Erzählungen/EssaysAktuelle Ausgabe: Erzählungen/Essays

Himmel und Hölle

…heißt das aus einem Blatt Papier kunstvoll gefaltete Kinderspiel. Wie dieses Spiel mit leichtem Variieren der Fingerstellung einmal die blaue, gleich darauf die rote Fläche präsentiert, so gleitet der Fokus in Suzana Tratniks 13 Geschichten – mühelos und elegant – zwischen den Perspektiven eines Kindes und dem Blick der Erwachsenen hin und her. Ausnahmslos sind Kinder die Hauptpersonen, ihre Wahrnehmung der Welt steht im Mittelpunkt. Der Himmel hat in einigen Erzählungen einen Ehrenplatz. Da ist konkret die Leiter, „die bis zum Himmel reicht“, und die Oma, die schon zu Lebzeiten nicht zu viel beten will, um nicht in den Himmel zu kommen, weil es dort sehr langweilig ist. Die Hölle: Mord, Selbstmord, Krankheit, Siechtum, Armut, soziale Ausgrenzung, physische Gewalt unter Jugendlichen. Das alles kommt zentral in den Geschichten vor. Und nie geht es darum, diese unangenehmen Seiten des Lebens (alt-)klug zu „verstehen“, sondern sie mit Hilfe von viel kindlicher Fantasie zu erfahren. Übersetzt sind Tratniks im Jugoslawien der 1960er und -70er Jahre spielende Geschichten in ein wohltuend österreichisches Deutsch. Dieses kommt in subtilen Nuancen der Wortwahl zum Ausdruck und dient der möglichst authentischen Übertragung von Atmosphäre und geistiger Bilderwelt. Für die titelgebende Erzählung erhielt Suzana Tratnik den Preseren-Literaturpreis. Zu Recht! Helga Pankratz
 
Suzana Tratnik: Farbfernsehen und sterben. Erzählungen. Übersetzt von Andrej Leben. 154 Seiten, Zaglossus, Wien 2011 EUR 12,95

zum Seitenanfang springen

Wundersames und Alltägliches

Monika Helfers kleine Geschichten sind voll von Poesie und wundersamen Begebenheiten, sie erzählen von Wünschen und Träumen, vom Grauen des Alltags und seinen Sonnenseiten. Die Menschen, die darin vorkommen, wirken manchmal surreal, als wären sie nicht von dieser Welt, manchmal ein wenig verloren, Menschen voller Sehnsüchte, mitunter einsam und verwirrt. Es sind Alte und Junge, Reiche und Arme, Frauen und Männer, Mütter und Enkelinnen. Da ist der Patient beim Psychiater, der nicht weiß, was er ist. Da ist die alte Frau K., die Hilfe braucht. Da ist Siri, die den „goldenen Schnitt“ hat. Oder der Mann, der Filzblumen verkauft und manchmal auch verschenkt. Ein besonders Buch, das frau nicht so schnell aus der Hand legt – nur noch eine Geschichte lesen und dann noch eine und noch eine … vab
 
Monika Helfer: Die Bar im Freien. Aus der Unwahrscheinlichkeit der Welt. 278 Seiten, Deuticke, Wien 2012 EUR 20,50

zum Seitenanfang springen

Das Politische im Privaten

Marta Marková hat sich mit Publikationen über Persönlichkeiten wie Milena Jesenská, Alice Rühle-Gerstel oder mit ihrem Band „Prager Frauen“ einen Namen als Publizistin gemacht. „Familienalbum“ ist ihr erster Erzählband. Auch hier stehen Frauen im Mittelpunkt: Die Großmutter, die es immer wieder schafft, sich eine Existenz aufzubauen und die am Sterbebett nach einem österreichischen Wein verlangt. Oder Bella, die mit Thomas Bernhard befreundet war. Marková selbst taucht als Miriam immer wieder in den Erzählungen auf. Die autobiografischen Elemente werden durch Fotografien verstärkt. Marková schreibt über politische Ereignisse, die sich in privaten Schicksalen spiegeln, über den Prager Frühling oder die Emigration. In einer Geschichte erkennt ein „italienischer Eisverkäufer aus Simmering“ – auch ein „Sudetendeutscher“ – Miriams tschechischen Akzent und schwärmt voll Sehnsucht von seiner Heimat. Das Buch erzählt von persönlichen Erinnerungen und nimmt die Leserin gleichzeitig mit auf eine historische Reise. vab
 
Marta Marková: Familienalbum. Erzählungen aus Mähren und Böhmen. 205 Seiten, Braumüller, Wien 2011 EUR 21,90

zum Seitenanfang springen

Gastropodische Erzählerin

Eine Lebensrealität, die die Autorin aufgrund einer mysteriösen Viruserkrankung dazu zwingt, für sehr lange Zeit liegend und demnach fast völlig bewegungslos zu verbringen, reduziert ihren Lebensraum schlagartig auf ein Zimmer. Plötzlich gibt es eine Außenwelt, zu der sie nur noch in Erinnerungen Zutritt hat, zugänglich ist ihr nur noch das direkte Blickfeld von ihrem Sofa aus. Dass ihr eine Freundin gerade eine Schnecke, vorübergehend in einem Veilchentopf untergebracht, ans Krankenbett stell,t empfindet sie anfangs als irritierend. Doch die unbeirrte Geschäftigkeit der Schnecke fesselt rasch ihre ganze Aufmerksamkeit. Neben der Beobachtung beginnt sie schon bald, sich mit der entsprechenden Fachliteratur auseinanderzusetzen und versorgt die Leserin auf diesem Weg nicht nur mit faszinierenden Informationen über die Biologie der Schnecke, sondern webt auch allerhand literarische Quellen ein. Und so erhält sie durch ihre kleine Mitbewohnerin (inzwischen in ein Terrarium übersiedelt) neben einer Art stillen Komplizinnenschaft auch eine Möglichkeit, der Isolation im eigenen Selbst zu entkommen. Unmittelbar fesselnd ist das gemächliche Erzähltempo, das Lust macht auf eigene Schneckenbeobachtungen. bw
 
Elisabeth Tova Bailey: Das Geräusch einer Schnecke beim Essen. Essay. Übersetzt von Kathrin Razum. 176 Seiten, Nagel & Kimche, München 2012 EUR 17,40

zum Seitenanfang springen

Über Putin, Kustendorf und Minibars

Was macht Karaoke (zu Deutsch „leeres Orchester“) für so viele Menschen attraktiv? Für die Literaturwissenschaftlerin und Autorin Dubravka Ugresic, die seit dem Jugoslawien-Krieg in den Niederlanden lebt, liegt der Reiz von Karaoke in einer Doppelrolle: einerseits wird damit die Verehrung des ausgewählten Liedes bzw. ihrer Interpret_ innen kundgetan, andererseits wird mit der Parodie die Werteskala untergraben. Die verschiedenen Ausprägungen subversiver Parodie bzw. deren unkritische Verehrung sind daher Gegenstand in Ugresics neuem Buch, das aktuelle Essays aus den letzten fünf Jahren versammelt. Die zum Teil für die Neue Zürcher Zeitung verfassten Beiträge haben einen Schwerpunkt auf Phänomene im ehemaligen Jugoslawien bzw. in den ex-jugoslawischen Ländern, Ugresic geht aber auch darüber hinaus, um sich mit Putins Fotostrategien zu beschäftigen oder sich über Minibars zu ärgern, die für sie zum Symbol für den Kapitalismus und die aktuelle Überwachungstendenz unserer Gesellschaft werden. Die Essays lesen sich unterhaltsam und leichtfüßig, auch dort, wo es eigentlich bitterernst wird, etwa wenn es um die Kritik an Patriotismus und Staaten geht oder um Kriegsverbrecher. Ugresics erzählerisches Können, manchmal nur mit Andeutungen aussagekräftig zu sein und ihr umfassendes Wissen über (slawische) Weltliteratur und (exjugoslawische) Geschichte machen „Karaokekultur“ zu einem großen Lesevergnügen. Jana Sommeregger
 
Dubravka Ugresic: Karaokekultur. Essays. Übersetzt von Mirjana und Klaus Wittmann und Angela Richter. 383 Seiten, Berlin Verlag, Berlin 2012 EUR 22,60

zum Seitenanfang springen