Auto/BiografienAktuelle Ausgabe: Auto/Biografien

Mutige Autorin baut ein Traumhaus

Die Frankokanadierin Proulx hat die wechselvolle Geschichte ihrer Herkunftsfamilie über vier Jahrhunderte von Genealog_innen erforschen lassen. Sie hat unzählige Umzüge hinter sich und will sich in einem traumhaft schönen, aber sehr entlegenen Teil des Naturschutzgebiets von Wyoming niederlassen. Ein Hausbau ist in dieser Lage höchst anspruchsvoll. Dazu kommen ausgeprägte Wünsche der Bauherrin. Die Verhandlungen mit den Handwerkern sind entsprechend kompliziert, die Pannen häufig. Ebenso gründlich wie mit dem Bau und den Interessenskonflikten der Beteiligten befasst sich Proulx mit dem Land – mit der Geschichte ebenso wie mit der Pflanzenwelt, insbesondere aber mit Vögeln und Wapitihirschen. Faszinierend ist nicht nur die Erzählkunst, sondern auch die umfassende Bildung, die Entschlossenheit und die Neugier der 70jährigen Intellektuellen, die auch zu vermitteln versteht, wie dieses Wissen das Genießen verstärkt. Doch sie hat Wesentliches nicht recherchiert. Sie kann das Haus im Winter schließlich nicht bewohnen, denn es hat manchmal 35 Grad minus und nach orkanartigen Stürmen räumt niemand die Schneewehen von der Zufahrtsstraße. Mit den Erfahrungen der meisten Leser_innen hat dieser Hausbau wahrscheinlich zwei Dinge gemeinsam: Wohnraumbeschaffung dauert länger als geplant und kostet zu viel. Hedi Presch
 
Annie Proulx: Ein Haus in der Wildnis. Erinnerungen. 288 Seiten, Luchterhand, München 2011 EUR 22,70

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Lebensbedingungen im Exil

18 Jahre verbrachte die zuvor wegen Mitgliedschaft in der RAF zu langen Haftstrafen verurteilte Margrit Schiller in Lateinamerika. Um einer in Aussicht stehenden Sicherheitsverwahrung zu entgehen, flüchtete sie aus Deutschland zunächst nach Kuba. Das dortige Leben erweist sich für sie als schwierig; der Sprache nicht mächtig und der kulturellen Eigenheiten nicht kundig, erlebt sie neben menschlichen Enttäuschungen auch politische Desillusionierungen. Ökonomisch prekär lebend und ohne ihren legalen Aufenthaltsstatus nach der Wende 1989 verlängern zu können, kehrt sie schließlich mit ihrem Mann und ihren vierjährigen Zwillingen Kuba den Rücken, um in Uruguay zu leben. Im Brecht Institut in Montevideo lernt sie politische Exgefangene aus der bis 1985 vorherrschenden Militärdiktatur kennen, die auch einen Teil ihrer Geschichte besser verstehen. Schillers persönliche Erfahrungen mit dem deutschen Herbst der 1970er Jahre werden dabei selten rekonstruiert. Eher geht es ihr darum, wie sie an einem fremden Ort neue soziale Bindungen knüpfen kann. Erfahrungen sind nicht gegeneinander aufzurechnen. Es ist zu lernen, einander zuzuhören, um neugierig darauf zu werden, wo und warum wer anders denkt. Insbesondere ihre geschilderte Lebenssituation in Uruguay zeichnet sich durch ein Ankommen aus, während ihr Aufenthalt in Kuba noch ein Suchen nach der eigenen Identität war. Spannend sind ihre kulturellen Vergleiche und Eindrücke, auch wenn sie es bei persönlichen Erfahrungen belässt. Antonia Laudon
 
Margrit Schiller: So siehst du gar nicht aus. Eine autobiografische Erzählung über Exil in Kuba und Uruguay. 168 Seiten, Assoziation A, Berlin 2011 EUR 16,50

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Am Rand der Katastrophe

Zwischen der Demenz einer Tante und der Alzheimer-Erkrankung des Vaters bleiben der Autorin dieser autobiografischen Erzählung nicht viele Handlungsfreiheiten. Eine Wirklichkeit, in der sie sich als Begleiterin von Menschen auf ihrem Schicksalsweg sieht, ohne zu wissen wo ihr eigener hinführt, und in die sie einen sehr privaten und vor allem ehrlichen Einblick gewährt. Während der Vater vergisst, in welcher Reihenfolge Socken und Schuhe angezogen werden sollen, erbt sie das Erinnern an das Überleben ihrer Hydra, ihrer Familie. Niemals vergessen! Dass der Vater sich vor deutschen Gendarmen verstecken musste, dass die Großmutter nur knapp dem Vernichtungslager entkommen ist. Und nebenbei ausrechnen, wie viele Jahre das Ersparte reichen wird, um eine lückenlose Betreuung zu ermöglichen, einem Verfall gegenüber zu stehen, der immer nur fortschreiten wird, das sind die bestimmenden Elemente ihres Lebens. Da mag es Konventionen geben, die ein grundsätzliches Funktionieren einfordern und ermöglichen, doch erlaubt sich die Autorin auch, ihre Überforderung und ihre daraus resultierende Wut zuzugeben und schafft dadurch ein durchaus realistisches Bild der Pflege von an Alzheimer erkrankten Angehörigen. bw
 
Cécile Wajsbrot: Die Köpfe der Hydra. Eine Geschichte. Autobiographische Erzählung. Übersetzt von Brigitte Große. 187 Seiten. Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2012 EUR 20,50

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Blaue Stunden, die immer enden

2005 erschien Joan Didions Buch „Das Jahr magischen Denkens“, mit dem sie den Schock des plötzlichen Todes ihres Mannes John Gregory zu bewältigen versuchte. Wenige Stunden vor seinem Tod waren die beiden im Spital gewesen, wo ihre Tochter Quintana bewusstlos in der Intensivstation lag und die Nacht vielleicht nicht überleben würde. 20 Monate wird Quintana eine medizinische Krise nach der anderen erleiden, bis sie stirbt. „Das hätte ihr nie zustoßen dürfen“, denkt Didion voll Wut, als ob ihnen eine Ausnahme versprochen worden wäre. Als ob die wunderbaren „Blauen Stunden“ immer währen würden. Didion umkreist die Verluste, im Versuch sie einzuordnen, Verständnis für etwas zu erreichen, was nicht zu verstehen ist. Sie begibt sich auf eine minutiöse Suche, um mit dem Tod ihrer Tochter umgehen zu können, nicht um damit fertig zu werden, denn fertig wird sie damit nicht. Es sind schonungslose Selbstbefragungen, etwa wenn sie sich mit ihren unbefangenen Glücksgefühlen auseinandersetzt, als sie die neugeborene Q. als Adoptivkind nach Hause nehmen durfte, und später mit deren Ängsten konfrontiert wurde: „Was wäre aus mir geworden, wenn …“ du nicht gewesen wärst? „Wenn wir von Sterblichkeit reden, reden wir von unseren Kindern“, erkennt sie. Unmöglich, den Tod oder das Älterwerden des jeweils anderen auch nur in Erwägung zu ziehen, denkt sie, die an sich selbst die Veränderung sieht, die ihr zeigt, dass ihre Kräfte verloren gehen. Ehrlich, schmerzend und ungewöhnlich sind die Fragen, die sich Didion stellt, immer uns einbeziehend, in ihrer Sprache, klar, unsentimental und poetisch zugleich. Was bleibt? Quintana sagte ihr: „… wenn jemand stirbt, gib dem nicht nach.“ Eva Geber
 
Joan Didion: Blaue Stunden. Übersetzt von Antje Rávic Strubel. 208 Seiten, Ullstein, Berlin 2012 EUR 18,50

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„Ne anständige Landbewohnerin“

Neun Monate im Leben der Sarah Kirsch. Das sind Spaziergänge durch Wald und Wiesen, Gewitter und „massiver Nebel in Schwanenweiß“, Löwenzahn im Garten und alte Filme im Fernsehen. Das neue Buch der Kirsch führt uns in die Vergangenheit: Das Tagebuch vom 10. Dezember 2001 bis zum 1. September 2002 erzählt von ihrem abgeschiedenen Leben in Tielenhemme in SchleswigHolstein. Nach jeder kurzen Lesereise kehrt sie überfordert vom Rummel ganz schnell zurück nach „Tee“. Mit den Augen einer Lyrikerin beobachtet sie das Blühen und Verblühen rund um ihr Häuschen und so passiert es, dass auch nach neun Monaten ihre poetischen Schilderungen von Natur nicht langweilig werden. Das Ganze gewürzt mit viel Berliner Humor und den Schlagzeilen aus der großen, weiten Welt – von Bomben in Afghanistan bis zu „Land unter“ in Österreich. Sie liest den neuen Grass und findet: „Ich kann mir nicht vorstellen warum die Leute das koofen.“ Geht aber mit ihren eigenen Neuerscheinungen nicht weniger kritisch um: „Islandhoch“ sei „gewöhnungsbedürftig, weiß nit ob es mir je ganz gefällt“. Die Tagebucheinträge in „Märzveilchen“ sind großteils sehr reduziert. Aber das macht die Faszination der Sarah Kirsch aus: Es braucht nicht viele Sätze, um berührt zu sein. GaH
 
Sarah Kirsch: Märzveilchen. Tagebuch. 240 Seiten, DVA, München 2012 EUR 20,60

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Eine jüdische Jugend in Wien

Lilian M. Bader wuchs in Wien als Enkelin des hebräischen Gelehrten und Übersetzers der „Festgebete der Israeliten“ S.G. Stern zusammen mit ihrer älteren, musikalischen Schwester Hilda auf. Ihr Vater war Handelsexperte und berufsbedingt oft im Ausland. Ihre Mutter war Klavierlehrerin und führte zusammen mit Malvine Friedmann die Stern’sche Mädchenschule in der Werdertorgasse im Wiener ersten Bezirk – deren Geschichte übrigens noch historisch aufzuarbeiten wäre. Sie studierte zuerst Germanistik, wechselte aber bald zur Chemie, worin sie 1919 als eine der ersten Frauen Österreichs promovierte. 1918 heiratete sie den Arzt Edwin Bader. Nach dem Tod ihrer Mutter 1935 leitete sie die Schule. 1938 emigrierte sie über England in die USA, wo sie als Lehrerin arbeitete und 1959 starb. Ihre lebendig geschriebenen Erinnerungen sind eine wichtige Quelle zur jüdischen Bildungs-, Frauenund Emanzipationsgeschichte. Sie wurden von Eleonore Lappin-Eppel und Albert Lichtblau im Auftrag des Zentrums für jüdische Kulturgeschichte der Universität Salzburg herausgegeben. Ergänzt wird der Band durch einen Epilog der New Yorker Psychologin B. Whiteman, der Tochter der Autorin und Verfasserin des Buches „Die Entwurzelten. Jüdische Lebensgeschichten nach der Flucht 1933 bis heute“, und zwei kurzen Nachworten ihrer beiden Enkelinnen Nadine Gregg und Lily Whiteman. Evelyn Adunka
 
Lilian M. Bader: Ein Leben ist nicht genug. Memoiren einer Wiener Jüdin. Übersetzt von Mascha Dabic. 400 Seiten, Milena Verlag, Wien 2011 EUR 23,–

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Make the best of it

Die schwedische Historikerin und Expertin für Gendergeschichte Yvonne Hirdman hat ein persönliches Buch über ihre Mutter Charlotte geschrieben, welche von 1900 bis 1966 lebte. Zunächst wird das Leben ihrer Großeltern in der Bukowina nachgezeichnet, wobei gesellschaftspolitische, historisch bedeutsame Daten eingeflochten werden, um das damalige Leben zu begreifen. Charlotte zieht es bald in das Berlin der Weimarer Republik, wo sie in intellektuellen Kreisen die Folgen der Weltwirtschaftskrise und kritisch distanziert das Aufstreben des Nationalsozialismus mitverfolgt. Noch vor ihrer Ehe hat sie eine Abtreibung, ihre Ehe mit dem „roten“ Grafen Alexander Stenbock-Fermor verläuft schnell im Sande, sie verliebt sich in den Kommunisten Heinrich Kurella, der wiederum in den 1930er Jahren Opfer der Schauprozesse in Moskau wird. Dieser Lebensabschnitt in Moskau wird von der Historikerin spannend rekonstruiert, weil Hirdman neben den zahlreichen Briefen ihrer Mutter Archivmaterial aus Moskau verarbeitet hat und dieses dunkle Kapitel in der sowjetischen Geschichte außerdem aus einer persönlichen Perspektive erhellt. Charlotte schafft noch Anfang 1938 den Absprung aus der Sowjetunion und geht nach Paris, wo sie ihren späteren Ehemann kennenlernt, mit dem sie drei Kinder haben wird. Auch wenn Lottes eigene politische Praxis blass bleibt, entsteht am Ende das Bild einer leidenschaftlichen, modernen Frau, die ein libertäres Leben suchte und auf die eigene ökonomische Unabhängigkeit orientiert war. ML
 
Yvonne Hirdman: Meine Mutter, die Gräfin. Ein Jahrhundertleben zwischen Boheme und Kommunismus. 574 Seiten, Insel Verlag, Berlin 2011 EUR 23,60

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Unkonventionelle Autobiografie

Autorin, Artistin, AUF-Aktivistin … über Ruth Aspöck gibt es viel zu sagen, aus ihrem reichen Leben viel zu erzählen. Einen Teil ihrer vielfältigen Erfahrungen und Gedanken hat die österreichische Schriftstellerin und Wissenschafterin, die unter anderem auch als Pressereferentin des Wiener Fremdenverkehrsverbands und am Institut für Leseforschung tätig war, nun in Form einer Textmontage vorgelegt. Auf über 500 Seiten gewährt sie dabei Einblicke in Tagebucheinträge aus 46 Jahren, die einen gleichermaßen fragmentarischen wie umfassenden Eindruck eines bewegten Lebens vermitteln. Dabei blitzt Alltägliches und Außergewöhnliches genauso auf wie Tragisches und Komisches, Zweifel und Träume, Liebe und Engagement. Wer die recht anspruchsvolle Lektüre dieses ge/wichtigen Zeitdokuments wagt, wird nicht zuletzt mit der Einsicht belohnt, dass geglücktes Frauenleben nicht an herrschenden Erfolgskategorien zu messen ist. Michaela Moser
 
Ruth Aspöck: Nichts als eine langweilige Blindschleiche. Textmontage. 507 Seiten, Löcker, Wien 2011 EUR 29,80

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Viel geleistet

Barbara Prammer legt ein Buch vor, das wie ein Patchwork wirkt. Die Fülle der Fotos, die von der ersten bis zur letzten Seite ins Auge stechen, irritiert ein bisschen. Viele davon könnten auch in offiziellen Druckwerken erscheinen, die als Wahlwerbung oder Gastgeschenk bei Staatsbesuchen überreicht werden. Das soll aber von der Lektüre nicht abhalten. Angelegt ist das Buch als Zwischenbilanz eines 20-jährigen (Frauen)Lebens in politischen Mandaten. Die Leserin kann die politische Entwicklung einer Tochter aus einer ArbeiterInnenfamilie in der SPÖ verfolgen, ein Weg, der so heute nicht mehr möglich wäre. Die Leserin könnte das Buch auch als Rückblick auf 20 Jahre österreichische Innenpolitik lesen. Die Autorin ermöglicht einen Blick hinter die Kulissen und illustriert diesen Blick auf die Regional- und Bundespolitik mit vielen Detailinformationen. Unter anderem liest frau auch, unter welchen Bedingungen Frauenpolitik innerhalb der SPÖ gemacht werden konnte (kann?), welche förderlichen oder behindernden Maßnahmen zu nützen bzw. zu überwinden waren. In den Schlussfolgerungen aus den Erfahrungen Barbara Prammers ist vieles zu lesen, was an die SPÖ auch von außen an kritischen Forderungen herangetragen wird. So bleibt mir nach der Lektüre der Eindruck einer fleißigen, unermüdlich schuftenden Politikerin, die auf ihrem Weg an die Spitze des Parlaments immer auch Fraueninteressen vertreten hat. Als Parlamentspräsidentin kann sie nun die politischen Initiativen setzen, die sie setzen will. Erna Dittelbach
 
Barbara Prammer: Wer das Ziel nicht kennt, wird den Weg nicht finden. Neue Antworten auf alte Fragen. 239 Seiten, styria premium, Wien-Graz-Klagenfurt 2011 EUR 24,99

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Virginia Woolf neu gelesen

„Augenblicke des Daseins, Autobiographische Skizzen“ ist eine Textsammlung, die jene erstmals 1976 von Jeanne Schulkind aus dem Nachlass herausgegebenen Schriften Virginia Woolfs mit drei Vorträgen der Schriftstellerin kombiniert. Das Buch gewährt Einblick in Virginia Woolfs Kindheits- und Jugenderlebnisse. Es ist ein liebevoller und zugleich analytisch-kritischer Blick der Schriftstellerin auf die Welt der Frauen einer gehobenen, viktorianischen Mittelschicht-Familie, die an den Auswirkungen der patriarchalen Zurichtungen zerbrechen. Die männlichen Charaktere ihrer Familie, die dafür und auch für ihre eigenen psychischen Zusammenbrüche sowie ihren Selbstmord letztlich verantwortlich sind, skizziert sie mit Offenheit, Direktheit und Zynismus. Ohne „literarische Bearbeitung“ ihrer Gedanken und Erinnerungen beschreibt Virginia Woolf ihre Eltern, ihre Geschwister und ihre gesellschaftliche Umgebung. Gerade dieses Nicht-Bearbeitete zeigt die Schriftstellerin nochmals von einer neuen, unbekannten Seite, auch wenn manche Textstellen, die mit „Klatsch und Tratsch“ gefüllt sind, langatmig wirken. Klaus Reichert, der Herausgeber des Buches, ergänzt die Texte mit kurzen Erläuterungen zu Entstehungszeit und Rahmenbedingungen der Schriften sowie aufschlussreichen Fußnoten mit Erklärungen zu den im Text erwähnten Personen. Auch wenn Susanne Amrain in der 1992 veröffentlichten Sammlung von Frauenbiografien „Wahnsinnsfrauen“ ausgiebig aus diesen Texten zitiert hat, lohnt es sich in jedem Fall, sie nochmals in dieser Form zu lesen. Petra Unger
 
Virginia Woolf: Augenblicke des Daseins. Autobiographische Skizzen. Hg. von Klaus Reichert. Übersetzt von Brigitte Walitzek. 272 Seiten, S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2012 EUR 26,80

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Verborgene (Ge-)Schichten

Kann man sich und seine Lieben vor den Erinnerungen schützen? Die Zeit zwischen 1933 und 1945 wollte Helmut Crott nicht mehr zum Thema machen. Er vermochte seiner Tochter nicht zu erzählen, dass seine Mutter von den Nationalsozialisten als Jüdin verfolgt und nach Theresienstadt verschleppt wurde. Auch nicht, dass er als deutscher Soldat in Wehrmachtsuniform im besetzten Norwegen täglich Angst davor hatte, entdeckt zu werden. Sein Geheimnis teilte er damals einzig mit Lilian Berthung, einer jungen Norwegerin, in die er sich mitten im Krieg verliebte. So erfährt Randi Crott, deren spätere Tochter, erst im Erwachsenenalter, dass sie jüdische Wurzeln hat und dass die Liebesgeschichte ihrer Eltern ganz anders verlief, als sie bisher glaubte. Aber wieder soll sie niemandem davon erzählen. Erst nach dem Tod des Vaters begibt sie sich gemeinsam mit ihrer Mutter auf Spurensuche nach den verborgenen Familiengeschichten. In ihrem dokumentarischen Roman versammelt sie neben Tagebuchaufzeichnungen und Liebesbriefen, auch Zeitdokumente und Archivmaterial, die die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung, die Geschichte Norwegens unter deutscher Besatzung und den problematischen Umgang nach 1945 mit jener Zeit nachzeichnen. Akribisch und voller Leidenschaft recherchiert die Journalistin Crott dabei auch ein Stück Zeitgeschichte. Christine Tragler
 
Randi Crott und Lillian Crott Berthung: Erzähl es niemandem! Die Liebesgeschichte meiner Eltern. Roman. 284 Seiten, DuMont Buchverlag, Köln 2012 EUR 20,60

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Intersektionalität unmittelbar

Audre Lordes bahnbrechender Roman aka Autobiografie, aka Mythobiografie „Zami: A New Spelling of my Name“ hat seit 1982 viele FeministInnen aus den unterschiedlichsten Gründen beeinflusst. Das Buch stellt ein bestechendes Zeitdokument über das Leben als Schwarze Frau und Lesbe im rassistischen und homophoben Amerika der McCarthy Ära dar. Der erste Teil beschreibt das Aufwachsen eines kleinen, fast erblindeten Kindes in Harlem, ihre Einsamkeit, die Ambivalenz in der Auseinandersetzung mit ihrer selbstbewussten Mutter, den Selbstmord der besten Freundin, das Erleben von persönlicher und ökonomischer Eigenständigkeit, verbunden mit Armut, Hunger sowie ausbeuterischen, unmenschlichen Arbeitsverhältnissen für Schwarze Frauen. Danach werden die ersten sexuellen Beziehungen zu Frauen und die teilweise absurden Erfahrungen als eine von zwei Schwarzen Lesben unter sonst Weißen in New Yorks homosexueller Clubszene der 1950er und -60er Jahre beschrieben. Selbst durch die kleinen Rechtschreibfehler und verkürzten Übersetzungen ins Deutsche klingt die volle Wucht ihrer Worte und ihres großen Talents als Schriftstellerin durch. Lordes Sprache hat eine besondere Unmittelbarkeit, jeder Satz ist ehrlich und vor allem: intelligent. „The Masters Tools will never dismantle the Masters House“ stammt nicht zuletzt von Audre Lorde. Sehr empfehlenswert. Alice Ludvig
 
Audre Lorde: ZAMI. Eine neue Schreibweise meines Namens. Eine Mythobiographie. Roman. Übersetzt von Karen Nölle. 328 Seiten, Unrast, Münster 2012 EUR 18,50

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Jeder Tag ein Geschenk

Caroline Stoessinger ist ein wunderschönes Buch über die älteste Konzertpianistin und jüdische Holocaust-Überlebende der Welt, Alice Herz-Sommer (109 Jahre), gelungen. Im Sinne einer musikalischen Komposition gliedert sie die interessante Lebensgeschichte der Pianistin, mit Vorspiel, Hauptteilen und Zwischenspielen, die sie aufgrund ihrer Aufzeichnungen mit der rüstigen Alice unternehmen konnte. 1903 in Tschechien im Umfeld von Kafka und Mahler geboren, Laufbahn als Konzertpianistin, von 1943 bis 1945 im Konzentrationslager Theresienstadt, ein Teil ihrer Familie wird in den Vernichtungslagern ermordet, Auswanderung nach Israel, Umzug nach London, wo sie ihren Lebensabend verbringt. Das Gute und das Böse lassen sich nicht trennen. Die Musik ist ihr Lebenselixier, sie benötigt wenig materielle Werte bis auf ihr unverzichtbares Klavier. Ihr geistiges Vermögen ist eingebettet in soziale Kontakte und auch hier wieder die Liebe zur Tätigkeit als Leitmotiv. Alice ist davon überzeugt, dass auch die niederen Tätigkeiten mit Engagement ausgeführt werden sollten, damit die größeren Hürden des Lebens gemeistert werden können. Die Aufzeichnungen sind eine abwechslungsreiche Mischung, die uns Hoffnung gibt. Umrahmt werden die einzelnen Geschichten mit gewinnenden Porträtaufnahmen der Künstlerin. Nicht weinen, nicht zürnen, sondern begreifen, was uns umgibt. ML
 
Caroline Stoessinger: Ich gebe die Hoffnung niemals auf. Hundert Jahre Weisheit aus dem Leben von Alice Herz-Sommer. 271 Seiten, Knaus, München 2012 EUR 19,60

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Pionierin im ewigen Eis

Ende des 19. Jahrhunderts waren Arktis und Antarktis begehrte Ziele für Forscher, Entdecker und Abenteurer. Viele wollten der Held sein, der als erster Mensch den Nord- oder den Südpol betritt. Das war – für diese Zeit selbstverständlich – eine reine Männersache. Umso bemerkenswerter ist, dass Jo(sephine) Peary 1891 ihren Mann Robert E. Peary nach Grönland begleitet und mit vier anderen Expeditionsteilnehmern den Winter dort verbringt. Dies sollte nicht ihre einzige Reise in den hohen Norden bleiben. 1993 bekommt sie ihr erstes Kind in Grönland. Bei ihren Aufenthalten führt sie genau Tagebuch, sie beschreibt nicht nur die Strapazen des langen Winters und Herausforderungen des Zusammenlebens auf engem Raum, sondern auch den Alltag und die sozialen Beziehungen der Inuit. Vieles an dem Verhalten der Inuit ist ihr fremd, mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu vor der mangelnden Hygiene und der körperlichen Freizügigkeit beobachtet sie die Lebensweisen der Inuit. Dem Zeitgeist entsprechend sind ihre Beschreibungen allerdings auch von kolonialistischem Dünkel gefärbt: Die Inuit sind unzivilisiert und in einer Tagebuchaufzeichnung auch schon einmal ein „Wesen, das man kaum als Mensch bezeichnen kann“. Ein bemerkenswert gut recherchiertes Buch über die erste Frau, die je an einer Polarexpedition teilgenommen hat und die immer wieder aus den Zwängen ihrer Zeit ausgebrochen ist. Angela Schwarz
 
Cornelia Gerlach: Pionierin der Arktis. Josephine Pearys Reisen ins ewige Eis. 352 Seiten, Kindler, Berlin 2012 EUR 20,60

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Eine konsequente Frau

Wenige Monate vor ihrem Tod erzählt Monika Jaeckel einer langjährigen Freundin ihre Lebensgeschichte mit einem außergewöhnlichen Anfang als Tochter eines evangelischen Vikars, der in China und später in Japan missionierte. Die Eltern führen ein sehr offenes Haus, das Zusammentreffen mit vielen verschiedenen Menschen und Reisen bieten der Heranwachsenden eine anregende Umgebung. In den frühen 1960er Jahren kehrt die Familie nach Deutschland zurück und Monika Jaeckel beginnt in Tübingen und Frankfurt Soziologie zu studieren. Sie beschreibt ihre politische und menschliche Entwicklung in einer Folge von Episoden, in denen eine Fülle von Informationen zur StudentInnenbewegung, zur Arbeit in der Gruppe „Revolutionärer Kampf“ und zu Menschen mit bekannten Namen zu finden ist. Zwei Phasen ihres Lebens werden ausführlicher geschildert, die Anfänge der Frauenbewegung und ihre wesentliche Rolle bei der Entstehung der Mütterzentren. Dabei werden zwei sehr unterschiedliche Seiten ihrer Persönlichkeit sichtbar, einerseits als eine der Sängerinnen der „Flying Lesbians“, die der Frauen- und Lesbenbewegung Klang und Stimme gaben und die Aufbruchsstimmung der frühen Jahre transportierten, und andererseits als Soziologin, die gemeinsam mit KollegInnen das Konzept der Mütterzentren schreibt und umsetzt. MINE, das internationale Netzwerk der Mütterzentren, ist das Ergebnis dieser Arbeit. Die einzelnen Abschnitte des Buches werden durch E-Mails getrennt, die in den letzten Wochen vor ihrem Tod den FreundInnen Aufschluss über die Qualität ihres Seins geben. Erna Dittelbach
 
Monika Jaeckel: (M)ein bewegtes Leben. Hg von Kathrin Rohnstock. Biografie. 196 Seiten, Ulrike Helmer Verlag, Sulzbach/Taunus 2011 EUR 20,50

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Biografien und Stencils von Revolutionärinnen

Die Herausgeber_innen, Queen of the Neighbourhood Collective, ein feministisches Frauenkollektiv aus Neuseeland, erzählen in ihrer Einleitung provokant und witzig, wie dieser kleine Band zustande kam. 30 Biografien von Revolutionärinnen sind darin gesammelt und dazu passende Stencils (holzschnittartige, auf das Wesentliche reduzierte, „ikonisierte“ Bilder, geeignet für Schablonen zum Sprühen in den Straßen). Männlichen Heldenmythen (auch linken) werden Geschichten von Heldinnen entgegengestellt und damit auch patriarchale Mythologisierung in Frage gestellt. In der scharfen Reduzierung ihrer Züge auf das Wesentliche sind die verschiedenen Frauen auf den Stencils gut zu erkennen. Auch die biografischen Darstellungen sind kurz und dicht. Aktivistinnen werden vorgestellt, deren Gemeinsamkeit in ihrem Mut, in ihrer Entschlossenheit liegt, für eine radikale Veränderung der herrschenden Verhältnisse einzutreten. Anarchistinnen, Kommunistinnen, Feministinnen, Transgenderaktivistinnen, Bürgerrechtlerinnen, Black Panthers, Kämpferinnen um Befreiung von nationaler Unterdrückung, Minderheitenrechtlerinnen, Partisaninnen. Frauen, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts kämpften, im antifaschistischen Kampf, in nationalen Befreiungskämpfen, einige von ihnen sind noch am Leben. Einige tragen Waffen in ihren Händen, andere sind oder waren hauptsächlich publizistisch oder lehrend tätig. Einige sind bekannter, andere weniger. Sie sind Ikonen und sie sind welche von uns. Sie können uns inspirieren zu widerstehen, nicht aufzugeben. Wir können stolz auf sie sein – und manchmal auch auf uns selbst. Wanda Grünwald
 
Revolutionäre Frauen - Biografien und Stencils. Hg. von Queen of the Neighbourhood Collective. Übersetzt von Sebastian Kalicha. 127 Seiten, edition assemblage, Münster 2011 EUR 13,20

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Jeckete sein, deutsch sein

Was es heißt, eine deutsche Jüdin, eine Jeckete, in Israel zu sein, darüber erfährt die Leserin sehr viel in diesen spannenden Erinnerungstexten von Jüdinnen, die, aus mehrheitlich bürgerlichen Familien kommend, auf der Flucht aus Nazideutschland nach Palästina gekommen sind und hier ihr Leben geführt und den Staat Israel mitaufgebaut haben. In den 16 Texten von sehr unterschiedlichen Frauen konkretisieren sich Themen wie die verlorene Existenz, die abgebrochene Ausbildung, das zerstörte Familienleben in Deutschland; die Anfänge in Palästina, später im Staat Israel, die schwierige Existenzgründung in einem Land, das LandarbeiterInnen und keine AkademikerInnen brauchte. Ausnahmefrauen wie Esther Herlitz, israelische Botschafterin, die auch als eine der wenigen über Diskriminierung als Frau spricht, runden das Bild ab, was es für deutsche Jüdinnen bedeutet, in Israel zu leben und zu arbeiten, ob im Kibbuz oder im Moshav, ehrenamtlich in der Betreuung von neu eingewanderten Menschen oder in den verschiedensten Berufen. Berührend auch die Schilderungen über Besuche in der früheren Heimat, mit aller Sehnsucht und allem Zorn, auch über die Reaktionen im Nachkriegsdeutschland. Offen bleibt einiges, z.B. der Konflikt mit den PalästinenserInnen. Prinzipiell wäre interessant gewesen, wie die Autorin, freie Journalistin, die auch für die Welt am Sonntag arbeitet und oft in Israel war und ist, gefragt hat, welche Themenfelder sie bei den Interviews vorgegeben hat. Was die interviewten Frauen zu erzählen haben, ist aber auf jeden Fall sehr eindrucksvoll und bereichert mein Bild davon, was es heißt, vertrieben zu werden, fliehen zu müssen als Mädchen, als junge Frauen. Helga Widtmann
 
Andrea von Treuenfeld: In Deutschland eine Jüdin, eine Jeckete in Israel. Geflohene Frauen erzählen ihr Leben. 240 Seiten, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2011 EUR 23,70

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Hier spielen Musikerinnen

Dieser Band umfasst 20 Porträts von erfolgreichen Musikerinnen (ergänzt durch eine Komponistin und eine Dirigentin), die im Bereich der alten und neuen Musik, in Sinfonie- und Opernorchestern, als Solistinnen oder in Ensembles tätig sind. Da finden sich nicht nur bekannte Namen wie die Geigerin Anne-Sophie Mutter, sondern auch durchaus unvermutete Karrieren, wie diejenige der beiden Kontrabassistinnen der Hamburger Philharmoniker Katharina von Held und Franziska Kober. In den jeweils 10- bis 14-seitigen Porträts fassen die Autorinnen in gut lesbarer Art mal paraphrasierend, mal direkt zitierend, Interviews zusammen, die sie mit den Musikerinnen führten, bereichern dies um Kommentare aus der Presse, Informationen zum Werdegang, Bildmaterial und Hinweise zu CD-Aufnahmen. Vielerlei Interessantes lässt sich dabei erfahren über die Eigendynamik der KlassikSzene, das Leben aus dem Koffer, das Interagieren in Orchester und Ensemble, Versagensängste und musikalische Glücksmomente. Feministische Themen kommen dabei immer wieder zur Sprache, wie etwa die Geschlechterdichotomie bei Instrumenten, die mangelnde Aufnahme von Frauen in Orchestern, Vorbildwirkungen von Frauen oder Vereinbarkeit von Beruf und Familie. In diesem Buch schwingt in jeder Zeile die Liebe und Leidenschaft dieser Musikerinnen zu ihrem Beruf und zur Musik mit. Eine Leidenschaft, die durchwegs inspirierend wirkt, und zum Nachhören der einen oder anderen CD-Empfehlung oder bei Gelegenheit zum Konzertbesuch animiert. Kordula Knaus
 
Brigitte Beier und Karina Schmidt: Hier spielt die Musik! Tonangebende Frauen in der Klassikszene. 260 Seiten, AvivA Verlag, Berlin 2011 EUR 24,47

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Mittelalterliche Regentin findet Chronistin

Die US-amerikanische Autorin Nancy Goldstone hat einen dicken Wälzer über Königin Johanna von Neapel geschrieben, die im 14. Jahrhundert lebte und „ihr“ Reich immer wieder aufs Neue gegen verschiedene Angriffe verteidigen musste, um ihre Position halten zu können. Sie wurde des Mordes an ihrem ersten Ehemann Andreas von Ungarn angeklagt und konnte mithilfe ihres engsten Verbündeten, Papst Klemens VI., alle Anschuldigungen entkräften. Sie heiratete insgesamt drei weitere Male, um als Herrscherin am Thron bleiben zu können, bis sie 55-jährig ermordet wird. Goldstone deklariert im Epilog, dass es sich bei ihrem Text um eine Gegenschrift handelt – Johanna von Neapel werde historisch zu Unrecht in schlechtem Licht dargestellt und für ihre Leistungen als mittelalterliche Regentin zu wenig gewürdigt. Dabei kam eine huldigende Zusammenstellung ihres politischen Agierens inmitten von Bedrohungen, Schlachten, Folterungen, Eroberungen und Intrigen zustande, was zu lesen auf Dauer langweilig wird. Über die Persönlichkeit der Königin lässt sich angesichts dieser Gemetzel und strategischen Manöver nichts erfahren, kulturelle oder sozialhistorische Kontexte bleiben ebenso nebensächlich wie die Bevölkerung. Neuere, geschlechterhistorische, methodische oder geschichtstheoretische Reflexionen fanden so gut wie keinen Eingang in das Buch, sodass Goldstones Unterfangen streckenweise wie eine Chronik aus jener Zeit wirkt, in der sie handelt. mel
 
Nancy Goldstone: Königin unter Königen. Das einzigartige Leben der Johanna von Neapel. Übersetzt von Bernd Rullkötter. 444 Seiten, Bloomsbury Berlin, London-Berlin-New York-Sydney 2012 EUR 25,60

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Revolutionäre Prinzessin

Quer durch die Kontinente eines in Aufruhr befindlichen Europas des vergangenen Jahrhunderts und quer durch die Generationen einer auf- und absteigenden russischen Aristokratie führt uns Sofka Zinovieff an der Hand ihrer Großmutter Prinzessin Sofka Dolgorukij (1907 – 1994) durch die Höhen und Abgründe politischer und zwischenmenschlicher Verwirrungen. Die Enkelin ist bei der Spurensuche ihrer Großmutter auf eine sehr ungewöhnliche, über ihre Zeit hinausdenkende Frau gestoßen. Ihr Tagebuch war für die Autorin Anstoß, sich auf eine akribische Suche nach ihrer eigenen Familiengeschichte einzulassen. Wie kommt eine Prinzessin, die in den Palästen von St. Petersburg zu Hause war, dazu, sich letztendlich der Kommunistischen Partei anzuschließen? Was muss eine erleben, um unter der geschichtlichen Last nicht zu zerbrechen und bis ins hohe Alter Visionen zu behalten und politische, lebens- und liebesfähige Experimente auszuprobieren? Vielleicht muss man die Höhen und Tiefen gesellschaftlicher Brüche durchleben bis hin zum Tod sicher geglaubter Fundamente, um aus den Rissen neue Erkenntnisse zu gewinnen. Die „rote Prinzessin“ ist all diese Wege gegangen, mutig und entschlossen, emanzipiert und verwegen. Ihre Fluchtwege, ihre Erniedrigungen im französischen Lager der Faschisten, ihre Hoffnungen und Enttäuschungen in der Stalin-Zeit und ihr zügelloses Liebesleben, das mit allen gesellschaftliche Konventionen bricht, sowie ihre verzweifelte Suche nach „Wahrheit und Gerechtigkeit“ in ihrem späteren kommunistischen Engagement lassen das Erbe, das sie der Enkelin überlassen hat, zu einem – auch reich bebilderten – Zeitdokument wachsen, das die alten Fragen neu stellt: Sind Klassen-, Rassen- und Geschlechterfragen ewig konstant? Wann und wie können historisch gemauerte Zuschreibungen durchbrochen werden und wo sind Ort und Zeit, das zu denken? Bärbel Mende-Danneberg
 
Sofka Zinovieff: Die rote Prinzessin. Ein revolutionäres Leben. Übersetzt von Aurelia Batlogg. 366 Seiten, Insel Verlag, Berlin 2011 EUR 10,30

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Zu bunter Strauß?

Mary Daly, die bedeutende Philosophin und radikalfeministische Theologin ist 2010 gestorben; 2011 hat der Christel Göttert Verlag ein Buch publiziert, um Daly und ihr Werk zu würdigen. Dieses wichtige Vorhaben ist leider in meinen Augen missglückt, da die beiden Autorinnen und Herausgeberinnen, Eveline Ratzel und Andrea Keller, ihrer allzu bunten Sammlung von Nachrufen, Diskussionsbeiträgen, Femmagen etc. keinen zusammenfassenden Rahmen bieten können. Der einen großen Teil des Buches ausmachende Abdruck von Eveline Ratzels Diplomarbeit über Dalys „Reine Lust“ aus dem Jahr 1987 kann da auch nicht weiterhelfen. Leider wird so das Ziel des Verlags, Mary Daly gerade jungen Frauen und Lesben nahe zu bringen, wohl eher nicht erreicht werden. Schade für uns, schade, dass so die Analyse, was von Mary Dalys Theorien heute noch für das Leben und die Politik von Lesben und anderen Frauen brauchbar wäre, weiterhin aussteht! Helga Widtmann
 
Eveline Ratzel (verwirklicht mit Andrea Keller): The BIG SIN – die Lust zum Sündigen. Mary Daly und ihr Werk. 276 Seiten, Christel Göttert Verlag, Rüsselsheim 2011 EUR 17,50

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Auf der Suche nach Konzepten

Lose in die drei Gruppen Psychoanalyse, Entwicklungspsychologie und Sozialpsychologie/ Angewandte Psychologie untereilt, finden sich in diesem, in einer überarbeiteten Neuauflage erschienen Buch, nicht nur die Biografien von 18 wegweisenden Psychologinnen, allesamt aus dem deutschsprachigen Raum, sondern auch die Darstellung ausgewählter Texte ihrer wissenschaftlichen Veröffentlichungen. Ein Aufbau, der Leben und Werk der vorgestellten Psychologinnen in einen zeitgeschichtlichen, kulturellen und politischen Kontext setzt und dadurch eine erhebliche Dichte schafft. Wie beispielsweise im Beitrag über die Psychoanalytikerin Marie Langer, die 1933 der KPÖ beitrat, die Zeit im Widerstand lapidar mit den Worten „Mit der Analyse und der Partei gleichzeitig zu leben, war nicht immer einfach“ zusammenfasste, sich im spanischen Bürgerkrieg einer Sanitätsgruppe der internationalen Brigaden anschloss, nach Argentinien emigrierte und dort begann, sich mit der Frage, welchen Beitrag die Psychoanalyse bei der Überwindung sozialer Ungerechtigkeit in einer Gesellschaft leisten kann, zu beschäftigten. Ergänzt wird jeder Beitrag durch eine Bibliografie sowie einer Auswahl an weiterführender Literatur und bietet so Anregung, sich weiterführend mit Schaffen und Lebensweg einzelner Psychologinnen auseinander zu setzten. Lisbeth Blume
 
Bedeutende Psychologinnen des 20. Jahrhunderts. Hg. von Sibylle Volkmann-Raue und Helmut E. Lück. 280 Seiten, VS Verlag, Wiesbaden 2011 EUR 30,80

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Eine „dampfende Namensküche“

Real waren die literarischen Salons des 18. und 19. Jahrhunderts nach dem Ersten Weltkrieg kaum noch die Kristallisationspunkte des kulturellintellektuellen Lebens. Die zu Hilde Spiels 100. Geburtstag erschienene Anthologie aber setzt den Salon als metaphorische Klammer über Leben und Wirken der 1911 in Wien geborenen, 1936 nach London emigrierten Essayistin, Journalistin und Schriftstellerin. Das Umschlagbild zeigt die elegante Autorin als „Grande Dame“ der Literaturszene. Elf Beiträge, darunter Erinnerungen von J. Schutting, P. Turrini und U. Weinzierl, knüpfen kursorisch am Salon an, etwa jener über die selbstbewusste jüdische Salonnière Fanny v. Arnstein, der Hilde Spiel eine Biografie widmete. Andere werfen Schlaglichter auf Spiels Nachkriegsjahre in Westberlin 1946-1948, auf ihre Funktion im PENClub, ihre Tätigkeit als FAZ-Korrespondentin, ihre Rolle als gesellige Gastgeberin in St. Wolfgang, auf Freund- und Feindschaften, Scharmützel, Intrigen und Affären im Literaturbetrieb der Nachkriegszeit und des Kalten Kriegs. Vieles bleibt anekdotenhaft. Einzelne moralisierende Bemerkungen zu Episoden in Spiels Leben irritieren, da sie ohne Belege und nähere Ausführungen sind. Im Salon der Anthologie erscheint Hilde Spiels Bedeutung überwiegend aus ihrer Bekanntschaft mit bedeutenden Zeitgenossen abgeleitet. Ihre eigene intellektuelle Position, ihr eigenes Schreiben werden kaum vermittelt. Bedauerlich, gerade in dieser Hinsicht wäre Hilde Spiel erst noch zu entdecken. Die Anthologie mag dafür immerhin ein Anstoß sein. Teres Eszed
 
Hilde Spiel und der literarische Salon. Hg. von Ingrid Schramm und Michael Hansel. 167 Seiten, Studienverlag, Innsbruck-Wien-Bozen 2011 EUR 26,90

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