragenen Sinn, symbolische und unsichtbare, Katzen v2.0. Die Leser_in wird sich selbst wiedererkennen, darf aber auch ungewohnte Perspektiven einnehmen. Sie erfährt von Allergien in mehrere Richtungen, von Alltag und besonderen Begebenheiten, von Katzengewohnheiten und Menschenmarotten, von Patchworkfamilien und Familienoberhäuptern, von Jagd(un)lust und kätzischen Konfliktlösungsmechanismen. Liest sich am besten — wie könnte es anders sein — mit schnurrender Katze am Schoß, aber für welches Buch gilt das nicht?! Susanne Oechsner
 
Katze liebt Frau liebt Katze. Literarische Streicheleinheiten. Hg. von Ruth Rybarski. 240 Seiten, Residenz Verlag, St. Pölten/Salzburg 2011 EUR 19,90

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Lesben, Schwule und ihre vier Pfoten

„Der Tag beginnt mit einer Wolke aus Pansenfrikadellen-Atem sehr nah an meinem Kopfpolster.” Klingt vertraut, oder? Wer mit Hundetier lebt, kennt ziemlich sicher den Geruch von Pansen, der immer etwas zu nah ist. In 28 Geschichten erzählen die AutorInnen vom Leben mit Hunden und Katzen. Jede Leserin und jeder Leser, die ihren Alltag mit den geliebten Kuschelmonstern teilen, werden ihre Erlebnisse wiederfinden, von Kleinigkeiten angefangen wie der täglichen Begutachtung des Hunde-Gackis auf Konsistenz oder der Suche nach einem Futter, das die Katzis nicht verschmähen, bis hin zu (vergeblichen) Erziehungsversuchen, peinlichen Szenen und vielen schönen Momenten. Nett zu lesen. Gabriele Mraz
 
Christoph Klimke, Sarah Mondegrin: Nicht ohne meine Pfoten! Katzen, Hunde, Lesben, Schwule. 224 Seiten, Querverlag, Berlin 2011 EUR 15,40

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Sprachbegegnungen

Der Erzählband besticht durch die unterschiedliche Sichtweise der Autorinnen, wie der Prozess der Sprachaneignung verlaufen kann, welche Hürden es zu überwinden gilt, welche Miss verständnisse sich ereignen können, aber auch, dass die Sprache neue Möglichkeiten eröffnet. Es sind Momentaufnahmen als Geschichten, die irgendwie anfangen und irgendwie enden, aber ohne weiteres fortgesetzt werden könnten. Sie lesen sich stilistisch nicht gleichförmig. Egal ob mit Ernst oder Ironie verfasst, sie spiegeln eindrucksvolle Erlebnisse wider und versuchen den Prozess, in eine neue Sprache einzutauchen, näher zu bringen. Die neue Sprache kann beidseitige Missverständnisse erzeugen, sie ist aber auch die Brücke für eine längerfristige Entdeckungsreise und dadurch eine Bereicherung. Schreiben bedeutet das Formen von Augenblicken, die sonst einfach vergehen würden und schließlich ist es ein Entscheidungsprozess, über wen und was man in welcher Zeit schreibt. Das Gemeinsame an den Geschichten ist, dass die sich selbst beschreibenden Frauen mit Hilfe der fremden Sprache, die sie erlernen, auf ihre Ängste und Wünsche besser reagieren können und dass dieses Unterwegssein in der neuen Sprache eine Grenzüberschreitung mit sich bringt, die wichtig für ihre Persönlichkeit wird. Sprachspielereien und kulturelle Botschaften als Lesevergnügen für alle, die das Eigene über das Fremde suchen. ML
 
Wortwandlerinnen. Autorinnen von vier Kontinenten erzählen. Hg. von Susanne Czuba-Konrad, Tamara Labas-Primorac und Verena Tirreno-Schneider. 172 Seiten, Brandes & Apsel Verlag, Frankfurt/Main 2010 EUR 15,40

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Geschichten aus München

Asta Scheib schreibt neben Romanen auch gerne kurze Erzählungen — immer in „computerlosen Zeiten” von Hand geschrieben, in ihr dickes Notizbuch. „Hier kann ich aus einem Brunnen der Erinnerungen schöpfen, der sich mir am technischen Gerät nicht so ohne weiteres öffnet”, schreibt Scheib im Vorwort zu ihrem aktuellen Erzählband. Ausgangspunkt ihrer Geschichten sind meist Szenen aus ihrem eigenen Leben. Deshalb spielen diese auch großteils in München, wo die Autorin lebt und arbeitet. Diese Nähe ist in den intimen Erzählungen auch zu spüren. Langweilig wird der Leserin dabei nicht: In jeder Geschichte kann sie in andere Rollen schlüpfen — von der aus ihrem Gefängnis ausbrechenden Ehefrau bis zum streunenden Katzenbaby. Eine Erzählung holt die Spannung rund um den Fall des Eisernen Vorhangs wieder zurück, ein anderes Mal lebt eine obdachlose Frau in einer Streusand-Kiste und findet sich plötzlich als Lebensretterin wieder. Für meinen Geschmack etwas zu häufig kommen Frauenfiguren vor, die in patriarchalen Diskriminierungsmustern festkleben oder sich sogar darin am wohlsten fühlen. Abgesehen davon hatte ich aber ein paar unterhaltsame Abende. Gabi Horak-Böck
 
Asta Scheib: Streusand. Erzählungen. 126 Seiten, Hoffmann und Campe, Hamburg 2011 EUR 15,—

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Vier Reisen nach Zimbabwe

Der Band enthält Episoden und Eindrücke aus vier Reisen, die Doris Lessing in das Land ihrer Jugend, das damalige Rhodesien, unternommen hat. Die erste Reise tritt sie 1982, kurz nach der Unabhängigkeit Zimbabwes an. Der „Buschkrieg” genannte Befreiungskrieg sitzt allen noch tief in den Knochen. Parteiisch und aktiv für die schwarze Bevölkerung Zimbabwes war Doris Lessing schon als junge Frau, bevor sie das Land 30 Jahre zuvor in Richtung England verlassen hatte. Nun erinnert sie sich, sieht Veränderungen, Hoffnungen und seitens der „Sieger” viele Schwierigkeiten und einen ganzen Berg an Illusionen bezüglich des neuen Staates — vor allem, was das Tempo betrifft, in dem Veränderungen in derart komplexen Strukturen, wie menschliche Gesellschaften es sind, verwirklichbar sind. Lessing vermag es, immer wieder die Perspektive zu wechseln; in der Gestalt ihres Bruders, der als weißer Siedler in Rhodesien geblieben ist und den sie nun nach fast 30 Jahren erstmals wieder trifft, werden die Orientierungslosigkeit, die Wut und das Unvermögen deutlich, gesellschaftliche Veränderungen zu begreifen, wie es wohl für viele weiße SiedlerInnen im jungen Zimbabwe repräsentativ war. Am Ende der letzten Reise, 1992, Doris Lessing befindet sich auf der Durchreise, steht ein großes Fragezeichen: „Was wird?” Die größten Probleme sind geblieben: mangelnde Ausbildung, Trockenperioden, eine nicht vollendete Landreform, wütende RassistInnen, korrupte ehemalige FreiheitskämpferInnen in guten Posten, die, wenn sie vermitteln wollen, worum es in ihrem Kampf ging — um ein freies Zimbabwe — nun schon nicht mehr verstanden werden von der nachfolgenden jungen Generation. Gleichzeitig immer noch: die Hoffnung, Schönheit, Güte und Liebe der Menschen. Angesichts der Schlagzeilen aus Zimbabwe weitere 20 Jahre später erscheinen Doris Lessings Beobachtungen aktuell, facettenreich und sensibel, freilich werfen ihre persönlichen und stark biografisch gefärbten Einschätzungen, vor allem auch der politischen Situation, ein sehr subjektives Licht auf die Entwicklungen in Zimbabwe. WG
 
Doris Lessing: Rückkehr nach Afrika. Erzählungen. Übersetzt von Anette Grube. 544 Seiten, Hoffmann und Campe, Hamburg 2011 EUR 23,60

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Nicht Reise: Flucht

„Die Reise” beginnt im Herbst 1942 in Polen. Zwei jungen, jüdischen Schwestern gelingt die Flucht aus dem polnischen Ghetto. Unter falschem Namen melden sie sich als Polinnen in ein Zwangaarbeiterlager nach Deutschland, das ihnen als sicheren Zufluchtsort erscheint. Das ist der Beginn ihrer Odysee, der Beginn ihrer Flucht vor Denunzierung, Verfolgung, Verhaftung und Tod. Eine erfolgreiche Flucht, aber eine Reise voller Bangen und Hoffen: „Wie lernt man lügen im Augenblick einer drohenden Entlarvung, wie wird man schlau, wie verwandelt man sich in jemanden, der man nicht ist, und verbirgt das wahre Selbst?” Erschreckendes Dokument voller Leben. Lesen! Jenny Unger
 
Ida Fink: Die Reise. Roman. 238 Seiten. Jüdischer Verlag, Berlin 2011 EUR 23,60

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Trennung/Beziehung

Also Beziehungen. Beziehungen können eine_n echt kaputt machen. Aber Trennen ist auch s**schwer. Sollte aber manchmal sein — das ist nach dem Lesen von Schattenfangen klar. Der Roman erzählt von Irene und Gil. Er ist Künstler, sie Kunstwissenschaftlerin und seine Muse. Nach außen hin wirken sie füreinander bestimmt. Ohne einander können sie nicht leben. In Wirklichkeit sind sie aneinandergefesselt durch Liebe, die zu Hass wurde, ihre Kinder, ihrem Wunsch nach dem Halt ihrer Familie. Ohne einander können sie nicht leben! Das grausame, perfide Spiel ihrer Beziehung, voller Täuschung, Verachtung und Zweifel endet im Wahn und tödlich. Brrr. Beziehungen. Jenny Unger
 
Louise Erdrich: Schattenfangen. Roman. 239 Seiten, Suhrkamp, Berlin 2011 EUR 18,40

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DichterInnen und ihre liebevollen oder schwierigen Mütter

Eine bunte Mischung von Gedichten wie Prosatexten zeitgenössischer und einstiger Autorinnen und Autoren und das Verhältnis zu ihren Müttern. Nach der detaillierten Einführung sind die biografischen Texte umgeben von einer üppigen Auswahl interessanter, teils erstmals veröffentlichter Fotografien und Briefe der Schriftsteller_innen. Eingebettet zwischen den Bilddokumenten sind Gedichte an die Mütter und Werdegang der Literat_innen. Die biografischen Texte geben Einblick in sehr persönliche Momente der Autor_innen mit ihren Müttern, in ein breites Spektrum unterschiedlicher Strukturen der Verhältnisse zu Müttern. Die Beschreibungen sind mit bis zu vier Seiten mal länger, dann mit einer halben Seite wiederum sehr kurz gehalten — was schade ist, haben mich die kürzeren Texte teils etwas ratlos zurückgelassen. Die ausführlicheren hingegen vermögen ein erstes Interesse an den Autor_innen und den Wunsch auf ein Mehr zu wecken oder wieder einmal in einem ihrer Bücher zu schmökern. Als Geschenkband für Freund_innen, Geschwister und sonstige Anverwandte durchaus geeignet. Diane Branellec
 
Renée Rauchalles: Mir träumte meine Mutter wieder. Das Bild der Mutter in Lyrik und Prosa einstiger und heutiger Dichterinnen und Dichter. Autorinnen und Autoren über ihre Mütter. 200 Seiten, ca. 230 Fotos und 12 Gemälde, Konkursbuch Verlag. Tübingen 2011 EUR 20,50

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Mini-Werkschau einer Unentschlossenen

Lola Arias hat für vieles Talent: Prosa, Lyrik, Dramatik und sogar Musik und Fotografie. Sie selbst beschreibt in einer Art Vorwort das vorliegende Buch als Sammelsurium all dessen, was sie macht. Und sie liegt mit dieser Einschätzung ganz richtig. In Prosaskizzen malt sie ein Bild der Großstadt Buenos Aires abseits von Folklore-Kitsch aus der Sicht einer jungen Frau. Motive aus Traumnotaten und Tagebucheintragungen tauchen in Gedichten und Dramoletten wieder auf. Sogar eine CD ist dem Buch beigelegt. Die Texte und zum Teil auch Musik stammen von Arias. Diese Vielseitigkeit hat aber auch ihren Preis: Die lyrischen Texte wirken oft gar bedeutungsschwanger. Bei Tagebucheitragungen ist unklar, was sie eine Öffentlichkeit angehen. Die Dramolette können auf einer Bühne sicher starke Bilder erzeugen, ihre Aussagen bleiben dagegen banal. Zudem stilisiert sich Arias selbst allzu aufdringlich als einsames Cowgirl, das mit seiner Gitarre durch die Welt zieht und die wahre Liebe weder bei Frauen noch bei Männern finden kann. Vielleicht würde es dem Schaffen Arias' gut tun, konzentrierte sie sich auf ein Genre. Denn Talent fürs Schreiben, Musik machen und Fotografieren hat sie unbestritten. Sascha Wittmann
 
Lola Arias: Liebe ist ein Heckenschütze. 240 Seiten, Blumenbar, Berlin 2010 EUR 23,60

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Liebe Friederike Mayröcker, Wien, 26. April 2011

„Die Fontanelle ist 1 Löckchen” schreiben Sie „mit dem Pelzchen aller Nacht” 1ne Frühlingsmeisenbegeisterung Ihr Schuhmannwahnsinn auf der Zunge der KOMPONISTIN Ballade im Ohr 1 Liebesspaziergang! rufe ich im Blütengefieder im Aprilblumengarten des Gedichtmoments „Meine erschaudernde Wildnis” die Elfen in den weiszlila Glöckchen der Efeublume „Es läuten die Sterbeglöckchen des Windes? So bin ich in Tränen so geweint so weinend” ich wünsche Ihnen dasselbe wie Sie mir im Februarbrief „viel Arbeitslust, Gesundheit, gute Freunde” Ihre Flieszgedichte arabeskbunte Blumenteppiche die stille Chopinandacht Klavierklang der KOMPONISTIN „und den Papier Ausrisz meines Herzens so die PIANISTIN” „In der Ferne öffnet sich eine Blüte” (Alejandra Pizarnik) und ich sehe Ihr Gesicht - ich wünsche Ihnen das Komponieren noch vieler Bücher Herzensdank für so viel Wunderschönheit Ihre Marion Steinfellner
 
Friederike Mayröcker: Vom Umhalsen der Sperlingswand, oder 1 Schumannwahnsinn. Prosaband. 41 Seiten, Suhrkamp, Berlin 2011 EUR 14,90

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