Tala, eine in London lebende christliche Palästinenserin
aus reichem jordanischem Hause,
ist zum vierten Mal verlobt. Familie und
Freund_innen sind äußerst gespannt, ob Tala dieses
Mal heiraten wird. Ihr Verlobter Hani ist gebildet,
erfolgreich und weltoffen. Die beiden verbindet
nicht nur ihre Liebesbeziehung, sondern auch
eine tiefe Freundschaft. Einige Wochen vor der
Hochzeit lernt Tala die neue Freundin von Ali kennen.
Leyla arbeitet in der Versicherungsfirma ihres
Vaters und ist eine talentierte Schriftstellerin indischer
Herkunft und muslimischen Glaubens, die
Tala vom ersten Augenblick an gefangen nimmt.
Die beiden treffen sich so oft wie möglich. Können
sie ihre Gefühle füreinander zulassen? Wie würden
die Familien reagieren? Wird Tala Hani heiraten?
Shamin Sarif erzählt eine Geschichte orientalischindischen
Lebens, die nicht die üblichen Klischees
und Stereotypien bedient. Ihre Protagonistinnen
sind selbstbewusste und erfolgreiche Frauen, die
mit ebenbürtigen Männern liiert sind. Die Familienangehörigen
sind kulturell vielfältig gezeichnet
und vertreten unterschiedliche politische Ansichten.
Mitten ins Herz ist nicht nur ein Liebesroman,
sondern behandelt auch Generationenkonflikte
und eine lebhafte Auseinandersetzung mit
Werten und Normen in der Familie. Die inhaltliche
Vielfalt dieses Buches hilft über so manche stilistische
Schwäche hinweg und ermöglicht der Leserin
somit eine anregende Lektüre.
Surur Abdul-Hussain
Shamin Sarif: Mitten ins Herz. I can‘t think straight. Roman.
Übersetzt von Andrea Krug. 202 Seiten, Krug & Schadenberg,
Berlin 2012 EUR 17,40
Dies ist die Geschichte von Katja und Irina.
Katja ist Deutsche, gerade aus Afrika zurückgekehrt
von einem fünfjährigen Job als Auslandskorrespondentin
für einen Fernsehsender. Sie findet
sich schwer wieder im Alltag ein, ihr neuer Job
erscheint sinnlos, die alten Freundinnen sind entfremdet,
ihre Schwester ist beruflich erfolgreich
und hat eine tolle Familie. Katja hingegen kann sich
schwer auf jemanden einlassen.
Irina ist als Au-Pair aus Russland geflohen, vor ihrer
homophoben Familie und einen Scherbenhaufen
ihrer großen Liebe zurücklassend. Sobald sich
Irina und Katja zum ersten Mal sehen, ist eigentlich
klar, dass sie einander völlig verfallen sind. Doch
viele bange und spannende Buchseiten und einen
brutalen Schicksalswink dauert es, bis Katja sich erlaubt,
mit Irina zu sein und die Liebe zwischen den
beiden zuzulassen. Als Katja endlich ihre eigene
Mauer niederreißt, ist Irina überglücklich und
schließlich auch bereit, ihr eigenes Leben wieder in
die Hand zu nehmen. Der Roman beschäftigt sich
schlussendlich mit der interessanten Frage, ob es
sinnvoll ist, sich immer wieder auf jemand Neuen
und eine neue Beziehung einzulassen, oder ob es
nicht zu schmerzhaft ist, immer wieder in letztlich
zum Scheitern verurteilte Beziehungen zu investieren.
Oder sollte eine tatsächlich an eine dauerhafte
Liebe glauben?
Karin Schönpflug,
für die Lesbenberatungsbibliothek im Lila Tipp
Carolin Schairer: Aprikose im Kopf. Roman. 296 Seiten,
Ulrike Helmer Verlag, Sulzbach/Taunus 2011
EUR 20,50
Der Erstlingsroman von Claudia Lewin versetzt
wohl manche Leser_in in die harte Zeit
ihres Coming-Outs. In jene Zeit, als vielleicht bereits
alles mit Mann und Kind(ern) auf Schiene
schien und keine großen Veränderungen im Leben
mehr zu erwarten waren. Die Autorin zeichnet mittels
fast lyrischer Sprache und feiner Beobachtungsgabe
die emotionale Zerrissenheit, Sehnsüchte
und Begierden nach, die frau erfassen, wenn eine
begehrenswerte Frau in ihr Leben tritt.
Bemerkenswert an diesem Roman ist die Erzählweise,
denn die Geschichte Annes und Benitas wird
von mehreren Personen aus ihren jeweiligen Perspektiven
heraus erzählt Freundinnen, Mütter,
Arbeitskolleginnen. Ergebnis ist eine Vielschichtigkeit
der Erzählung, die leider so mancher anderen
Coming-Out-Story fehlt. Ein Buch für alle, die gerade
eine ähnliche Situation erleben, vor Dramen
keine Angst (mehr) haben oder sich vielleicht mal
wieder an die eigene Geschichte erinnern wollen.
Roswitha Hofmann
Claudia Lewin: In mir ein Meer. 160 Seiten, Ulrike Helmer
Verlag, Sulzbach/Taunus 2012 EUR 13,40
Elena, attraktive Argentinierin und Tangolehrerin,
begibt sich wieder auf die Suche nach
der Geschichte ihrer Tante Mari. Sie kehrt soeben
nach einem einjährigen Aufenthalt aus Las Palmas
nach Buenos Aires zurück und steht vor den Trümmern
ihrer 7-jährigen Beziehung mit Caridad.
Nachdem einige Hindernisse überwunden wurden,
kommt auch Ines, Tochter deutscher und spanischer
Eltern und in Deutschland aufgewachsen, zu
einem Wiedersehen mit Elena nach Buenos Aires.
Viele Steine müssen aus dem Weg geräumt werden,
bevor Elena und Ines sich endlich in den Armen liegen
können.
Die Vorgängerlektüre ist sicherlich empfehlenswert,
aber auch ohne Tango mit Ines sind die Beweggründe
der Protagonistinnen und die Zusammenhänge
verständlich. Am Rande wird die Lage in Argentinien
beleuchtet. Durch einfache Sprache, ein
wenig oberflächliche Charaktere und überschaubaren
Plot ist dieser Roman eine kurzweilige Lektüre
für die U-Bahn oder einen faulen Tag im Bett.
Beate Foltin
Bettina Isabel Rocha: Buenos Aires, mi amor. 340
Seiten, Krug & Schadenberg, Berlin 2011 EUR 16,90
Virginie Despentes, bekannt durch ihr Erstlingswerk
Baise-moi (Fick mich), legt wieder
mal ein Buch vor, das provoziert. Die Handlung:
Tochter aus reichem Haus (Valentine) verschwindet,
glücklose unterbezahlte Privatdetektivin
(Lucy) wird auf sie angesetzt, sucht sich Unterstützung
bei zwielichtiger Figur (die Hyäne),
Tochter wird gefunden, es gibt aber kein HappyEnd. Die Suche nach Valentine führt Lucy und die
Hyäne quer durch Paris und Barcelona, durch arabische
Vorortarmut, Treffpunkte der extremen
Rechten und Linken, radikale Nonnenklöster etcetera.
Despentes lässt kaum was aus mit ihrer spitzen
Feder: Heteronormativität, Pädophilie, S/M-Sex
als einzige mögliche sexuelle Erfüllung von perfekten
Heterofrauen, Klassenarroganz, Opus Dei, radikaler
Islamismus alles wird in einem schnoddrigprovokativen
Stil verrissen. Gewalt ist offenbar ein
Lieblingsthema von Despentes eigentlich sind alle
Figuren mehr oder weniger gewalttätig, und immer
wieder schimmert eine positive Einstellung zu
Gewalt durch, die ein etwas ungutes Gefühl bei der
Lektüre hinterlässt: Eine politische Bewegung wird
erst anerkannt, wenn sie Menschenleben gekostet
hat. Sonst ist es Feminismus: ein Hobby für ausgehaltene
Frauen. Gewalt ist nötig. Sonst hört niemand
zu.
Das Buch erfordert einen guten Magen und Zeit
zum Durchdenken, interessant geschrieben und lesenswert
ist es allemal. gam
Virginie Despentes: Apokalypse Baby. Roman. Übersetzt
von Dorit Gesa Engelhardt und Barbara Heber-Schärer.
383 Seiten, Berlin Verlag, Berlin 2012 EUR 20,50
Als Tochter eines indischen Mittelschichtsehepaares
wächst die knapp 17-jährige Anamika
Sharma behütet und gefördert im Delhi der 1990er
Jahre auf. Ihrem Alltag entsprechend ist sie mit
Schule, LehrerInnen, Eltern beschäftigt und zeigt
sich interessiert am politischen Geschehen in Indien.
Ziemlich plötzlich verliebt sie sich in die Mutter
eines Schülers und beginnt mit ihr eine leidenschaftliche
Affäre, erlebt Lust, Sex und heimliche
Freiheit. Dies geschieht sehr bald parallel zu einer
weiteren Affäre, diesmal mit der gesellschaftlich
weitgehend rechtlosen Hausbediensteten Rani.
Und im Überschwang der Gefühle, der Begeisterung
und der Überzeugung, alles sei (ihr) möglich,
nähert sie sich auch ihrer Schulfreundin Sheela an.
Anamika liebt ihre eigene Forschheit, diese drei
Frauen und die Physik, mit der sie sich immer wieder
in teils abenteuerlichen Theorien die Welt und
ihr Funktionieren erklärt. Die erzählte Geschichte
wird zunehmend spannend, Zukunftsfragen, Zugehörigkeit,
Erwachsenwerden und Identitäten
werden zum Thema. Den Sprachstil einer fiktionalen
17-jährigen fand ich gewöhnungsbedürftig,
aber anschaulich. mel
Abha Dawesar: Die Physik des Vergnügens. Übersetzt
von Nicole Alecu de Flers. 404 Seiten, Zaglossus, Wien
2011 EUR 19,95
Hier ist die Fortsetzung zu Allah und der Regenbogen!
Regenbogenlicht bietet die gute
Gelegenheit zum Wiedersehen mit Ebru, Tarek, Lea
und Mona. Was ist aus Ebru geworden, seit sie ihre
traditionell lebende türkische Familie verlassen
hat und nach Wien gezogen ist, um offen als Lesbe
die Szene unsicher zu machen? Wie ist es für ihren
Bruder Tarek weitergegangen, hat er seine große
Liebe Lea vergessen oder kommen die beiden gegen
den Widerstand seiner Eltern, trotz Leas beiden lesbischen
Müttern wieder zusammen?
Tarek droht mittlerweile eine arrangierte Ehe, die er
ohne die Ehre der Familie zu gefährden, kaum abwenden
kann. Ebru scheint sich in herzlose Liebschaften
zu verstricken, um Mona zu vergessen und
letztlich droht ein geplanter Supermarktraubüberfall
das Leben der beiden Geschwister völlig zu zerstören.
Für Spannung ist gesorgt, aber auch für eine
Auseinandersetzung mit Lösungsmöglichkeiten
in schwierigen Lebenssituationen.
Kleine störende Stereotype lenken zwar manchmal
beim Lesen ab, aber wieder schafft es Ulrike Karner,
die Leserin mit ihrer Geschichte in den Bann zu ziehen
und die Schwierigkeiten des Zusammenseins
der aus unterschiedlichen sozio-kulturellen Bereichen
stammenden Romanfiguren lebendig zu bebildern.
Manchmal ein bisschen zu wenig mutig, trotz
hochgehaltener Arme auf der Achterbahn! Karin Schönpflug,
für die Lesbenberatungsbibliothek im Lila Tipp
Ulrike Karner: Regenbogenlicht. Roman. 290 Seiten,
Ulrike Helmer Verlag, Sulzbach/Taunus 2011 EUR 20,50
Ich sitze im Flugzeug nach Ohio, im Handgepäck
Peggy Munsons erotisches Roadmovie und irgendwo
weit weg, in San Francisco, gießen Lesben Silikon
in Dildoformen und denken kein bisschen an
Schwänze. Endlose Landschaften, rauer Sex, aufgeladene
Atmosphäre und handfeste Umdeutungen
in Butch/Femme Erzählungen, die in ihrer Perspektive
weiter uneindeutig bleiben. Ein AmishMädchen sagt, wo es lang geht, eine eindringende
Rundfahrt im Rollstuhl über den Rummelplatz,
Daddy-Butches und Eau-de-Pussy-Duft…
Schwindlig ist mir beim Rückflug, von zu wenig
Schlaf, dem halben Glas Wein, das Delta herausgerückt
hat, und Munsons subtil-brachialem, vielschichtig
affektivem super-queering. Bedeutungen
drehen sich dreimal in einem Satz, Sprache öffnet
sich und wohlige Wellen verbinden beim Lesen
Bauch- und Kopfgefühl. Die Bar in Cleveland, in
der ich sie traf, lese ich, war meistens knallvoll
mit Lesben, aber ich spürte die Beule an meinem
Arsch, als ich mich zwischen einer Truppe Butches
durchzwängte. In dem Moment höre ich das charmant
vorgebrachte Angebot der Flugbegleiterin cigarettes,
liquor for mothers day! und mein breites
Grinsen fühlt sich allumfassend glücklich an.
andronja
Peggy Munson: Die Nacht, als die Welt sich auflöste.
Erotische Erzählungen. Übersetzt von van Rijn. Literarische
Bearbeitung von Regina Nössler. 251 Seiten, konkursbuch
Verlag Claudia Gehrke, Tübingen 2012 EUR 12,40
Sequels sind ja leider oft nur mehr vom Selben
und lassen allzu oft echt gute Geschichten
kläglich in Teil X verenden. Nicht so Mein lesbisches
Auge, das lesbischen Sex und lesbisches Begehren
zum elften Mal facettenreich präsentiert.
Das Interesse am jeweils nächsten Band zu erregen,
gelingt wohl zum einen durch die thematische Vielfalt
der Bände diesmal unter anderem: Geschichten
über den ersten lesbischen Kuss, darüber, wie
Sex gelernt wurde und über die Rolle von Aussehen
und Schönheit für Lesben. Zum anderen verfallen
die diesmal versammelten Autor*innen und Künstler*
innen auch im elften Band selten in banale und
damit nervende Beschreibungen. Auch vermittelt
die Mischung an Darstellungsformen wie Texten,
Fotos, Cartoons und gemalten Bildern ein Gefühl
für die reale Vielfältigkeit lesbischer Körperlichkeit,
Begehrensformen und Sexualitäten, aus der zunehmend
auch Alter als Thema nicht ausgespart und
auch Körperbehaarung wieder wenn auch nur
vereinzelt der sichtbar gemachten Realität hinzufügt
wird. Mein lesbisches Auge 11 zeigt lesbisches
Begehren zwischen politischen Ansprüchen,
Normalisierung, ungezähmter Wildheit und was
immer auch gefällt/missfällt. Der Band bietet der
Leser*in eine Auswahl an Bildern und Themen, die
auch Gesprächen mit Freund*innen und Geliebten
zuweilen noch mehr Würze verleihen. Viel Spaß
und anregende Stunden!
Roswitha Hofmann
Mein lesbisches Auge 11. Das lesbische Jahrbuch der
Erotik. Hg. von Laura Méritt. 288 Seiten, konkursbuch Verlag
Claudia Gehrke, Tübingen 2012 EUR 16,00
Geschrieben für dich zeichnet in zarten, bezaubernden
Bildern die Geschichte einer ersten
Liebe. Flannery, Studentin im ersten Semester,
begegnet ihr in einem Café. Für sie ist es Liebe auf
den ersten Blick. Für Anne, die um einiges älter ist
und Flannerys Tutorin, ist es Begehren auf den ersten
Blick. Die Beziehung der beiden beginnt mit
einem Gedichtband von Marilyn Hacker, den Anne
Flannery schenkt und einem von Flannery selbst
geschriebenen Gedicht als Antwort. Worte spielen
eine wichtige Rolle zwischen den beiden, obwohl
vieles ungesagt bleibt. Flannery spürt von Anfang
an, dass es eine Seite gibt, die Anne ihr nicht zeigen
will. Das Ende beginnt in einem Urlaub in Florida,
den Anne geplant hat und Flannery eigentlich nie
wollte. Wäre die Geschichte anders verlaufen,
wenn sie nach Paris gefahren wären, so wie Flannery
es sich gewünscht hat?
Das 2005 im Verlag Krug & Schadenberg erschienene
Buch gibt es nun neu als Taschenbuch in der
Reihe k&s classic. Welche es noch nicht gelesen
hat, sollte dies unbedingt tun und auch wieder lesen
lohnt sich! vab
Sylvia Brownrigg: Geschrieben für dich. Roman. 287
Seiten, Krug & Schadenberg, Berlin 2012 EUR 17,40
Die Ich-Erzählerin Natalie ist mit der Neuübersetzung
von Anton Tschechows Drama
Drei Schwestern beauftragt, jedoch kommt ihre
Arbeit ebenso wenig voran wie die Bestrebungen
der tschechowschen Protagonistinnen. Immer
drängender wird die Aufforderung an die Erzählerin,
doch endlich tätig zu werden, die Trägheit zu
überwinden, vom Denken zum Tun zu gelangen.
Rasch ist erkennbar, dass es nicht um die Übersetzungsarbeit
geht, sondern um einen größeren Zusammenhang.
Nicht umsonst wird mehrmals auf
Lenins Hauptwerk aus dem Jahr 1902 angespielt,
das die Schlüsselfrage im Titel trägt: Was tun?
Während die Personen in Tschechows fatalistischem
Drama zumindest vordergründig Belanglosigkeiten
von sich geben und fortgesetzt aneinander
vorbeireden, kommt die Erzählerin in diesem
essayhaften Monolog durchaus zur Sache. Betrachtet
werden die Eltern- und Großelterngeneration,
die schwäbische Heimat Natalies und das Verhältnis
zu Heimat an sich, Körperkult und verschwundene
Liebe, der Nutzen von Utopie und Hoffnung.
Gabriele Riedle zeichnet ein überaus treffendes Bild
einer Generation, die sich in den 1970er Jahren
ihren Platz im Bildungsbürgertum erkämpft und
der kleinhäuslerischen Spießigkeit der Eltern ihre
linken Ideale entgegengesetzt hat, dann aber nie
vom bloßen Zuschauer zu einem Subjekt der Geschichte
geworden ist.
Unbedingt empfehlenswert ist die Lektüre nicht
nur wegen der scharfsichtigen und sprachlich belebenden
sowie mit Anspielungen auf die russische
Literatur reich bestückten Anamnese unserer Gesellschaft
und des Einzelnen. Die titelgebende Diagnose,
dass wir zu überflüssigen Menschen im Sinne
untätiger, träger oder hilfloser ZuschauerInnen
gesellschaftlicher und politischer Vorgänge geworden
sind, sollte uns zum Denken und Handeln anregen.
Helga Lackner
Gabriele Riedle: Überflüssige Menschen. 239 Seiten,
AB Die andere Bibliothek, Berlin 2012 EUR 32,90
Diesem ersten Roman von Margherita Oggero
ist deutlich anzumerken, dass sie seit einigen
Jahren höchst erfolgreich Krimis schreibt: Er ist
sehr spannend geschrieben und verweist mit jedem
Detail auf neue Geheimnisse und Bezüge. Die Geschichte
beginnt von hinten, dem Ergebnis, dass
die 13-jährige Imma bei ihrer Tante Rosaria im
Norden Italiens versteckt lebt. Kapitel für Kapitel
wird von Personen, Orten, Leben erzählt, von denen
lange unklar bleibt, ob und wie sie miteinander
in Verbindung stehen. Mit klaren ruhigen Bildern
ist von einem süditalienischen Dorf nahe Neapel
die Rede, das Aufwachsen der Töchter und Söhne,
Beziehungen, Verheiratungen, Berufe, Häuser
und hinter jeder Ecke gestaltet die Mafia bedrohlich
und unentrinnbar den Alltag mit. Mit hoher Aufmerksamkeit
für den engen Handlungsspielraum
der Frauen erzählt Oggero von bitterer Armut, von
Ausbeutung und Gewalt, von Freiheitswünschen
und Unterstützern. Imma beobachtet unterdessen
tagelang die Straße und freut sich über die steinerne
Stunde, wenn sich dort für Sekunden nichts
tut oder bewegt. Sie wagt den gefährlichen Kontakt
mit dem Außen, mit Paolo, wagt es, geheim Bücher
kaufen zu gehen und zu lesen, was als Parabel für
Befreiungen steht. Doch diese Freiheitsperspektiven
sind vielschichtig und unwägbar hinsichtlich
ihrer Realisierbarkeit. Irgendwann wird ersehnterweise
klar, warum Imma versteckt lebt, es wird
nochmal richtig spannend und zu einer großen Erzählung
über Italiens Gegenwart, die Frauen, Männer
und den Staat.
mel
Margherita Oggero: Der Duft von Erde und Zitronen.
Roman. Übersetzt von Peter Klöss, 312 Seiten, Deutsche
Verlags-Anstalt, München 2012 EUR 20,60
Der Roman erzählt Teile der Legende, als die
tapferen Krieger des Bergdorfes Khonoma im
Nordosten Indiens den Briten in mehreren blutigen
Schlachten über Jahrzehnte hinweg, letztlich aber
vergeblich, Widerstand leisteten. Die Erzählung
spielt zwischen ca. 1830 und 1880, und die europäische
Geschichtsschreibung kennt die Namen
der befehlenden britischen Offiziere der kolonialistischen
Eroberungskriege, die einen Teil des Rahmens
bilden. Im Roman selbst indes kommt die
Schlacht nur am Rande vor. Ausführlich geschildert
werden hingegen die Vorbereitungen der Krieger
des Stammes des Volks der Naga. Die Hauptperson
Levi wird im Zuge der ersten großen dieser
Schlachten von den Briten verhaftet, eingekerkert
und kehrt erst nach mehreren Jahren der Haftstrafe
in sein Dorf zurück. Er sieht zwar sein Dorf nun
mit etwas anderen Augen, fügt sich aber wieder in
die alten Strukturen ein, er ist ein berühmter Krieger
geworden, heiratet, seine Frau bekommt zwei
Kinder, die sich unterschiedlich entwickeln. Seine
Mutter stirbt… Die Erzählung ist nicht ganz leicht
zu lesen, was möglicherweise damit zusammenhängt,
dass die darin handelnden Personen zwar
Namen tragen, aber noch keine bürgerlichen Individuen
sind, sondern Menschen, die in (stark patriarchal)
geprägten Clanstrukturen leben und sich
in ihrem Handeln nach Sitten, Tabus (vorchristlich)
religiösen Vorschriften und nicht nach ihren persönlichen
Bedürfnissen richten. Die Beschreibung
von rituellen Handlungen und Festen nimmt dementsprechend
relativ großen Raum ein.
Die Autorin selbst entstammt dem Volk der Naga,
die trotz des Kolonialismus auch heute noch Teile
ihrer Eigenständigkeit bewahren konnten, und daher
immer wieder von der indischen Zentralregierung
durch Assimilationsbestrebungen und Repression
bedroht sind.
Wanda Grünwald
Easterine Iralu: Khonoma. Erinnerungen an ein Dorf der
Naga. Roman. Übersetzt von Helmuth A. Niederle. 208 Seiten,
Löcker, Wien 2011 EUR 19,80
Julia Francks neuer Roman handelt von dem
Geschwisterpaar Ella und Thomas, das in OstBerlin bei der leiblichen Mutter, einer Bildhauerin,
aufwächst. Im Wesentlichen sind diese Jahre des
Heranwachsens geprägt von sexueller und emotionaler
Gewalt. Beide Geschwister verarbeiten die ihnen
angetanen Grausamkeiten mit unterschiedlichen
Verhaltensmustern. Die Beschädigungen sind
so hartnäckig, dass es auch am Lebenswillen mangelt.
Ella flüchtet phasenweise in eine Phantasiesprache
und Thomas schreibt Gedichte, die auf wenig
Gehör stoßen. Warum die Geschichte in die
DDR der 1950er und -60er Jahre gepflanzt wird,
lässt sich nicht klären. Dass auch ein ehemaliges
KZ-Opfer oder ein Stasimitarbeiter Missbrauchstäter
sein können, ist der Autorin nicht unbedingt
vorzuwerfen. Es bleibt der Leserin überlassen, wie
sie die unterschiedlichsten Szenen von sexuellem
Missbrauch, die sehr deutlich von der Autorin konstruiert
werden, verdaut. Die naturalistische Erzählweise
ist äußerst beklemmend und die Geschichte
mündet schließlich in eine Katastrophe.
Der Roman kann nur Leser_innen empfohlen werden,
die resistent sind, sich nicht vor einem allzu
psychisch anstrengenden Leseerlebnis scheuen und
den Glauben an eine bessere Welt noch nicht verloren
haben.
Antonia Laudon
Julia Franck: Rücken an Rücken. Roman. 380 Seiten,
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2011 EUR 20,60
In ihrem Debütroman ohnegrund erzählt
Schulamit Meixner die Geschichte der jungen
Jüdin Amy, welche sich auf eine Reise nach Tel Aviv
begibt, um dort zu studieren und ihr eigenes Leben
zu beginnen. Etwas unschlüssig und orientierungslos
blickt sie ihrer neuen Umgebung entgegen. Auf
der Suche nach einer Wohnmöglichkeit lernt sie
den Psychologiestudenten Nimrod kennen, verliebt
sich in ihn und gründet eine Familie. Der jüdische
Hintergrund der Protagonistin wird dabei nicht
außer Acht gelassen. Amy scheint oftmals hin- und
hergerissen zu sein zwischen ihren jüdischen traditionellen
Wurzeln und dem gegenwärtigen Leben
im modernen Israel. Was anfangs wie ein einfacher
Familienroman anmutet, entwickelt sich zu einer
komplexen Erzählung mit mehreren Ebenen und
Perspektiven: steht da einerseits die Beziehung zwischen
ihr und Nimrod und jene zu ihrer Familie im
Vordergrund, werden auf der anderen Seite gesellschaftliche
und sozialpolitische Geschehnisse und
Probleme mittels Tagebucheinträgen skizziert. In
Rückblenden und Parallelepisoden versucht Meixner
ein kompaktes Bild einer zerstreuten Familie zu
geben und führt die Leser_innen mit psychologischem
Feingefühl durch die Seelenzustände ihrer
Figuren.
Katrin Rohrbacher
Schulamit Meixner: ohnegrund. Roman. 191 Seiten,
Picus Verlag, Wien 2012 EUR 19,90
Pinar Selek hat ihren unfreiwilligen Aufenthalt
in Deutschland in der Türkei läuft trotz mehrerer
Freisprüche weiterhin ein Verfahren gegen sie
dazu genutzt, in einem Roman die Geschichte der
linken Bewegung in der Türkei nach dem Militärputsch
1980 zu reflektieren.
In dem früher vor allem von Armenier_innen und
Griech_innen bewohnten Viertel von Yedikule in
Istanbul treffen die Geschichten der alten nichtmuslimischen
Minderheiten, der kurdischen Bewegung,
der alten und der neuen Linken und der
Frauenbewegung aufeinander. Beeindruckend gelingt
der Autorin unter einem weiblichen Blickwinkel
die Schilderung des unterschiedlichen Zusammenlebens
der Bewohner_innen in ihrer Vielfältigkeit,
ohne dabei in literarische Tourismuswerbung
abzugleiten.
Im Mittelpunkt stehen die Schwierigkeiten der
Generation, die sich nach der umfassenden Zerschlagung
der linken und gewerkschaftlichen
Strukturen auf die Suche nach Formen von Widerstand
macht. Nach den Erfahrungen der Elterngeneration
liegt der Schritt in die Illegalität
des bewaffneten Kampfes nahe. Hin- und hergerissen
zwischen der Isolation, die Leben im Untergrund
bedeutet, legalen Protestbewegungen,
freiwilligem und unfreiwilligem Exil versuchen
Elif, Sema, Rifko alias Haydar und Hasan ihre
Sehnsüchte, Lieben und Wünsche lebbar zu machen.
Dass Pinar Selek dabei dem feministischen
Grundsatz das Private ist Politisch treu bleibt,
sorgt für ein ergreifendes Leseerlebnis.
Sena Do an
Pinar Selek: Halbierte Hoffnungen. Roman. Übersetzt
von Sabine Adatepe und Monika Demirel. 395 Seiten, Orlanda
Frauenverlag, Berlin 2012 EUR 25,60
Damenroman nannte der berühmte Literaturkritiker
des Modernen Durchbruchs in
Skandinavien, Georg Brandes, solche Bücher, wie
sie zum Beispiel seine Zeitgenossin und zeitweilige
Geliebte Victoria Benedictsson schrieb: Bücher von
Frauen über Frauenfiguren, die versuchen eigenständige
Lebenswege einzuschlagen. Victoria Benedictsson
beging nicht zuletzt wegen der Missachtung
ihres literarischen Werkes Selbstmord. Sigrid
Combüchen gewinnt 125 Jahre später mit einem
Damenroman den begehrten August-Preis. Dabei
ist es wohl weniger die reine Handlung von Was
übrig bleibt, die das Buch besonders macht, sondern
der künstlerische Kniff, der diese Handlung in
einen Rahmen stellt: die Autorin tritt im Roman als
Ich-Erzählerin auf, die von einer Leserin einen Brief
erhält. Daraus entwickelt sich eine jahrzehntelange
Briefbekanntschaft, die die Autorin dazu nutzt, Inspiration
für einen Roman zu gewinnen, der von
den Jugendjahren ebendieser Leserin Hedda handelt.
Ein Erwachsenwerden in den 1930er Jahren,
zwischen Konventionen und Aufmüpfigkeit, zwischen
familiären Zwängen und erster erotischer
Abenteuer. Detailreich zeichnet die Autorin das Leben
von Hedda als Schülerin in Lund und später als
Studentin einer Modeakademie in Stockholm, das
absolut authentisch wirkt. Ein sehr schöner Ferienschmöker.
ESt
Sigrid Combüchen: Was übrig bleibt. Ein Damenroman.
Übersetzt von Paul Berf. 494 Seiten, Verlag Antje Kunstmann,
München 2012 EUR 25,60
Ich nannte ihn Krawatte ist die feinfühlige
Erzählung einer Begegnung. Auf einer Parkbank
treffen zwei Menschen aufeinander, die jeder
für sich aus der Zeit gefallen scheinen. Sie verbringen
ihre Tage auf einer Bank sitzend, seit jeher, wie
es scheint, bis zu dem Moment, wo sie sich wechselseitig
in den Blick geraten.
Ich war aus meiner Unbemerktheit gefallen, aus
meinem Gehäuse. Die Anwesenheit des jeweils
anderen erzwingt die Wiederherstellung von Bedeutung,
für die ihnen gleichsam die Kraft gefehlt
zu haben schien. Das Warten selbst wirkt nun
als Bekenntnis, dem die Sprache keinen weiteren
Schaden zufügen kann. Also erfahren wir quasi
beiläufig von ihren Geschichten: Ein arbeitsloser
Salaryman und ein junger Hikikomori (Schulschwänzer), einer der in Japan zahlreichen inneren
Aussteiger. Sie treffen sich am Punkt eines nicht
aufrecht zu erhaltenden Scheiterns.
Es war, als ob die Tränen, die ich geweint hatte, einen
trüben Schleier von meinen Augen genommen
hatten, und mein Ich kann nicht mehr! war dahinter
zu einer Frage geworden: Was kann ich tun?
Der Autorin gelingt eine ebenso eindrückliche wie
luftige Darstellung des Übergangs zwischen Scham
und Trauer und der Verpflichtung, die aus den zufälligen
Dingen erwächst. Die Ordnung, in der wir
die anderen bemerken, entzieht sich unserem Willen,
Entscheidung tritt immer erst nachträglich hinzu.
Wenn es irgendetwas für dich zu lernen gibt,
dann nur, dass du dich nicht schämen sollst. Schäm
dich nur ja nicht davor ein Mensch mit Gefühlen zu
sein. Egal, was es ist, fühl es innig und tief. Fühl es
noch ein bisschen inniger, fühl es noch ein bisschen
tiefer. Fühl es für dich, fühl es für den anderen.
Und dann: Lass es gehen.
Miriam Wischer
Milena Michiko Flasar: Ich nannte ihn Krawatte.
Roman. 140 Seiten, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2012
EUR 17,40
Sequels sind ja leider oft nur mehr vom Selben
und lassen allzu oft echt gute Geschichten
kläglich in Teil X verenden. Nicht so Mein lesbisches
Auge, das lesbischen Sex und lesbisches Begehren
zum elften Mal facettenreich präsentiert.
Das Interesse am jeweils nächsten Band zu erregen,
gelingt wohl zum einen durch die thematische Vielfalt
der Bände diesmal unter anderem: Geschichten
über den ersten lesbischen Kuss, darüber, wie
Sex gelernt wurde und über die Rolle von Aussehen
und Schönheit für Lesben. Zum anderen verfallen
die diesmal versammelten Autor*innen und Künstler*
innen auch im elften Band selten in banale und
damit nervende Beschreibungen. Auch vermittelt
die Mischung an Darstellungsformen wie Texten,
Fotos, Cartoons und gemalten Bildern ein Gefühl
für die reale Vielfältigkeit lesbischer Körperlichkeit,
Begehrensformen und Sexualitäten, aus der zunehmend
auch Alter als Thema nicht ausgespart und
auch Körperbehaarung wieder wenn auch nur
vereinzelt der sichtbar gemachten Realität hinzufügt
wird. Mein lesbisches Auge 11 zeigt lesbisches
Begehren zwischen politischen Ansprüchen,
Normalisierung, ungezähmter Wildheit und was
immer auch gefällt/missfällt. Der Band bietet der
Leser*in eine Auswahl an Bildern und Themen, die
auch Gesprächen mit Freund*innen und Geliebten
zuweilen noch mehr Würze verleihen. Viel Spaß
und anregende Stunden!
Roswitha Hofmann
Mein lesbisches Auge 11. Das lesbische Jahrbuch der
Erotik. Hg. von Laura Méritt. 288 Seiten, konkursbuch Verlag
Claudia Gehrke, Tübingen 2012 EUR 16,00
Eines Tages steht Yumikos Cousin Shÿichi
überraschend vor der Tür ihrer schäbigen kleinen
Wohnung in Tÿkyÿ und bietet an, sich um sie
zu kümmern. In den letzten Tagen ihres Lebens
hatte seine Mutter immer wieder von Yumiko gesprochen
und ihn gebeten, ihr zu helfen. Weder Yumiko
noch Shÿichi wissen, was der Grund für die
scheinbar plötzliche Sorge der Tante war und so
machen sie sich gemeinsam daran, den Spuren der
Vergangenheit zu folgen.
In ihrer gewohnt klaren, ruhigen Sprache setzt sich
Banana Yoshimoto wie in ihren anderen Büchern
auch in Ihre Nacht mit komplexen Themen wie
Liebe, Gewalt, Tod und nicht zuletzt der Versöhnung
mit der Vergangenheit auseinander. Zentral ist
die vorsichtige Annäherung Yumikos und Shÿichis
durch das gemeinsame Wiedererleben und Wiederfinden
traumatischer, aber auch glücklicher
Kindheitserfahrungen in einer Welt voller Magie.
Banana Yoshimoto ist eine Autorin, die es vermag,
mit wenigen Worten und alltäglichen Gesprächen
tiefe Gefühle zu vermitteln.
Paula Bolyos
Banana Yoshimoto: Ihre Nacht. Roman. Übersetzt von
Thomas Eggenberg. 207 Seiten, Diogenes, Zürich 2012
EUR 19,50
Das auf Englisch erschienene The things I am
thinking while smiling politely ist der Start einer
Serie, die in der edition assemblage geplant ist:
Witnessed Schwarze Autor_innen schreiben
über ihr Leben in Deutschland.
Genau das ist der Punkt des Buches: Alltägliche Begebenheiten
aus Sicht einer Schwarzen, feministisch
und antirassistisch aktiven Frau. Die Fragen,
die sie anhand einer Trennungsgeschichte nicht nur
sich, sondern auch der Umgebung, den Leser_innen,
der Gesellschaft stellt: Was bedeutet es, mit
Kindern plötzlich allein zu sein, mit denen eine
manchmal gar nichts anfangen kann, obwohl eine
Mutter so etwas natürlich nicht sagen darf? Wie
kommt eine/r als Elternteil damit klar, zum ersten
mal den rassistischen Übergriff auf das eigene Kind
mitzuerleben? Wie verträgt es eine Mutter, dass ihre
Tochter Rassismen so viel besser und selbstbewusster
dissen kann, als sie selbst? Und wie würde
sie gerne reagieren? Wie fühlt es sich an, für eine
andere Frau verlassen zu werden? Wie gehen Kinder
damit um? Und eine (auch für die Rezensentin
nicht unerhebliche) Erfahrung: Wie oft erträgt eine,
dass ihr Name immerzu falsch ausgesprochen wird?
In Puzzlestücken, sagt Sharon Dodua Otoo, hat sie
diese Novelle geschrieben. Bits and Pieces, aus denen
der Alltag der Protagonistin besteht, Alltag in
einem Land, in dem auch Isolationshaft und Abschiebungen
an der Tagesordnung sind, während
das Volk um einen toten Eisbären trauert. Mir zumindest
kann das höfliche Lächeln da schon mal
vergehen.
Paula Bolyos
Sharon Dodua Otoo: the things i am thinking while
smiling politely. Novelle in englischer Sprache. 104 Seiten,
edition assemblage, Münster 2012 EUR 13,20
Pippa Dorn wusste immer, dass ihre Großeltern
Nazis waren, Mitläufer_innen, solche,
die sich eben mit den Zuständen zufriedengegeben,
sich eingerichtet haben. Dass die Großmutter
Philippa, deren Namen sie trägt, und auch der
Großvater überzeugte Nationalsozialist_innen waren,
die von Zwangsarbeit profitiert und sich nie
damit auseinandergesetzt hatten, erfährt sie erst,
als Philippa stirbt. Im Krankenzimmer Nummer
9, in dem Bruchstücke von Erinnerungen auf die
alte Frau einstürzen, wartet Pippa, die queerfeministische,
antifaschistische Aktivistin und beginnt
langsam zu begreifen. Und sich selbst zu bemitleiden.
Und schließlich zurück in Wien sich
mit der Vergangenheit produktiv auseinanderzusetzen.
Das Thema des Romans ist der Umgang der deutschen/
österreichischen Enkelgeneration mit der Täter_
innenschft ihrer Großeltern. Jene nicht nur
Pippa die in ihrem eigenen vorbildlichen Antifaschismus
plötzlich von der Vergangenheit der Familie
eingeholt werden, mit der sie irgendwie nicht
gerechnet haben.
Lilly Axster beschreibt manchmal ein wenig zynisch,
aber auch sehr liebevoll die Kämpfe, die Pippa
mit sich selbst und mit anderen nicht zuletzt
der toten Großmutter zu führen hat, während sie
nach dem richtigen Umgang mit ihrer Familiengeschichte
sucht. Ein absoluter Lesetipp. Außerdem:
Es ist einfach wunderbar, ein Buch in gendergerechter
Sprache zu lesen.
Paula Bolyos
Lilly Axster: Dorn. Roman. 125 Seiten, Zaglossus,
Wien 2012 EUR 12,95