LesbenromaneAktuelle Ausgabe: Lesbenromane

Orientalisch-indische Identitätsprozesse

Tala, eine in London lebende christliche Palästinenserin aus reichem jordanischem Hause, ist zum vierten Mal verlobt. Familie und Freund_innen sind äußerst gespannt, ob Tala dieses Mal heiraten wird. Ihr Verlobter Hani ist gebildet, erfolgreich und weltoffen. Die beiden verbindet nicht nur ihre Liebesbeziehung, sondern auch eine tiefe Freundschaft. Einige Wochen vor der Hochzeit lernt Tala die neue Freundin von Ali kennen. Leyla arbeitet in der Versicherungsfirma ihres Vaters und ist eine talentierte Schriftstellerin indischer Herkunft und muslimischen Glaubens, die Tala vom ersten Augenblick an gefangen nimmt. Die beiden treffen sich so oft wie möglich. Können sie ihre Gefühle füreinander zulassen? Wie würden die Familien reagieren? Wird Tala Hani heiraten? Shamin Sarif erzählt eine Geschichte orientalischindischen Lebens, die nicht die üblichen Klischees und Stereotypien bedient. Ihre Protagonistinnen sind selbstbewusste und erfolgreiche Frauen, die mit ebenbürtigen Männern liiert sind. Die Familienangehörigen sind kulturell vielfältig gezeichnet und vertreten unterschiedliche politische Ansichten. „Mitten ins Herz“ ist nicht nur ein Liebesroman, sondern behandelt auch Generationenkonflikte und eine lebhafte Auseinandersetzung mit Werten und Normen in der Familie. Die inhaltliche Vielfalt dieses Buches hilft über so manche stilistische Schwäche hinweg und ermöglicht der Leserin somit eine anregende Lektüre. Surur Abdul-Hussain
 
Shamin Sarif: Mitten ins Herz. I can‘t think straight. Roman. Übersetzt von Andrea Krug. 202 Seiten, Krug & Schadenberg, Berlin 2012 EUR 17,40

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Ewige Liebe oder wankelmütige Affären?

Dies ist die Geschichte von Katja und Irina. Katja ist Deutsche, gerade aus Afrika zurückgekehrt von einem fünfjährigen Job als Auslandskorrespondentin für einen Fernsehsender. Sie findet sich schwer wieder im Alltag ein, ihr neuer Job erscheint sinnlos, die alten Freundinnen sind entfremdet, ihre Schwester ist beruflich erfolgreich und hat eine tolle Familie. Katja hingegen kann sich schwer auf jemanden einlassen. Irina ist als Au-Pair aus Russland geflohen, vor ihrer homophoben Familie und einen Scherbenhaufen ihrer großen Liebe zurücklassend. Sobald sich Irina und Katja zum ersten Mal sehen, ist eigentlich klar, dass sie einander völlig verfallen sind. Doch viele bange und spannende Buchseiten und einen brutalen Schicksalswink dauert es, bis Katja sich erlaubt, mit Irina zu sein und die Liebe zwischen den beiden zuzulassen. Als Katja endlich ihre eigene Mauer niederreißt, ist Irina überglücklich und schließlich auch bereit, ihr eigenes Leben wieder in die Hand zu nehmen. Der Roman beschäftigt sich schlussendlich mit der interessanten Frage, ob es sinnvoll ist, sich immer wieder auf jemand Neuen und eine neue Beziehung einzulassen, oder ob es nicht zu schmerzhaft ist, immer wieder in letztlich zum Scheitern verurteilte Beziehungen zu investieren. – Oder sollte eine tatsächlich an eine dauerhafte Liebe glauben? Karin Schönpflug, für die Lesbenberatungsbibliothek im Lila Tipp
 
Carolin Schairer: Aprikose im Kopf. Roman. 296 Seiten, Ulrike Helmer Verlag, Sulzbach/Taunus 2011 EUR 20,50

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Aufbrandende Gefühle

Der Erstlingsroman von Claudia Lewin versetzt wohl manche Leser_in in die harte Zeit ihres Coming-Outs. In jene Zeit, als vielleicht bereits alles mit Mann und Kind(ern) auf Schiene schien und keine großen Veränderungen im Leben mehr zu erwarten waren. Die Autorin zeichnet mittels fast lyrischer Sprache und feiner Beobachtungsgabe die emotionale Zerrissenheit, Sehnsüchte und Begierden nach, die frau erfassen, wenn eine begehrenswerte Frau in ihr Leben tritt. Bemerkenswert an diesem Roman ist die Erzählweise, denn die Geschichte Annes und Benitas wird von mehreren Personen aus ihren jeweiligen Perspektiven heraus erzählt – Freundinnen, Mütter, Arbeitskolleginnen. Ergebnis ist eine Vielschichtigkeit der Erzählung, die leider so mancher anderen Coming-Out-Story fehlt. Ein Buch für alle, die gerade eine ähnliche Situation erleben, vor Dramen keine Angst (mehr) haben oder sich vielleicht mal wieder an die eigene Geschichte erinnern wollen. Roswitha Hofmann
 
Claudia Lewin: In mir ein Meer. 160 Seiten, Ulrike Helmer Verlag, Sulzbach/Taunus 2012 EUR 13,40

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Tango und Liebesbeziehungen

Elena, attraktive Argentinierin und Tangolehrerin, begibt sich wieder auf die Suche nach der Geschichte ihrer Tante Mari. Sie kehrt soeben nach einem einjährigen Aufenthalt aus Las Palmas nach Buenos Aires zurück und steht vor den Trümmern ihrer 7-jährigen Beziehung mit Caridad. Nachdem einige Hindernisse überwunden wurden, kommt auch Ines, Tochter deutscher und spanischer Eltern und in Deutschland aufgewachsen, zu einem Wiedersehen mit Elena nach Buenos Aires. Viele Steine müssen aus dem Weg geräumt werden, bevor Elena und Ines sich endlich in den Armen liegen können. Die Vorgängerlektüre ist sicherlich empfehlenswert, aber auch ohne „Tango mit Ines“ sind die Beweggründe der Protagonistinnen und die Zusammenhänge verständlich. Am Rande wird die Lage in Argentinien beleuchtet. Durch einfache Sprache, ein wenig oberflächliche Charaktere und überschaubaren Plot ist dieser Roman eine kurzweilige Lektüre für die U-Bahn oder einen faulen Tag im Bett. Beate Foltin
 
Bettina Isabel Rocha: Buenos Aires, mi amor. 340 Seiten, Krug & Schadenberg, Berlin 2011 EUR 16,90

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Wie notwendig ist Gewalt?

Virginie Despentes, bekannt durch ihr Erstlingswerk „Baise-moi“ („Fick mich“), legt wieder mal ein Buch vor, das provoziert. Die Handlung: Tochter aus reichem Haus (Valentine) verschwindet, glücklose unterbezahlte Privatdetektivin (Lucy) wird auf sie angesetzt, sucht sich Unterstützung bei zwielichtiger Figur („die Hyäne“), Tochter wird gefunden, es gibt aber kein HappyEnd. Die Suche nach Valentine führt Lucy und die Hyäne quer durch Paris und Barcelona, durch arabische Vorortarmut, Treffpunkte der extremen Rechten und Linken, radikale Nonnenklöster etcetera. Despentes lässt kaum was aus mit ihrer spitzen Feder: Heteronormativität, Pädophilie, S/M-Sex als einzige mögliche sexuelle Erfüllung von perfekten Heterofrauen, Klassenarroganz, Opus Dei, radikaler Islamismus – alles wird in einem schnoddrigprovokativen Stil verrissen. Gewalt ist offenbar ein Lieblingsthema von Despentes – eigentlich sind alle Figuren mehr oder weniger gewalttätig, und immer wieder schimmert eine positive Einstellung zu Gewalt durch, die ein etwas ungutes Gefühl bei der Lektüre hinterlässt: „Eine politische Bewegung wird erst anerkannt, wenn sie Menschenleben gekostet hat. Sonst ist es Feminismus: ein Hobby für ausgehaltene Frauen. Gewalt ist nötig. Sonst hört niemand zu.“ Das Buch erfordert einen guten Magen und Zeit zum Durchdenken, interessant geschrieben und lesenswert ist es allemal. gam
 
Virginie Despentes: Apokalypse Baby. Roman. Übersetzt von Dorit Gesa Engelhardt und Barbara Heber-Schärer. 383 Seiten, Berlin Verlag, Berlin 2012 EUR 20,50

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Alles scheint möglich mit 17

Als Tochter eines indischen Mittelschichtsehepaares wächst die knapp 17-jährige Anamika Sharma behütet und gefördert im Delhi der 1990er Jahre auf. Ihrem Alltag entsprechend ist sie mit Schule, LehrerInnen, Eltern beschäftigt und zeigt sich interessiert am politischen Geschehen in Indien. Ziemlich plötzlich verliebt sie sich in die Mutter eines Schülers und beginnt mit ihr eine leidenschaftliche Affäre, erlebt Lust, Sex und heimliche Freiheit. Dies geschieht sehr bald parallel zu einer weiteren Affäre, diesmal mit der gesellschaftlich weitgehend rechtlosen Hausbediensteten Rani. Und im Überschwang der Gefühle, der Begeisterung und der Überzeugung, alles sei (ihr) möglich, nähert sie sich auch ihrer Schulfreundin Sheela an. Anamika liebt ihre eigene Forschheit, diese drei Frauen und die Physik, mit der sie sich immer wieder in teils abenteuerlichen Theorien die Welt und ihr Funktionieren erklärt. Die erzählte Geschichte wird zunehmend spannend, Zukunftsfragen, Zugehörigkeit, Erwachsenwerden und Identitäten werden zum Thema. Den Sprachstil einer fiktionalen 17-jährigen fand ich gewöhnungsbedürftig, aber anschaulich. mel
 
Abha Dawesar: Die Physik des Vergnügens. Übersetzt von Nicole Alecu de Flers. 404 Seiten, Zaglossus, Wien 2011 EUR 19,95

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Traditionell türkisch – typisch lesbisch

Hier ist die Fortsetzung zu „Allah und der Regenbogen“! „Regenbogenlicht“ bietet die gute Gelegenheit zum Wiedersehen mit Ebru, Tarek, Lea und Mona. Was ist aus Ebru geworden, seit sie ihre traditionell lebende türkische Familie verlassen hat und nach Wien gezogen ist, um offen als Lesbe die Szene unsicher zu machen? Wie ist es für ihren Bruder Tarek weitergegangen, hat er seine große Liebe Lea vergessen oder kommen die beiden gegen den Widerstand seiner Eltern, trotz Leas beiden lesbischen Müttern wieder zusammen? Tarek droht mittlerweile eine arrangierte Ehe, die er ohne die Ehre der Familie zu gefährden, kaum abwenden kann. Ebru scheint sich in herzlose Liebschaften zu verstricken, um Mona zu vergessen und letztlich droht ein geplanter Supermarktraubüberfall das Leben der beiden Geschwister völlig zu zerstören. Für Spannung ist gesorgt, aber auch für eine Auseinandersetzung mit Lösungsmöglichkeiten in schwierigen Lebenssituationen. Kleine störende Stereotype lenken zwar manchmal beim Lesen ab, aber wieder schafft es Ulrike Karner, die Leserin mit ihrer Geschichte in den Bann zu ziehen und die Schwierigkeiten des Zusammenseins der aus unterschiedlichen sozio-kulturellen Bereichen stammenden Romanfiguren lebendig zu bebildern. Manchmal ein bisschen zu wenig mutig, trotz hochgehaltener Arme auf der Achterbahn! Karin Schönpflug, für die Lesbenberatungsbibliothek im Lila Tipp
 
Ulrike Karner: Regenbogenlicht. Roman. 290 Seiten, Ulrike Helmer Verlag, Sulzbach/Taunus 2011 EUR 20,50

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Entrückung

Ich sitze im Flugzeug nach Ohio, im Handgepäck Peggy Munsons erotisches Roadmovie und „irgendwo weit weg, in San Francisco, gießen Lesben Silikon in Dildoformen und denken kein bisschen an Schwänze“. Endlose Landschaften, rauer Sex, aufgeladene Atmosphäre und handfeste Umdeutungen in Butch/Femme Erzählungen, die in ihrer Perspektive weiter uneindeutig bleiben. Ein AmishMädchen sagt, wo es lang geht, eine eindringende Rundfahrt im Rollstuhl über den Rummelplatz, Daddy-Butches und Eau-de-Pussy-Duft… Schwindlig ist mir beim Rückflug, von zu wenig Schlaf, dem halben Glas Wein, das Delta herausgerückt hat, und Munsons subtil-brachialem, vielschichtig affektivem super-queering. Bedeutungen drehen sich dreimal in einem Satz, Sprache öffnet sich und wohlige Wellen verbinden beim Lesen Bauch- und Kopfgefühl. „Die Bar in Cleveland, in der ich sie traf“, lese ich, „war meistens knallvoll mit Lesben, aber ich spürte die Beule an meinem Arsch, als ich mich zwischen einer Truppe Butches durchzwängte“. In dem Moment höre ich das charmant vorgebrachte Angebot der Flugbegleiterin „cigarettes, liquor for mothers day!“ und mein breites Grinsen fühlt sich allumfassend glücklich an. andronja
 
Peggy Munson: Die Nacht, als die Welt sich auflöste. Erotische Erzählungen. Übersetzt von van Rijn. Literarische Bearbeitung von Regina Nössler. 251 Seiten, konkursbuch Verlag Claudia Gehrke, Tübingen 2012 EUR 12,40

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Mit allen Sinnen

Sequels sind ja leider oft nur mehr vom Selben und lassen allzu oft echt gute Geschichten kläglich in Teil X verenden. Nicht so „Mein lesbisches Auge“, das lesbischen Sex und lesbisches Begehren zum elften Mal facettenreich präsentiert. Das Interesse am jeweils nächsten Band zu erregen, gelingt wohl zum einen durch die thematische Vielfalt der Bände – diesmal unter anderem: Geschichten über den ersten lesbischen Kuss, darüber, wie Sex gelernt wurde und über die Rolle von Aussehen und Schönheit für Lesben. Zum anderen verfallen die diesmal versammelten Autor*innen und Künstler* innen auch im elften Band selten in banale und damit nervende Beschreibungen. Auch vermittelt die Mischung an Darstellungsformen wie Texten, Fotos, Cartoons und gemalten Bildern ein Gefühl für die reale Vielfältigkeit lesbischer Körperlichkeit, Begehrensformen und Sexualitäten, aus der zunehmend auch Alter als Thema nicht ausgespart und auch Körperbehaarung wieder – wenn auch nur vereinzelt – der sichtbar gemachten Realität hinzufügt wird. „Mein lesbisches Auge 11“ zeigt lesbisches Begehren zwischen politischen Ansprüchen, Normalisierung, ungezähmter Wildheit und was immer auch gefällt/missfällt. Der Band bietet der Leser*in eine Auswahl an Bildern und Themen, die auch Gesprächen mit Freund*innen und Geliebten zuweilen noch mehr Würze verleihen. Viel Spaß und anregende Stunden! Roswitha Hofmann
 
Mein lesbisches Auge 11. Das lesbische Jahrbuch der Erotik. Hg. von Laura Méritt. 288 Seiten, konkursbuch Verlag Claudia Gehrke, Tübingen 2012 EUR 16,00

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Die erste große Liebe

„Geschrieben für dich“ zeichnet in zarten, bezaubernden Bildern die Geschichte einer ersten Liebe. Flannery, Studentin im ersten Semester, begegnet ihr in einem Café. Für sie ist es Liebe auf den ersten Blick. Für Anne, die um einiges älter ist und Flannerys Tutorin, ist es Begehren auf den ersten Blick. Die Beziehung der beiden beginnt mit einem Gedichtband von Marilyn Hacker, den Anne Flannery schenkt und einem von Flannery selbst geschriebenen Gedicht als Antwort. Worte spielen eine wichtige Rolle zwischen den beiden, obwohl vieles ungesagt bleibt. Flannery spürt von Anfang an, dass es eine Seite gibt, die Anne ihr nicht zeigen will. Das Ende beginnt in einem Urlaub in Florida, den Anne geplant hat und Flannery eigentlich nie wollte. Wäre die Geschichte anders verlaufen, wenn sie nach Paris gefahren wären, so wie Flannery es sich gewünscht hat? Das 2005 im Verlag Krug & Schadenberg erschienene Buch gibt es nun neu als Taschenbuch in der Reihe k&s classic. Welche es noch nicht gelesen hat, sollte dies unbedingt tun und auch wieder lesen lohnt sich! vab
 
Sylvia Brownrigg: Geschrieben für dich. Roman. 287 Seiten, Krug & Schadenberg, Berlin 2012 EUR 17,40

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Was tun?

Die Ich-Erzählerin Natalie ist mit der Neuübersetzung von Anton Tschechows Drama „Drei Schwestern“ beauftragt, jedoch kommt ihre Arbeit ebenso wenig voran wie die Bestrebungen der tschechowschen Protagonistinnen. Immer drängender wird die Aufforderung an die Erzählerin, doch endlich tätig zu werden, die Trägheit zu überwinden, vom Denken zum Tun zu gelangen. Rasch ist erkennbar, dass es nicht um die Übersetzungsarbeit geht, sondern um einen größeren Zusammenhang. Nicht umsonst wird mehrmals auf Lenins Hauptwerk aus dem Jahr 1902 angespielt, das die Schlüsselfrage im Titel trägt: Was tun? Während die Personen in Tschechows fatalistischem Drama zumindest vordergründig Belanglosigkeiten von sich geben und fortgesetzt aneinander vorbeireden, kommt die Erzählerin in diesem essayhaften Monolog durchaus zur Sache. Betrachtet werden die Eltern- und Großelterngeneration, die schwäbische Heimat Natalies und das Verhältnis zu Heimat an sich, Körperkult und verschwundene Liebe, der Nutzen von Utopie und Hoffnung. Gabriele Riedle zeichnet ein überaus treffendes Bild einer Generation, die sich in den 1970er Jahren ihren Platz im Bildungsbürgertum erkämpft und der kleinhäuslerischen Spießigkeit der Eltern ihre linken Ideale entgegengesetzt hat, dann aber nie „vom bloßen Zuschauer zu einem Subjekt der Geschichte“ geworden ist. Unbedingt empfehlenswert ist die Lektüre nicht nur wegen der scharfsichtigen und sprachlich belebenden sowie mit Anspielungen auf die russische Literatur reich bestückten Anamnese unserer Gesellschaft und des Einzelnen. Die titelgebende Diagnose, dass wir zu überflüssigen Menschen im Sinne untätiger, träger oder hilfloser ZuschauerInnen gesellschaftlicher und politischer Vorgänge geworden sind, sollte uns zum Denken und Handeln anregen. Helga Lackner
 
Gabriele Riedle: Überflüssige Menschen. 239 Seiten, AB – Die andere Bibliothek, Berlin 2012 EUR 32,90

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Aufbegehren gegen Männer und Mafia

Diesem ersten Roman von Margherita Oggero ist deutlich anzumerken, dass sie seit einigen Jahren höchst erfolgreich Krimis schreibt: Er ist sehr spannend geschrieben und verweist mit jedem Detail auf neue Geheimnisse und Bezüge. Die Geschichte beginnt von hinten, dem Ergebnis, dass die 13-jährige Imma bei ihrer „Tante“ Rosaria im Norden Italiens versteckt lebt. Kapitel für Kapitel wird von Personen, Orten, Leben erzählt, von denen lange unklar bleibt, ob und wie sie miteinander in Verbindung stehen. Mit klaren ruhigen Bildern ist von einem süditalienischen Dorf nahe Neapel die Rede, das Aufwachsen der Töchter und Söhne, Beziehungen, Verheiratungen, Berufe, Häuser – und hinter jeder Ecke gestaltet die Mafia bedrohlich und unentrinnbar den Alltag mit. Mit hoher Aufmerksamkeit für den engen Handlungsspielraum der Frauen erzählt Oggero von bitterer Armut, von Ausbeutung und Gewalt, von Freiheitswünschen und Unterstützern. Imma beobachtet unterdessen tagelang die Straße und freut sich über die „steinerne Stunde“, wenn sich dort für Sekunden nichts tut oder bewegt. Sie wagt den gefährlichen Kontakt mit dem Außen, mit Paolo, wagt es, geheim Bücher kaufen zu gehen und zu lesen, was als Parabel für Befreiungen steht. Doch diese Freiheitsperspektiven sind vielschichtig und unwägbar hinsichtlich ihrer Realisierbarkeit. Irgendwann wird ersehnterweise klar, warum Imma versteckt lebt, es wird nochmal richtig spannend und zu einer großen Erzählung über Italiens Gegenwart, die Frauen, Männer und den Staat. mel
 
Margherita Oggero: Der Duft von Erde und Zitronen. Roman. Übersetzt von Peter Klöss, 312 Seiten, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2012 EUR 20,60

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In einem Dorf der Naga

Der Roman erzählt Teile der Legende, als die tapferen Krieger des Bergdorfes Khonoma im Nordosten Indiens den Briten in mehreren blutigen Schlachten über Jahrzehnte hinweg, letztlich aber vergeblich, Widerstand leisteten. Die Erzählung spielt zwischen ca. 1830 und 1880, und die europäische Geschichtsschreibung kennt die Namen der befehlenden britischen Offiziere der kolonialistischen Eroberungskriege, die einen Teil des Rahmens bilden. Im Roman selbst indes kommt die Schlacht nur am Rande vor. Ausführlich geschildert werden hingegen die Vorbereitungen der Krieger des Stammes des Volks der Naga. Die Hauptperson Levi wird im Zuge der ersten großen dieser Schlachten von den Briten verhaftet, eingekerkert und kehrt erst nach mehreren Jahren der Haftstrafe in sein Dorf zurück. Er sieht zwar sein Dorf nun mit etwas anderen Augen, fügt sich aber wieder in die alten Strukturen ein, er ist ein berühmter Krieger geworden, heiratet, seine Frau bekommt zwei Kinder, die sich unterschiedlich entwickeln. Seine Mutter stirbt… Die Erzählung ist nicht ganz leicht zu lesen, was möglicherweise damit zusammenhängt, dass die darin handelnden Personen zwar Namen tragen, aber noch keine bürgerlichen Individuen sind, sondern Menschen, die in (stark patriarchal) geprägten Clanstrukturen leben und sich in ihrem Handeln nach Sitten, Tabus (vorchristlich) religiösen Vorschriften und nicht nach ihren persönlichen Bedürfnissen richten. Die Beschreibung von rituellen Handlungen und Festen nimmt dementsprechend relativ großen Raum ein. Die Autorin selbst entstammt dem Volk der Naga, die trotz des Kolonialismus auch heute noch Teile ihrer Eigenständigkeit bewahren konnten, und daher immer wieder von der indischen Zentralregierung durch Assimilationsbestrebungen und Repression bedroht sind. Wanda Grünwald
 
Easterine Iralu: Khonoma. Erinnerungen an ein Dorf der Naga. Roman. Übersetzt von Helmuth A. Niederle. 208 Seiten, Löcker, Wien 2011 EUR 19,80

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Aussichtslos

Julia Francks neuer Roman handelt von dem Geschwisterpaar Ella und Thomas, das in OstBerlin bei der leiblichen Mutter, einer Bildhauerin, aufwächst. Im Wesentlichen sind diese Jahre des Heranwachsens geprägt von sexueller und emotionaler Gewalt. Beide Geschwister verarbeiten die ihnen angetanen Grausamkeiten mit unterschiedlichen Verhaltensmustern. Die Beschädigungen sind so hartnäckig, dass es auch am Lebenswillen mangelt. Ella flüchtet phasenweise in eine Phantasiesprache und Thomas schreibt Gedichte, die auf wenig Gehör stoßen. Warum die Geschichte in die DDR der 1950er und -60er Jahre gepflanzt wird, lässt sich nicht klären. Dass auch ein ehemaliges KZ-Opfer oder ein Stasimitarbeiter Missbrauchstäter sein können, ist der Autorin nicht unbedingt vorzuwerfen. Es bleibt der Leserin überlassen, wie sie die unterschiedlichsten Szenen von sexuellem Missbrauch, die sehr deutlich von der Autorin konstruiert werden, verdaut. Die naturalistische Erzählweise ist äußerst beklemmend und die Geschichte mündet schließlich in eine Katastrophe. Der Roman kann nur Leser_innen empfohlen werden, die resistent sind, sich nicht vor einem allzu psychisch anstrengenden Leseerlebnis scheuen und den Glauben an eine bessere Welt noch nicht verloren haben. Antonia Laudon
 
Julia Franck: Rücken an Rücken. Roman. 380 Seiten, S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2011 EUR 20,60

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Im Konflikt mit der Liebe

In ihrem Debütroman „ohnegrund“ erzählt Schulamit Meixner die Geschichte der jungen Jüdin Amy, welche sich auf eine Reise nach Tel Aviv begibt, um dort zu studieren und ihr eigenes Leben zu beginnen. Etwas unschlüssig und orientierungslos blickt sie ihrer neuen Umgebung entgegen. Auf der Suche nach einer Wohnmöglichkeit lernt sie den Psychologiestudenten Nimrod kennen, verliebt sich in ihn und gründet eine Familie. Der jüdische Hintergrund der Protagonistin wird dabei nicht außer Acht gelassen. Amy scheint oftmals hin- und hergerissen zu sein zwischen ihren jüdischen traditionellen Wurzeln und dem gegenwärtigen Leben im modernen Israel. Was anfangs wie ein einfacher Familienroman anmutet, entwickelt sich zu einer komplexen Erzählung mit mehreren Ebenen und Perspektiven: steht da einerseits die Beziehung zwischen ihr und Nimrod und jene zu ihrer Familie im Vordergrund, werden auf der anderen Seite gesellschaftliche und sozialpolitische Geschehnisse und Probleme mittels Tagebucheinträgen skizziert. In Rückblenden und Parallelepisoden versucht Meixner ein kompaktes Bild einer zerstreuten Familie zu geben und führt die Leser_innen mit psychologischem Feingefühl durch die Seelenzustände ihrer Figuren. Katrin Rohrbacher
 
Schulamit Meixner: ohnegrund. Roman. 191 Seiten, Picus Verlag, Wien 2012 EUR 19,90

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Die Durchgangsherberge

Pinar Selek hat ihren unfreiwilligen Aufenthalt in Deutschland – in der Türkei läuft trotz mehrerer Freisprüche weiterhin ein Verfahren gegen sie – dazu genutzt, in einem Roman die Geschichte der linken Bewegung in der Türkei nach dem Militärputsch 1980 zu reflektieren. In dem früher vor allem von Armenier_innen und Griech_innen bewohnten Viertel von Yedikule in Istanbul treffen die Geschichten der „alten“ nichtmuslimischen Minderheiten, der kurdischen Bewegung, der „alten“ und der „neuen“ Linken und der Frauenbewegung aufeinander. Beeindruckend gelingt der Autorin unter einem weiblichen Blickwinkel die Schilderung des unterschiedlichen Zusammenlebens der Bewohner_innen in ihrer Vielfältigkeit, ohne dabei in literarische Tourismuswerbung abzugleiten. Im Mittelpunkt stehen die Schwierigkeiten der Generation, die sich nach der umfassenden Zerschlagung der linken und gewerkschaftlichen Strukturen auf die Suche nach Formen von Widerstand macht. Nach den Erfahrungen der Elterngeneration liegt der Schritt in die Illegalität des bewaffneten Kampfes nahe. Hin- und hergerissen zwischen der Isolation, die Leben im Untergrund bedeutet, legalen Protestbewegungen, freiwilligem und unfreiwilligem Exil versuchen Elif, Sema, Rifko alias Haydar und Hasan ihre Sehnsüchte, Lieben und Wünsche lebbar zu machen. Dass Pinar Selek dabei dem feministischen Grundsatz „das Private ist Politisch“ treu bleibt, sorgt für ein ergreifendes Leseerlebnis. Sena Do an
 
Pinar Selek: Halbierte Hoffnungen. Roman. Übersetzt von Sabine Adatepe und Monika Demirel. 395 Seiten, Orlanda Frauenverlag, Berlin 2012 EUR 25,60

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Damen in Romanen

„Damenroman“ nannte der berühmte Literaturkritiker des Modernen Durchbruchs in Skandinavien, Georg Brandes, solche Bücher, wie sie zum Beispiel seine Zeitgenossin und zeitweilige Geliebte Victoria Benedictsson schrieb: Bücher von Frauen über Frauenfiguren, die versuchen eigenständige Lebenswege einzuschlagen. Victoria Benedictsson beging nicht zuletzt wegen der Missachtung ihres literarischen Werkes Selbstmord. Sigrid Combüchen gewinnt 125 Jahre später mit einem „Damenroman“ den begehrten August-Preis. Dabei ist es wohl weniger die reine Handlung von „Was übrig bleibt“, die das Buch besonders macht, sondern der künstlerische Kniff, der diese Handlung in einen Rahmen stellt: die Autorin tritt im Roman als Ich-Erzählerin auf, die von einer Leserin einen Brief erhält. Daraus entwickelt sich eine jahrzehntelange Briefbekanntschaft, die die Autorin dazu nutzt, Inspiration für einen Roman zu gewinnen, der von den Jugendjahren ebendieser Leserin Hedda handelt. Ein Erwachsenwerden in den 1930er Jahren, zwischen Konventionen und Aufmüpfigkeit, zwischen familiären Zwängen und erster erotischer Abenteuer. Detailreich zeichnet die Autorin das Leben von Hedda als Schülerin in Lund und später als Studentin einer „Modeakademie“ in Stockholm, das absolut authentisch wirkt. Ein sehr schöner Ferienschmöker. ESt
 
Sigrid Combüchen: Was übrig bleibt. Ein Damenroman. Übersetzt von Paul Berf. 494 Seiten, Verlag Antje Kunstmann, München 2012 EUR 25,60

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Fühl es innig und tief

„Ich nannte ihn Krawatte“ ist die feinfühlige Erzählung einer Begegnung. Auf einer Parkbank treffen zwei Menschen aufeinander, die jeder für sich aus der Zeit gefallen scheinen. Sie verbringen ihre Tage auf einer Bank sitzend, seit jeher, wie es scheint, bis zu dem Moment, wo sie sich wechselseitig in den Blick geraten. „Ich war aus meiner Unbemerktheit gefallen, aus meinem Gehäuse.“ Die Anwesenheit des jeweils anderen erzwingt die Wiederherstellung von Bedeutung, für die ihnen gleichsam die Kraft gefehlt zu haben schien. Das Warten selbst wirkt nun als Bekenntnis, dem die Sprache keinen weiteren Schaden zufügen kann. Also erfahren wir quasi beiläufig von ihren Geschichten: Ein arbeitsloser Salaryman und ein junger Hikikomori (Schulschwänzer), einer der in Japan zahlreichen inneren Aussteiger. Sie treffen sich am Punkt eines nicht aufrecht zu erhaltenden Scheiterns. „Es war, als ob die Tränen, die ich geweint hatte, einen trüben Schleier von meinen Augen genommen hatten, und mein Ich kann nicht mehr! war dahinter zu einer Frage geworden: Was kann ich tun?“ Der Autorin gelingt eine ebenso eindrückliche wie luftige Darstellung des Übergangs zwischen Scham und Trauer und der Verpflichtung, die aus den zufälligen Dingen erwächst. Die Ordnung, in der wir die anderen bemerken, entzieht sich unserem Willen, Entscheidung tritt immer erst nachträglich hinzu. „Wenn es irgendetwas für dich zu lernen gibt, dann nur, dass du dich nicht schämen sollst. Schäm dich nur ja nicht davor ein Mensch mit Gefühlen zu sein. Egal, was es ist, fühl es innig und tief. Fühl es noch ein bisschen inniger, fühl es noch ein bisschen tiefer. Fühl es für dich, fühl es für den anderen. Und dann: Lass es gehen.“ Miriam Wischer
 
Milena Michiko Flasar: Ich nannte ihn Krawatte. Roman. 140 Seiten, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2012 EUR 17,40

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Mit allen Sinnen

Sequels sind ja leider oft nur mehr vom Selben und lassen allzu oft echt gute Geschichten kläglich in Teil X verenden. Nicht so „Mein lesbisches Auge“, das lesbischen Sex und lesbisches Begehren zum elften Mal facettenreich präsentiert. Das Interesse am jeweils nächsten Band zu erregen, gelingt wohl zum einen durch die thematische Vielfalt der Bände – diesmal unter anderem: Geschichten über den ersten lesbischen Kuss, darüber, wie Sex gelernt wurde und über die Rolle von Aussehen und Schönheit für Lesben. Zum anderen verfallen die diesmal versammelten Autor*innen und Künstler* innen auch im elften Band selten in banale und damit nervende Beschreibungen. Auch vermittelt die Mischung an Darstellungsformen wie Texten, Fotos, Cartoons und gemalten Bildern ein Gefühl für die reale Vielfältigkeit lesbischer Körperlichkeit, Begehrensformen und Sexualitäten, aus der zunehmend auch Alter als Thema nicht ausgespart und auch Körperbehaarung wieder – wenn auch nur vereinzelt – der sichtbar gemachten Realität hinzufügt wird. „Mein lesbisches Auge 11“ zeigt lesbisches Begehren zwischen politischen Ansprüchen, Normalisierung, ungezähmter Wildheit und was immer auch gefällt/missfällt. Der Band bietet der Leser*in eine Auswahl an Bildern und Themen, die auch Gesprächen mit Freund*innen und Geliebten zuweilen noch mehr Würze verleihen. Viel Spaß und anregende Stunden! Roswitha Hofmann
 
Mein lesbisches Auge 11. Das lesbische Jahrbuch der Erotik. Hg. von Laura Méritt. 288 Seiten, konkursbuch Verlag Claudia Gehrke, Tübingen 2012 EUR 16,00

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Magische Nächte

Eines Tages steht Yumikos Cousin Shÿichi überraschend vor der Tür ihrer schäbigen kleinen Wohnung in Tÿkyÿ und bietet an, sich um sie zu kümmern. In den letzten Tagen ihres Lebens hatte seine Mutter immer wieder von Yumiko gesprochen und ihn gebeten, ihr zu helfen. Weder Yumiko noch Shÿichi wissen, was der Grund für die scheinbar plötzliche Sorge der Tante war und so machen sie sich gemeinsam daran, den Spuren der Vergangenheit zu folgen. In ihrer gewohnt klaren, ruhigen Sprache setzt sich Banana Yoshimoto wie in ihren anderen Büchern auch in „Ihre Nacht“ mit komplexen Themen wie Liebe, Gewalt, Tod und nicht zuletzt der Versöhnung mit der Vergangenheit auseinander. Zentral ist die vorsichtige Annäherung Yumikos und Shÿichis durch das gemeinsame Wiedererleben und Wiederfinden traumatischer, aber auch glücklicher Kindheitserfahrungen in einer Welt voller Magie. Banana Yoshimoto ist eine Autorin, die es vermag, mit wenigen Worten und alltäglichen Gesprächen tiefe Gefühle zu vermitteln. Paula Bolyos
 
Banana Yoshimoto: Ihre Nacht. Roman. Übersetzt von Thomas Eggenberg. 207 Seiten, Diogenes, Zürich 2012 EUR 19,50

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Was denkst du?

Das auf Englisch erschienene „The things I am thinking while smiling politely“ ist der Start einer Serie, die in der edition assemblage geplant ist: „Witnessed“ – Schwarze Autor_innen schreiben über ihr Leben in Deutschland. Genau das ist der Punkt des Buches: Alltägliche Begebenheiten – aus Sicht einer Schwarzen, feministisch und antirassistisch aktiven Frau. Die Fragen, die sie anhand einer Trennungsgeschichte nicht nur sich, sondern auch der Umgebung, den Leser_innen, der Gesellschaft stellt: Was bedeutet es, mit Kindern plötzlich allein zu sein, mit denen eine manchmal gar nichts anfangen kann, obwohl eine Mutter so etwas natürlich nicht sagen darf? Wie kommt eine/r als Elternteil damit klar, zum ersten mal den rassistischen Übergriff auf das eigene Kind mitzuerleben? Wie verträgt es eine Mutter, dass ihre Tochter Rassismen so viel besser und selbstbewusster dissen kann, als sie selbst? Und wie würde sie gerne reagieren? Wie fühlt es sich an, für eine andere Frau verlassen zu werden? Wie gehen Kinder damit um? Und eine (auch für die Rezensentin nicht unerhebliche) Erfahrung: Wie oft erträgt eine, dass ihr Name immerzu falsch ausgesprochen wird? In Puzzlestücken, sagt Sharon Dodua Otoo, hat sie diese Novelle geschrieben. Bits and Pieces, aus denen der Alltag der Protagonistin besteht, Alltag in einem Land, in dem auch Isolationshaft und Abschiebungen an der Tagesordnung sind, während das Volk um einen toten Eisbären trauert. Mir zumindest kann das höfliche Lächeln da schon mal vergehen. Paula Bolyos
 
Sharon Dodua Otoo: the things i am thinking while smiling politely. Novelle in englischer Sprache. 104 Seiten, edition assemblage, Münster 2012 EUR 13,20

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Dorn

Pippa Dorn wusste immer, dass ihre Großeltern Nazis waren, Mitläufer_innen, solche, die sich eben mit den Zuständen zufriedengegeben, sich eingerichtet haben. Dass die Großmutter Philippa, deren Namen sie trägt, und auch der Großvater überzeugte Nationalsozialist_innen waren, die von Zwangsarbeit profitiert und sich nie damit auseinandergesetzt hatten, erfährt sie erst, als Philippa stirbt. Im Krankenzimmer Nummer 9, in dem Bruchstücke von Erinnerungen auf die alte Frau einstürzen, wartet Pippa, die queerfeministische, antifaschistische Aktivistin und beginnt langsam zu begreifen. Und sich selbst zu bemitleiden. Und schließlich – zurück in Wien – sich mit der Vergangenheit produktiv auseinanderzusetzen. Das Thema des Romans ist der Umgang der deutschen/ österreichischen Enkelgeneration mit der Täter_ innenschft ihrer Großeltern. Jene – nicht nur Pippa – die in ihrem eigenen vorbildlichen Antifaschismus plötzlich von der Vergangenheit der Familie eingeholt werden, mit der sie irgendwie nicht gerechnet haben. Lilly Axster beschreibt manchmal ein wenig zynisch, aber auch sehr liebevoll die Kämpfe, die Pippa mit sich selbst und mit anderen – nicht zuletzt der toten Großmutter – zu führen hat, während sie nach dem richtigen Umgang mit ihrer Familiengeschichte sucht. Ein absoluter Lesetipp. Außerdem: Es ist einfach wunderbar, ein Buch in gendergerechter Sprache zu lesen. Paula Bolyos
 
Lilly Axster: Dorn. Roman. 125 Seiten, Zaglossus, Wien 2012 EUR 12,95

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