LiteraturwissenschaftAktuelle Ausgabe: Literaturwissenschaft

Mörderische Geschlechterfantasien

Der Lustmord und sein Über/Leben in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur ist das Thema der Studie von Irina Gradinari. In der Kriminologie und Psychologie als Phänomen längst abgesagt, feiert der Lustmord als Motiv in der Literatur fröhliche Urständ. Die Autorin erkundet den Lustmorddiskurs hinsichtlich seiner Implikationen in Sachen Gender und Genre. Aus Sicht der Gender Studies untersucht sie, wie sich „die Literatur in den modernen Diskurs der zerstörenden Lust einschreibt“ und wie dies ästhetisch umgesetzt wird. Im Lektürenteil analysiert Gradinari ausgewählte Texte (darunter Patrick Süskinds „Parfüm“ ebenso wie Elfriede Jelineks „Gier“) in drei Themenfeldern – Kunst, Ökonomie und Geschichtsaufarbeitung. Die Studie stellt die Paradigmenwechsel in der Entwicklung des Lustmorddiskurses plausibel dar und zeigt, dass der Lustmord eine „männliche Domäne“ bleibt. Verhandelt werden in der untersuchten Literatur männliche Geschlechtsidentitäten – allerdings nicht, ohne auch (Geschlechter)Grenzen zu überschreiten. Nicht immer erscheint Gradinaris Methodenwahl ganz nachvollziehbar („der Ödipuskomplex, der durch den Lustmorddiskurs bedingt ist“) und es ist schade, dass die Verknüpfung der Dimensionen „Gender“ und „Genre“ zum Teil nur oberflächlich gelingt. Auch wäre eine Straffung manches obligatorischen Teils einer Dissertation (Forschungsstand) wohl von Vorteil gewesen. Das Buch ist nichtsdestoweniger eine lesenswerte Auseinandersetzung mit einem spannenden Thema. Susanne Hochreiter
 
Irina Gradinari: Genre, Gender und Lustmord. Mörderische Geschlechterfantasien in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa. 375 Seiten, transcript, Bielefeld 2011 EUR 34,80

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Acht Frauen – acht Heimaten?

Die „Mutter“ als Repräsentantin von „Heimat“ ist ein Effekt männlicher Imaginationen von Weiblichkeit, die im (literarischen) Diskurs über Heimat wesentlich sind. In ihrer Studie über „Andere Heimaten“ erkundet Miriam Kanne Bedeutungsmuster, Metamorphosen und (Dis-)Kontinuitäten von „Heimat(en)“ in deutschsprachiger Literatur mit Bezug auf Geschlechterkonzepte. Während zu Beginn des 20. Jahrhunderts Heimat noch ungebrochen idealisiert erscheint, entwerfen die Erzähltexte von Autorinnen wie M. Haushofer, I. Bachmann, H. Novak und E. Pedretti nach 1945 „Heimaten“, die demgegenüber einen „gewaltigen Bruch“ darstellten: Trotz der motivischen Nähe bestehe inhaltlich eine große Distanz zur traditionellen Heimatliteratur. Die erzählerischen Transformationen und Umdeutungen zu analysieren, ist das Ziel von Kannes Studie. Wie „Heimat“ dabei zu definieren ist, lasse sich nicht jenseits des jeweiligen historischen, ideologischen und kulturellen Kontextes feststellen. Anhand einer Disposition, die die komplexen Bezüge verschiedener Motive zu reflektieren imstande ist, untersucht sie das Gewebe der Heimatdiskurse: (Geschlecher)Rollen, Raumbilder, Zeit und Gedächtnis sind unter anderem die – literaturtheoretisch aktuellen – Dimensionen der Untersuchung. Dass die kenntnisreiche und formulierfreudige Arbeit dann die Texte aller acht Autorinnen (darunter unter anderem drei österreichische) vor dem Hintergrund „deutscher“ Geschichte diskutiert und so den jeweiligen Kontext undifferenziert erscheinen lässt, ist indessen mehr als bedauerlich. Susanne Hochreiter
 
Miriam Kanne: Andere Heimaten. Transformationen klassischer „Heimat“-Konzepte bei Autorinnen der Gegenwartsliteratur. 480 Seiten, Ulrike Helmer Verlag, Sulzbach/Taunus 2011 EUR 41,10

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Wilhelmines Meisterinnen

So genannte Entwicklungsromane handeln bekanntlich von der „Persönlichkeitsreifung“ der Hauptfigur unter Überwindung seelischer und von der Umwelt parat gestellter Hindernisse. Für die traditionellen Literaturwissenschaften gilt das als das „männliche Genre“ schlechthin: Figuren von Wilhelm Meister über Josef Knecht bis Harry Potter waren durch die Jahrhunderte ausschließlich Burschen. Geschichten, in denen nicht ein Mann im Mittelpunkt steht, hat die herkömmliche Forschung als „Frauenroman“ bezeichnet, trivialisiert und als kaum innovativ oder gar gesellschaftskritisch wahrgenommen. Susanne Balmer räumte mit dieser Ignoranz auf. Sie analysierte die narrativen Muster in Romanen von Sophie von La Roche, Wilhelmine von Wobeser, Caroline von Wolzogens, Johanna Schopenhauer, Gabriele Reuters und Hedwig Dohm, die zwischen 1770 und 1900 verfasst wurden – und die von Frauen handeln. Sie stellt dar, wie die zeitgenössische Biologisierung der (bürgerlichen) Geschlechterrollen auch hier Eingang fand. Auch hier waren die Protagonistinnen Töchter, Ehefrauen und Mütter und bekamen es etwa mit Krankheit oder Wahnsinn zu tun. Die Festschreibung des „Gattungswesens Frau“ auf die „häusliche Sphäre“ wurde von den Autorinnen allerdings als soziales Konstrukt entlarvt, das Scheitern alternativer Lebensentwürfe strukturell erklärt. In literarischen Texten gezeichnete Lebensentwürfe wirken sich zeitgenössisch immer auch auf die Lebensentwürfe ihrer Leser_ innen aus. Darin liegt die Relevanz des Buches – auch – für die Geschlechtergeschichte. Li Gerhalter
 
Susanne Balmer: Der weibliche Entwicklungsroman. Individuelle Lebensentwürfe im bürgerlichen Zeitalter. 384 Seiten, Böhlau Verlag, Köln-Weimar-Wien 2011 EUR 51,30

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