RomaneAktuelle Ausgabe: Romane

Das zweitbeste Unglück

Um das Leben der Schauspielerin Julie Helene Bider nachzuzeichnen, wählt Margrit Schriber eine literarische Mischform zwischen Fiktion und Tagebuchzitaten der Akteurin. Die fiktive Ich-Erzählerin und Beobachterin ist die vormalige Geliebte des verstorbenen Vaters von Bider. Sie beschreibt aus einer kühlen, kritischen Distanz das Leben der kapriziösen, nach höherem strebenden Leny Bider. Dieser literarische Kunstgriff ist jedenfalls gelungen. Der Sohn der Beobachterin entwickelt eine unerfüllte Liebe zu Bider, dadurch erhält die Gesamthandlung einen weiteren extravaganten Schliff. Der Roman beginnt damit, dass Bider sich mit 24 Jahren durch einen Revolverschuss am 7. Juli 1919 in ihrem Hotelzimmer umbringt. Wenige Stunden zuvor verunglückte ihr Bruder Oskar durch Unbedachtsamkeit als Pilot mit seinem Flugzeug tödlich. Die couragierte Bider hatte zu ihrem außergewöhnlichen Bruder ein sehr enges Verhältnis und insbesondere um die Rekonstruktion dieser verhängnisvollen Beziehung geht es der Autorin. Biders persönlicher, emanzipierter Lebensstil bedarf der seelischen Unterstützung ihres Bruders. Der tödliche Unfall des Bruders als Auslöser der Selbsttötung Biders ist daher naheliegend. Ein Leben ohne diesen Bruder hätte für Bider bedeutet, sich dem trägen Ehealltag der zuvor geknüpften Beziehung zu einem Offizier endgültig zu unterwerfen. Für die Leserin eine eher fremde Landschaft, die einer Zeitreise zum Ende des Ersten Weltkriegs nicht näher kommt. ML
 
Margrit Schriber: Das zweitbeste Glück. Roman. 175 Seiten, Nagel & Kimche, München 2012 EUR 18,40

zum Seitenanfang springen

Brief an eine Spanienkämpferin

Wer sich mit dem Spanischen Bürgerkrieg beschäftigt, sollte das nun von der argentinischen Autorin Elsa Osorio erschienene Werk über die einzige „Capitana“ nicht unbeachtet lassen. Die Autorin hat einen semibiografischen Roman über Mika Etchebéhère geschrieben. Mika, 1902 geboren, wächst in Argentinien auf, studiert Zahnmedizin, lernt im universitären Umfeld der Student_innenbewegung den Anarchisten Hipólito Etchebéhères kennen. Sie betätigen sich in der argentinischen Landbewegung, gehen aus revolutionärer Überzeugung in den Zwischenkriegsjahren gemeinsam nach Deutschland und Paris. Sie entscheiden sich von dort aus für eine Teilnahme auf Seiten der Arbeitermilizen am Spanischen Bürgerkrieg. Mika wird in einem Regiment Kommandeurin, allerdings sind die Faschisten nicht der einzige Feind. Die Bewegung ist aufgrund politischer Differenzen zunehmend zersplittert, in POUM-Anhänger_innen, Anarchist_innen, trotzkistische und stalinistische Kämpfer_innen. Viele bekannte Antifaschist_innen tauchen im Roman auf. Kursiv sind die Textpassagen gekennzeichnet, in denen die Autorin in Briefform sich direkt an die 1992 verstorbene Revolutionärin wendet. Der Text verläuft nicht chronologisch, sondern es mischen sich die Zeiten, wie persönliche Erinnerungen. Dadurch entsteht eine unkonventionelle Lesart, die persönlich und sympathieerweckend für die Revolutionärin Partei ergreift. Für politische Leser_innen lesenswert. Antonia Laudon
 
Elsa Osorio: Die Capitana. Roman. 331 Seiten, Insel Verlag, Berlin 2011 EUR 20,60

zum Seitenanfang springen

Pearl wird zu Bambus

Nach Bestsellern wie über die chinesische Kaiserin, Madame Mao setzt Anchee Min mit ihrem neuesten Historienroman der Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Pearl S. Buck ein literarisches Denkmal. Sie erzählt die fiktive Freundinnenschaft von zwei kleinen Mädchen in China am Ende des 19. Jahrhunderts: Pearl ist die Tochter eines US-amerikanischen Missionarsehepaares, Weide schlägt sich mit Vater und Großmutter durch Armut und Gewalt des ländlichen Chinkiang. Der erste Teil des Buches ist interessant zu lesen, die übergriffige Lächerlichkeit der christlichen Missionierung erfährt immer wieder amüsante Perspektiven und Entgegnungen durch die Bevölkerung. Das verliert sich im Laufe des Buches leider völlig, das zu einer nicht nachvollziehbaren Huldigung christlicher Gläubigkeit sowie einer detaillierten und dennoch undifferenzierten Verurteilung aller weiteren an der Realität angelehnten Geschichte Chinas abgleitet. Die Freundschaft der Frauen ist nur mehr ein Aufhänger, anhand dessen Pearl S. Bucks lebenslange Verbundenheit zu China heroisiert und polarisierend Zeitgeschichte präsentiert wird, bei der die ProtagonistInnen des Buches zufällig bei den großen Eckdaten der Geschehnisse immer involviert werden. mel
 
Anchee Min: Goldener Bambus. Roman. Übersetzt von Helga Augustin. 336 Seiten, Krüger Verlag, Frankfurt/M. 2012 EUR 20,60

zum Seitenanfang springen

Chucks

Chucks. Das sind Converse. In diesem Fall rote, die Mae beim Aufwachsen begleiten. Seit ihr Bruder an Krebs verstorben ist, trägt sie sie täglich. Erst als Punk auf der Straße, biertrinkend und rotzfrech, dann in der biederen Beziehung mit dem zuverlässigen, Luftschlösser bauenden Jakob. Das fade und gleichmäßige Leben mit Jakob reizt Mae ganz und gar nicht und als sie den HIV-positiven Paul im Aids-Hilfe-Haus, wo sie eine Strafe wegen Körperverletzung abarbeiten muss, kennenlernt, verlässt sie Jakob. „Mit Paul ist jeder Tag neu, weil jeder Tag der letzte sein kann.“ Chucks ist klar, direkt und schlagfertig, etwas nüchtern und wenig ergreifend. Aber vielleicht ist diese Nüchternheit zwischen Liebe und Tod einfach notwendig. Jenny Unger
 
Cornelia Travnicek: Chucks. Roman. 186 Seiten, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2012 EUR 15,50

zum Seitenanfang springen

Hexen leben ewig

Ein Roman über Hexen, der ganz ohne wallendes rotes Haar, hysterische Hexenverfolgung und andere Klischees auskommt, ist schon was Feines. 2001 in Griechenland zum Bestseller geworden, könnte das Buch auch in deutscher Übersetzung viele LeserInnen begeistern. „Die Hexen von Smyrna“ entführt ins 19. Jahrhundert, einer streng nach Arm und Reich separierten Gesellschaft. Für heiratsfähige Frauen der Unterschicht (also Mädchen ab 13) ist nichts wichtiger, als einen Weg zu finden, in die Oberschicht zu heiraten. Das gelingt selbstverständlich nur den Wenigsten, den Schönsten und Handzahmsten. Stammt ein Mädchen jedoch aus einer Familie von Magierinnen, wird der Mann der Wahl einfach unter die Haube gehext. Währenddessen genießen die „auserwählten“ Frauen, was der Reichtum zu bieten hat. Sie zeigen aber auch, dass sie gute Geschäftsfrauen sind und Ellbogenqualitäten besitzen. Der Roman ist eine wunderbare Geschichte, in dem eine Welt erzählt wird, die gänzlich über die Handlungsfähigkeit von Frauen funktioniert. Männer spielen in der Erzählung Nebenrollen, obwohl das System einer patriarchalen Gesellschaft natürlich omnipräsent ist – die Hexen richten sich die Welt schließlich so, wie sie sie brauchen. Auch wenn das Wort „Hexe“ kaum einmal verwendet wird. Es sind einfach Frauen mit besonderen Fähigkeiten, die sich nehmen, was sie wollen. Am Ende wird’s dann noch recht mystisch – aber das passt als unterhaltsamer Abschluss ganz gut. Hexen leben ewig. Gut so. GaH
 
Mara Meimaridi: Die Hexen von Smyrna. Roman. Übersetzt von Michaela Prinzinger. 510 Seiten, Insel Verlag, Berlin 2011 EUR 17,50

zum Seitenanfang springen

DDR-Leben

Marion Braschs Coming-of-Age-Roman erzählt die Geschichte ihrer fabelhaften Familie: drei Brüder, die als Schriftsteller, Dramatiker und Schauspieler widerständige Lebensstile zelebrieren, ihre Mutter, die durch eine Krankheit schleichend aus dem Leben des Mädchens verschwindet, und der Vater, ein parteitreuer Genosse, der voll Zuversicht aber auch etwas verbissen an seinem Glauben an den Sozialismus festhält. Alles ist von Gewicht im Leben der vier Männer. Ihre Lebensüberzeugungen setzen sich übereinstimmend oder ablehnend ins Verhältnis zu großen Idealen, während das Leben der jungen Frau mit einer Leichtigkeit dahinplätschert. Ihre eigenen Erfahrungen mit dem Aufwachsen in Ostberlin sind alltäglich, bodenständig und unaufgeregt. Weite Teile des Buchs inszenieren ein bekanntes DDR-Flair samt West-Fernsehen und der großen Meinungsfreiheit, die latent hinter dem Vorhang hervorlugt. Mit beidem machen allerdings die Brüder so ihre Erfahrungen und die Welt scheint dann doch nicht mehr so zweigeteilt zu existieren. ‚Ab jetzt ist Ruhe’, der erste Roman der 1961 geborenen Autorin, ist eine wunderbar unbeschwerte und sympathische Lektüre mit nettem ironischen Unterton! dallh
 
Marion Brasch: Ab jetzt ist Ruhe. Roman meiner fabelhaften Familie. 399 Seiten, S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2012 EUR 20,60

zum Seitenanfang springen

Die Frau auf der Suche

1968, Martin Luther King wird ermordet und die Städte der USA werden von Rassenunruhen erschüttert, während der Vorwahlkampf Robert Kennedys um die US-Präsidentschaft überraschende Erfolge zeitigt. Die Engländerin Rose und der Amerikaner Harold machen sich in der explosiven Atmosphäre auf einen Road Trip quer durch das von gewalttätigen Ausbrüchen geprägte Land. Unterschiedliche Beweggründe, aber dasselbe Ziel, führen das Duo in Schnitzeljagdmanier von Baltimore nach Los Angeles – auf der Suche nach dem geheimnisvoll-undurchsichtigen Dr. Wheeler. Die afroamerikanische Bevölkerung kämpft um ihre Rechte, doch Rose treibt – auf den Spuren der idealisierten Vaterfigur ihrer Kindheit – an der sich verändernden Realität vorbei, unberührt von den sozialen Entwicklungen und scheinbar ebenso unberührt von ihrem momentanen eigenen Leben. Das ungleiche Reisegespann Rose und Harold bietet ein Sinnbild zweier Menschen, die, obwohl über längere Zeit zusammen gespannt, unfähig sind, sich auf die Gegenwart des jeweils anderen einzulassen – das wahre Leben muss anderswo sein. Sara Riedmann
 
Beryl Bainbridge: Die Frau im gepunkteten Kleid. Übersetzt von Andrea Ott. 240 Seiten, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2012 EUR 20,60

zum Seitenanfang springen

Herkunftsgeschichte: Wesentlich und ungeheuerlich

Pia Ziefles Erstlingsroman „Suna“ handelt von einer Mutter, die ihrer kleinen Tochter die Geschichte der eigenen Herkunft erzählt. Dabei ziehen sich die Wurzeln quer durch den Zweiten Weltkrieg in Deutschland, durch das ehemalige Jugoslawien und in die Türkei. Es geht eigentlich um das „ganz normale“ Leben, nur ist es eben ganz ungeheuerlich. Jedenfalls führen alle Fäden der Erzählung meisterhaft zueinander und das alles noch dazu in einer Sprache, die einmal einfühlsam und dann wieder messerscharf ist. Bei der Lektüre lacht und weint man immer wieder mit und viele der Schilderungen bleiben noch lange im Kopf hängen. Ich denke, dass der wichtigste Grund dafür ist, dass die meisten von uns sich in einzelnen Teilen dieser Familiengeschichten wiederfinden. Dabei gelingt Ziefle das Unmögliche: Sie macht verblüffend deutlich, dass erstens „Migrationshintergrund“ ein Mehrheitshintergrund ist und zweitens das „klassische“ Familienideal, wenn überhaupt, wohl nur von einer winzigen Minderheit gelebt wird. Bloß das Titelbild erscheint mir eher als „Understatement“ für ein so starkes Buch, das dermaßen bewegt und beschäftigt. Unbedingt lesen! Alice Ludvig
 
Pia Ziefle: Suna. Roman. 304 Seiten, Ullstein, Berlin 2012 EUR 18,50

zum Seitenanfang springen

Auf den Spuren der Lügen

Nachdem ihre Mutter gestorben ist, bekommt Camille jede Woche einen Brief von einem Louis. Darin erzählt er in Etappen die Geschichte seiner Jugendliebe Annie und deren folgenschwere Freundschaft zu Madame M. Madame M. hat zahllose Versuche hinter sich, selbst ein Kind zu bekommen. Die junge Annie schlägt ihr spontan vor, ein Kind für sie auszutragen. Daraus entwickelt sich eine Tragödie, eingebettet in den historischen Kontext der deutschen Besatzung Frankreichs während des Zweiten Weltkriegs. Nachdem Camille anfangs ratlos ist, warum ihr diese Briefe geschickt werden, ahnt sie nach einer Weile, dass die Geschichte möglicherweise etwas mit ihrem Leben zu tun hat und beginnt nachzuforschen. Das Buch ist sehr spannend zu lesen. Die Geschichte wird aus der Perspektive von vier Ich-ErzählerInnen geschildert. Hierbei deckt die eine Perspektive die Lügen und Halbwahrheiten der anderen auf, um aus der nächsten Perspektive wieder alles in einem etwas anderen Licht erscheinen zu lassen. Sara John
 
Hélène Grémillon: Das geheime Prinzip der Liebe. Roman. Übersetzt von Claudia Steinitz. 256 Seiten, Hoffmann und Campe, Hamburg 2012 EUR 20,60

zum Seitenanfang springen

Konfliktzone. Mittwoch.

Die, die Geld hatten, durften hier raus. Im Debütroman der georgischen Autorin Melaschwili ist dieses Hier ein Zustand. Krieg. Geographisch nicht zugeordnet, doch verortet in drei Tagen aus dem Leben der beiden Mädchen Ninzo und Zknapa. Der Wald ist vermint, in der Schlucht liegt ein toter Soldat, eine Großmuter wartet weinend auf das Sterben, die abwesenden Väter könnten sich jederzeit in eine Todesmeldung verwandeln, doch im nun leer stehenden Haus von Dato gibt es einen CD Player und alte Vorhänge, aus denen sich Monatsbinden machen lassen. Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Tage, an denen ihnen oft zum Kotzen ist, denen sie aber mit jugendlichem Trotz jedes bisschen Leben abseits des Überlebens abringen. Viel Platz ist dafür ohnehin nicht und so kommt ungeachtet aller Anspannung auch kein Pathos auf. Das Leben ist knapp, das vermittelt auch der Rhythmus der Sprache und macht so den „anderen Krieg“, den, der im Alltag abseits der Frontlinien stattfindet, direkt erfassbar. bw
 
Tamta Melaschwili: Abzählen. Roman. Übersetzt von Natia Mikeladse. 120 Seiten, Unionsverlag, Zürich 2012 EUR 17,50

zum Seitenanfang springen

Wiederentdeckung

Der erste Roman von Elizabeth Stoddard, 1862 in den USA erschienen, wurde sehr positiv rezensiert und gelobt. Aber er passte nicht so recht in die literarischen Schubladen, wurde kein Verkaufsschlager und auch kaum übersetzt. In der Edition Klassikerinnen hat sich nun der Helmer-Verlag dem verschütteten Schatz gewidmet und den Roman erstmals ins Deutsche übersetzt. „Ein Werk der Weltliteratur“, meinen die HerausgeberInnen und ÜbersetzerInnen im Nachwort, „einer der bemerkenswertesten Texte der amerikanischen Literatur des 19. Jahrhunderts“. Stoddard wurde schon zu Lebzeiten als „Vorläuferin des amerikanischen Realismus“ gewürdigt, auch wenn sie selbst ihre Werke als romantisch verstanden wissen wollte. „Die Morgesons“ reiht sich oberflächlich gut ein in die damals so beliebten Frauenromane, kommt jedoch ohne „romantische Gefühle“, sentimentale Dialoge und christliche Wertvorstellungen aus. Wir erleben das Erwachsenwerden der Cassandra Morgeson, die auf der Suche nach Autonomie und Selbstbestimmung ist, in einer Gesellschaft, die für Frauen abseits der strengen Verhaltensnormen eigentlich nicht viel Spielraum lässt. Schön, dass derart lesenswerte Novellen wieder zum Leben erweckt werden. GaH
 
Elizabeth Stoddard: Die Morgesons. Roman. Übersetzt von Susanne Opfermann und Helmbrecht Breinig. 334 Seiten, Ulrike Helmer Verlag, Sulzbach/Taunus 2011 EUR 30,80

zum Seitenanfang springen

Die Osterländische Gräfin

Bertha, Tochter des osterländischen Markgrafen Wiprecht, aus politischen Gründen dem polnischen Grafen Waclewic versprochen, kämpft mit allen Mitteln gegen die ihr auferlegte Ehe. Zumal ihr Herz für den schönen Dedo von Wettin schlägt. Als sie Waclewic über die Leiche ihrer Dienerin gebeugt im Wald findet, hält sie ihn irrtümlicherweise für deren Mörder und verletzt ihn im Kampf schwer. Damit entgeht sie zwar der Ehe mit ihm, doch die Verbindung mit Dedo erweist sich als unglücklich und lieblos. Durch seinen Tod auf einer Pilgerreise ins Heilige Land fällt ihr als Herrin von Wettin endlich Unabhängigkeit zu, die sie nun zu bewahren sucht. Aber ihr Verbrechen an dem polnischen Grafen lässt sie nicht zur Ruhe kommen. Bertha erfüllt alle Ansprüche, die an eine Heldin eines historischen Romans gestellt werden können. Mit viel Liebe zum Detail zeichnet die Autorin das Bild einer jungen Frau, die gegen alle Standes- und Geschlechterdünkel ihrer Zeit kämpft. Die Figuren des Romans sind kreativ und mit großem Geschick in die politischen Wirren – den ständig neu entflammenden Kampf um die Kaiserkrone und die Machtspiele zwischen Kaiser und Papst – eingebunden. Ein wunderschönes Buch – mit einem überraschenden Ende! Eva Miklautz
 
Sylke Tannhäuser: Die Osterländische Gräfin. Ein Krimi aus dem Mittelalter. 400 Seiten, Emons Verlag, Köln 2011 EUR 12,30

zum Seitenanfang springen

Der Henker von Lemgo

Der Roman ist in der Zeit zwischen 1650 und 1680 angesiedelt, als die Hexenprozesse in Lemgo ihren grausigen Höhepunkt fanden. Maria, die Tochter des Dechen der Brauereizunft und Ratsherrn Curd Rampendahl, gerät in das Visier des Hexenverfolgers und Bürgermeisters Hermann Cothmann, der ihre Zurückweisung nicht ertragen kann. Hin und her gerissen zwischen ihrer Liebe zu dem Henker und Foltermeister David Claussen und ihrem Ehemann Hermann Hermessen, kämpft sie gegen die Intrigen Cothmanns und um ihr Leben. Die erste Hälfte des Buchs beschäftigt sich mit dem familiären Hintergrund der Protagonistin und ihrer vergeblichen Suche nach einem Ehemann. Dann erfolgt ein nicht nachvollziehbarer Bruch und die Geschichte findet zehn Jahre später mit dem Auftauchen des Chirurgen Hermessen ihre Fortsetzung. Dem Roman fehlt die Einbindung in den historischen Kontext, Reformation und Dreißigjähriger Krieg werden so gut wie gar nicht thematisiert. Die Charaktere sind etwas lieblos gezeichnet. Soziale Missstände sowie die Thematisierung der Stellung von Frauen finden leider keinen Platz. Der Fokus liegt auf der Darstellung der blutigen Foltermethoden, die sehr ausführlich, detailliert und plastisch aufgelistet werden. Für (feministische) Liebhaber_innen des Genres leider nicht zu empfehlen. Eva Miklautz
 
Bettina Szrama: Der Henker von Lemgo. Roman. 368 Seiten, Emons Verlag, Köln 2011 EUR 12,30

zum Seitenanfang springen

„I think the bicycle has done more …“

Protagonistin dieses historischen Unterhaltungsromans ist die aus einfachen Verhältnissen stammende Josefine, die sich zu Beginn des Buches eingesperrt in der Jugendabteilung eines Berliner Frauengefängnisses wiederfindet. Der erste Teil erzählt in Rückblenden, wie es dazu kam, dass sie das Velocipedfahren kennen und lieben lernte und das unerlaubt geborgte Fahrrad des reichen Vaters ihrer Freundin Isabelle zu Schrott fuhr. Das erste Velo ihres Lebens sieht Jo im Schwarzwald und nach ihrer ersten Fahrt ist klar: Um nichts in der Welt würde sie dieses Freiheitsgefühl missen wollen, und so setzt sie alles daran, auch zurück in Berlin weiter Velo fahren zu können. Ihre Freundinnen Isabelle und Clara werden schnell vom Fieber angesteckt – zunächst in aller Heimlichkeit, denn die Trendsportart des späten 19. Jahrhunderts war anfangs Männern vorbehalten. Für Frauen galt sie als unschicklich, ungesund und undenkbar. Als Jo das Gefängnis nach drei Jahren verlässt, haben sich die Welt und ihr Umfeld verändert. Was jedoch geblieben ist, ist ihr unbändiger Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung und das geliebte Velofahren, das die beiden Sehnsüchte vereint … Erfreulich sind die starken, aufbegehrenden und weitgehend unstereotypen Frauenfiguren Jo und Isabelle – wenn auch, wie alle anderen Frauen des Buches, strikt heterosexuell gezeichnet. Der Roman wartet weiters mit vielen interessanten Details zur Fahrradgeschichte und der emanzipatorischen Bedeutung des Velos für Frauen auf. In diesem Sinne genau das Richtige für Pausen auf sommerlichen Fahrradtouren. soe
 
Petra Durst-Benning: Solang die Welt noch schläft. Roman. 496 Seiten, List Verlag, Berlin 2012 EUR 20,60

zum Seitenanfang springen

Geld allein macht nicht glücklich

Diese Lektion kommt schon im Prolog. „Aber normal ist auch nicht das Nonplusultra“! Und ein Studium in Oxford ist kein Honigschlecken. Es kommen noch Lektionen zum Erwachsenwerden und zu Fragen des Leidens und Opferns dazu. Im Zentrum des Romans steht Mark, ein enorm reicher und mutterbeziehungsgeschädigter Industriellensohn mit Psychiatrieerfahrung. Er gilt als schwul und promisk. Für die Zeit des Studiums an der Eliteuniversität lädt er fünf Freund_innen ein, mit ihm in seiner Villa zu leben und finanziert ihnen Luxus und rauschende Feste. Die Beziehungsgeflechte sind kompliziert und werden nach Auflösung der WG erst recht spannend. Mark und der Erzähler – beide scheinbar in soliden Frauenbeziehungen – haben eine „Affäre“: Liebe und Abhängigkeiten bleiben vielschichtig. Die Beziehungen zwischen jungen Männern und Frauen sind komplex und facettenreich dargestellt, sexuelle Orientierung wird differenziert verhandelt. Im Scheitern überlegt der Protagonist: „Aber irgendetwas hätte ich mir schon wünschen sollen“. Erkenntnisse dieser Art können als Banalitäten gelesen werden, aber auch als hintergründig – als pointierte Umschreibungen von Brüchigkeiten, Verunsicherungen und Ambivalenzen. Hedi Presch
 
Naomi Alderman: Die Lektionen. Roman. Übersetzt von Christiane Buchner. 398 Seiten, Bloomsbury, Berlin 2012 EUR 23,60

zum Seitenanfang springen

Wascht die Knochen … lasst das Herz zurück

Zum Sterben hat sich Natalias Großvater einem verwundeten Tier gleich in die Abgeschiedenheit zurückgezogen. Eine Handlung, die sich wie eine Referenz auf die beiden prägendsten Erlebnisse seines Lebens liest. Zum einen, die Begegnung mit dem Mann, der nicht sterben kann, aber stets durstig ist. Zum anderen, die mit dem Tiger, den es während des Zweiten Weltkriegs aus einem zerbombten Zoo entwischt und schon etwas mitgenommen, in ein abgelegenes Dorf am Balkan verschlägt. Ein Umstand, der die meisten Dorfbewohner_ innen in Schrecken versetzt, können sie diesem doch nur eine alte Muskete entgegensetzen, zwar eine mit erstaunlicher Geschichte, von der aber niemand mehr genau weiß, wie damit umzugehen ist. Willkommen ist der Tiger nur dem Großvater, damals noch ein Junge und im Gedanken nie weit entfernt vom Dschungelbuch, das er bis zu seinem Tod stets bei sich tragen wird … und der Tigerfrau. Natalia, selbst konfrontiert mit einem Land, das gerade den Krieg abgeschüttelt hat, in dem sowohl geografisch als auch sozial ganz neue Grenzen gelten und Knochensammler ausgeschickt werden, verbindet Erinnertes und Erzähltes, Aberglauben und Phantastisches zu einer packenden Lebensund Familiengeschichte, die nicht zuletzt auch subtile Auseinandersetzung mit der Geschichte Jugoslawiens ist. bw
 
Téa Obreht: Die Tigerfrau. Roman. Übersetzt von Bettina Abarbanell. 416 Seiten, Rowohlt, Berlin 2012 EUR 20,60

zum Seitenanfang springen

Porträt zweier Einzelgänger_innen

Maja und Manuel, zwei Wiener Einzelgänger_ innen, begegnen sich in diesem langsamen und detailverliebten Buch. Sie werden aneinander herangeführt, umkreisen einander, bis sich ihre Wege zufällig kreuzen. Was sie für einander sind und sein können, bleibt über lange Strecken der Geschichte offen. Kapitel für Kapitel werden mit liebevollem Blick und in wechselnder Erzählperspektive ihre Schrulligkeiten offengelegt: Manuels überdurchschnittliche Durchschnittlichkeit und Sammelwut, Majas außergewöhnliche Wochenendbeschäftigung und ihre zurückhaltende Liebe zu anderen Menschen. „Seit zwei Monaten ist mir nichts mehr zerbrochen“, sagt Manuel zu sich selbst, als er an Maja denkt. Dies ist kein Buch, das sich zum schnellen Lesen eignet, es braucht Muße, den Fokus, den Daniela Meisel auf kleine Objekte, seltsame Zusammenhänge und die Zwischentöne des Wetters legt, in Schleifen mitzudenken. Tut die Leser_in dies nicht, endet das Buch und sie ist ein wenig verwirrt und zugleich traurig, da sie Maja und Manuel doch nicht richtig kennengelernt hat, obwohl doch eigentlich alle Voraussetzungen dafür gegeben gewesen wären. soe
 
Daniela Meisel: Gegen einsam. Roman. 216 Seiten, Picus Verlag, Wien 2012 EUR 19,90

zum Seitenanfang springen

Unmögliche Beziehungen

Im Mittelpunkt des Romans steht eine junge Frau, sie lebt als Übersetzerin, abgeschieden im Wald, weit weg vom Dorf, mit ihrem Hund. So will sie der Zerrissenheit ihrer Familie entkommen, doch die Vergangenheit lässt sie nicht los. Die Großmutter, Partisanin, hat ihre Freunde im Krieg im Klosterlabyrinth versteckt, der Großvater ein Mörder. Sie – dazwischen. Und auch der Text wechselt von der Vergangenheit in die Gegenwart. Als die Großmutter stirbt, ist sie gezwungen, mit Leuten aus dem Dorf Kontakt aufzunehmen. Der Gemeindearzt bringt ihr die Ohrringe der Großmutter. Zwischen den beiden entspinnt sich eine Beziehung, doch es kann nicht gut gehen. Genausowenig wie zwischen ihr und dem „Gewesenen“, der vom Baum gefallen ist – trägt sie die Schuld daran? Auch mit dem Professor kann sie nicht glücklich werden, zu spät kommt seine Liebeserklärung. Die Liebe wird hier nicht siegen. „Was konnten die Männer dafür, daß sie keinen von ihnen mochte, nur alle, nur den Mann, nur den Fremden den Exoten? Alle und keinen: eine trübe Bilanz. Und was kann sie dafür, daß keiner sich eignete gemocht zu werden, gar geliebt?“ – Das Debüt der Wiener Autorin ist geschrieben wie in einer fremden Sprache. Es klingt noch lange nach. vab
 
Claudia Sikora: Der Rittmeister. Roman. 332 Seiten, Wieser, Klagenfurt/Celovec 2011 EUR 21,00

zum Seitenanfang springen

Kalte Welt

Felix streift gerne allein durch die Felder. Er kann sich wunderbar mit sich selbst beschäftigen und hat nicht das Bedürfnis, sich seinen Geschwistern beim Spielen anzuschließen. In einem bäuerlichen Ort im Bayern der 1960er Jahre muss sich Felix’ Mutter, die Hopfenbäuerin Marie, damit auseinandersetzten, dass ihr eigenwilliger Sohn bald eingeschult und in eine Schema gepresst werden soll. Immer mehr zieht sich der Junge in seine eigene Welt zurück und vom Dorflehrer bis zum Pfarrer sind sich bald alle einig, dass der „Idiot“ nicht in eine Schul- und Dorfgemeinschaft passt. Andrea Stolls Roman erzählt von einer Mutter, die gegen provinzielle Kleingeistigkeit, ärztliche Autorität und für ihr Kind kämpft, und dabei selbst eine Befreiung erfährt. Das Buch erinnert an jene Menschen mit besonderen Bedürfnissen, die der Hospitalisierung in dieser Zeit nicht entgangen sind und die Folgen davon immer noch zu tragen haben. Es thematisiert den enormen Organisationsaufwand, den pflegende Angehörige, meist Frauen, zu tragen haben, wenn sie Mittel, die selbstverständlich zur Verfügung stehen sollten, hundert mal beantragen und Ablehnung beeinspruchen müssen. Und: wäre meine Schwester nicht letztes Wochenende mit mir an der Linzer Donaulänge im Rollstuhl spazieren gefahren und hätte sie nicht gut gelaunt und freundlich alle gegrüßt, auch eine Mehrzahl, die mit zusammengebissen Zähnen den Kopf abgewandt hat, würde ich glatt meinen, das Buch hätte mittlerweile etwas an zeitgemäßer gesellschaftlicher Entsprechung eingebüßt. Ein schöner und emphatischer Roman! dallh
 
Andrea Stoll: Der kalte Himmel. Roman. 268 Seiten, Goldmann, München 2011 EUR 19,60

zum Seitenanfang springen

Grenzerfahrungen

Dieses Must have der Literaturgeschichte erinnert an Ingeborg Bachmanns Erzählung „Drei Wege zum See“. Die Protagonistin ist Alleinerzieherin einer Tochter, deren Vater immer wieder das Zusammenleben erschwert. Die Sommerferien sind zu überwindende Traumata, die Reparaturarbeiten leistet die Mutter – gemeinsam mit der Tochter. Wie schwerwiegend die hieraus resultierenden Verwirrungen und Verletzungen sind, bleibt in der letzten Buchszene nach einer Theateraufführung offen: Die Tochter und ihr Reisepass sind verschwunden. Vollendeter Missbrauch, der zuvor immer wieder angedeutet wird? Parallel zur (Klein)Familiengeschichte wird die Arbeitsweise der Protagonistin als Wissenschaftlerin und alleinerziehende Mutter dargestellt: immer wieder gelingt es ihr, (Stadt)Geographie, untersucht an Natur- und Kulturlandschaften, für wissenschaftliche Vorlesungsreihen, interessiertes Publikum und Leserinnen anregend und erfolgreich zu analysieren und in Buchtexten zu bearbeiten. Ihr beruflicher Werdegang und finanziell gutes Auskommen geschehen nahezu en passant, ebenso die geglückte Beziehung zu einem Kollegen, der sie inhaltlich in ihrem Fortkommen bestärkt. Rückschläge durch die Besuche der Tochter beim „Ex“ schreibt die Protagonistin lange Zeit ihrer – vermeintlichen – „Unflexibilität“ zu: Gemeint sind Frechheiten und Bosheiten des psychisch auffälligen Ex-Partners, die ihrer Vernichtung gelten. Diese gelingt nicht. Die erzählten Ebenen des Alltagslebens eröffnen hohes Identifikationspotenzial für Leserinnen: Quasi „nebenbei“ wird große Literatur geliefert, gespickt mit wissenschaftlichen Themen, die dazu anregen, den Notizblock auszupacken: zu sehen, zu staunen, aufzuschreiben. Ein packender Roman, der garantiert zu einem der eindrücklichsten Bücher des Sommers 2012 für jene Leserinnen wird, die es glücklicherweise noch vor sich haben! Gerlinde Mauerer
 
Margit Schreiner: Die Tiere von Paris. Roman. 186 Seiten, Schöffling & Co, Frankfurt/M. 2011 EUR 20,60

zum Seitenanfang springen

Hotel Nirgendwo

Sommer 1991 – ein neunjähriges kroatisches Mädchen verlässt gemeinsam mit ihrem um einige Jahre älteren Bruder die Heimatstadt Vukovar. Die Eltern bleiben zurück, der Krieg in Kroatien entbrennt. Die Mutter kann den Kindern bald folgen, der Vater bleibt zurück und verschollen. Mutter und Kinder wechseln ihre provisorischen Flüchtlingsunterkünfte oft. Mal sind sie am Meer, mal in der Nähe von Zagreb. Und immer sind sie umgeben von anderen Flüchtlingen und deren Schicksal. Sie werden im eigenen Land herumgereicht, vertröstet und ausgegrenzt. Im Kampf um eine eigene, kleine Wohnung werden unzählige Briefe an Politiker_innen geschrieben, der Kampf mit den Behörden scheint nicht enden zu wollen. Auch die Suche nach dem Vater ist endlos. Es ist eine Erzählung von Zärtlichkeit und Grausamkeit, Schmerzen und Freude. Nichts wird verschwiegen. Die Leserin erfährt viel über die kroatische Gesellschaft der Neunzigerjahre. Die kindlichen und jugendlichen Perspektiven ermöglichen eine humorvolle und vorurteilsfreie Lesart der dramatischen und dunklen Schilderungen. Amela Mirkoviç
 
Ivana BodroÏiç: Hotel Nirgendwo. Roman. Übersetzt von Marica BodroÏiç. 224 Seiten, Paul Zsolnay Verlag, Wien 2012 EUR 19,40

zum Seitenanfang springen

Lieben und Leiden

Chemda Horowitz liegt im Sterben und lässt ihr Leben Revue passieren. Sie denkt an ihre Kindheit im Kibbuz, ihre Mutter, die zu den PionierInnen der Kibbuz-Bewegung gehörte und ihr zu wenig Aufmerksamkeit schenkte, weil sie in der Weltgeschichte unterwegs war, ihre Ehe und ihre beiden Kinder Dina und Avner. Die sechsundvierzigjährige Dina, Dozentin der Geschichte, hadert genauso mit ihrem Leben wie ihr jüngerer Bruder Avner, ein erfolgreicher Menschenrechtsanwalt. Beide glauben in der Mutter eine Schuldige für ihr Unglück gefunden zu haben. Avner, weil er zu viel, Dina, weil sie zu wenig geliebt wurde. Dina, die all ihre Aufmerksamkeit ihrer heranwachsenden Tochter widmet, die jedoch allmählich beginnt, ihr eigenes Leben zu leben, will ein neues Glück finden, indem sie einen kleinen Jungen adoptiert. Dafür setzt sie ihre Ehe aufs Spiel. Avner, dessen Erfolg als Anwalt nicht über seine kaputte Ehe hinwegtrösten kann, ist auf der Suche nach der wahren Liebe, nachdem er einen todkranken Mann und dessen Frau heimlich im Krankenhaus beobachtet hatte und sich wünschte, an der Stelle des Sterbenden zu sein. Chemda fragt sich, ob die Liebe, wenn sie „nie zur Geltung kam, von einer Generation in die nächste wandert, wie eine Stimme, die nie gehört wurde zu einem Echo wird …“. Nach über 500 Seiten, die die Leserin in Atmen halten, wird am Ende die Liebe siegen. Zeruya Shalev ist eine meisterhafte Erzählerin, kein Schnörkel zu viel an ihren langen, oft verschachtelten Sätzen. Sie ist nah dran an ihren Figuren, deren Psyche sie der Leserin mit analytischem Blick offen legt. vab
 
Zeruya Shalev: Für den Rest des Lebens. Roman. Übersetzt von Mirjam Pressler. 520 Seiten, Bloomsbury, Berlin 2012 EUR 23,60

zum Seitenanfang springen

Lebenswege von Norwegen nach Amerika

In Nordnorwegen im ausgehenden 19. Jahrhundert verlieben sich Agnes, Tochter aus wohlhabendem Haus, und Lasse, Knecht am Pfarrhof. Nachdem Lasse im Winter einen scheinbar herrenlosen Mantel findet, diesen anzieht und dann feststellen muss, dass dieser Mantel dem Vogt gehört, flieht er Hals über Kopf und kommt nach Umwegen auf ein Auswanderungsboot, das ihn nach New York bringt. In einem Brief bittet er Agnes nachzukommen. Eineinhalb Jahre später kommt Agnes auch nach Amerika, kann aber Lasse nicht finden. Die Leserin begleitet dann Lasse und Agnes – in zwei Erzählsträngen – bei deren Ankommen und Leben in Amerika, das immer erfüllt ist von der Sehnsucht nach der bzw. dem Liebsten. Für ihren bereits dritten Auswanderungsroman hat Toril Brekke viele Orte, die sie im Buch beschreibt, selbst besucht und viele Gespräche mit AmerikanerInnen mit norwegischen VorfahrInnen geführt. So besticht das Buch einerseits durch historische Fakten und zum anderen durch die eindringliche Darstellung und einfühlsame Beschreibung der Personen und deren Lebenswege. Ein sehr empfehlenswerter Roman für LeserInnen, die sich – zumindest lesend – auf den weiten Weg über den großen Teich und quer über den nordamerikanischen Kontinent machen wollen. Bente Knoll
 
Toril Brekke: Für immer, Deine Agnes. Roman. Übersetzt von Gabriele Haefs. 464 Seiten, Droemer, München 2012 EUR 23,70

zum Seitenanfang springen

Geschwisterliebe

Zwei Schwestern in ihren Sechzigern gehen gemeinsam auf Reisen. Als Kinder sind sie mit dem vom Vater geleiteten Familienorchester auf Tour gewesen, nun fahren sie gemeinsam auf Urlaub ins Land ihrer Muttersprache. Was sorglos beginnt, endet in einem Lehrstück zum Thema Geschwisterliebe, die Schwester wird dabei zum Zufluchtsort und zur Gegnerin zugleich. Die beinahe in ein literarisches Zeitlupen-Roadmovie vor deutscher Tourismuskulisse mutierende Reise lässt Verdrängtes und Verschwiegenes, Ungeklärtes und Unbewältigtes an die Oberfläche gelangen. Die Enttäuschung über ein Leben, welches für beide Frauen auf unterschiedliche Weise unter den Erwartungen geblieben ist, nährt neben emotionaler Nähe und schwesterlicher Vertrautheit eine schwelende Rivalität. Lucette ter Borg gelingt eine präzise, ebenso komische wie unaufdringlich dramatische Darstellung der ungleichen Schwestern und ihrer Lebenswege. Eine Darstellung, welche durch die abwechselnde Erzählperspektive den Konflikt auch formal umsetzt und geschickt Aufmerksamkeit und Sympathie der Leserin auf beide Protagonistinnen gleichermaßen verteilt. Helga Lackner
 
Lucette ter Borg: Fallkraut. Roman. Übersetzt von Arne Braun. 295 Seiten, Wallstein Verlag, Göttingen 2012 EUR 20,50

zum Seitenanfang springen

Rage

Die 16-jährige Ich-Erzählerin Elisabeth verbringt ein Schuljahr in Kanada. Aus wohlhabender und frommer Familie aus Bayern stammend, bis dato Musterschülerin, wird die junge Frau im Ausland schnell zur Schulverweigerin, nimmt viele Drogen, hat erstmals Sex, zieht in eine verwahrloste Jungs-WG: „Ich wollte die Gelegenheit, die Freiheit, Fehltritte begehen zu dürfen, ergreifen, alles wagen.“ Wie die Ich-Erzählerin die Grenzen des herkömmlichen High School-Lebens sprengt, sprengt die Autorin die Gattung des Romans, montiert in ihre Erzählung surreale Lyrik, Notizen „von damals“ und Songtexte der 1990er. Kränzler erzählt in Rückblenden über die klaffende Wunde dieses Lebensabschnitts, steigert konsequent die Spannung, schildert den jugendlichen Freiheitsdrang der IchErzählerin bis zum Exzess, unmittelbar und ganz nahe an der Figur. So laufen wir schließlich mit ihr ins offene Messer: Nach einer Vergewaltigung ist der Moment der Lebendigkeit für sie schlagartig vorbei, schlägt um in einen „Verteidigungsexzess“, wird zur Geschichte einer Rächung. Brutal und erbarmungslos werden wir mitgerissen mit diesem Debut: „Mein Körper wollte mich handeln sehen. … Innerhalb weniger Sekunden vollzogen meine Werkzeuge die Wandlung zur Waffe. Sie wollten selbst ihr Schicksal bestimmen. Meine Hände. Zwei Radikale im Dienste des freien Willens.“ Jana Sommeregger
 
Lisa Kränzler: Export A. Roman. 265 Seiten, Verbrecher Verlag, Berlin 2012 EUR 21,60

zum Seitenanfang springen

Die Geister der Leere

Ein Ozean aus Staub, in dem kein Überleben möglich ist, das Ergebnis eines Krieges, der sein Ende in einem alles verschlingenden Feuersturm fand. Übrig geblieben sind ein hoch in den Bergen gelegener Talkessel und sechs Menschen. Eine Zwangsgemeinschaft, die auf Dauer nicht ohne Konflikt bleiben kann. Ist der Großteil ihrer Energien zwar dem reinen Überleben gewidmet, sind ihnen immer noch ihre Wünsche und Sehnsüchte geblieben, ein Verlangen nach Nähe, nach Fortbestand. Nur einer, der Alte, der mit patriarchalischer Selbstverständlichkeit die Führungsrolle für sich beansprucht, will diesen letzten Rest Menschheit aussterben lassen und nutzt alle Mittel, um Barrieren zu schaffen. Martina, die sich mit ihrem jüngeren Bruder retten konnte, lehnt sich erbittert gegen den Alten auf, denn wozu überhaupt weitermachen, wenn weder Freund_innenschaft noch Liebe erlaubt sein sollen. Dass soziale Normen und gesellschaftliche Machtstrukturen selbst dann erhalten bleiben, wenn die Welt buchstäblich in Schutt und Asche liegt, ist eine durchaus realistische Einschätzung der Autorin und somit behält der 1961 erstmals erschiene Roman fraglos Aktualität. Lisbeth Blume
 
Hannelore Valencak: Die Höhlen Noahs. Roman. 256 Seiten, Residenzverlag, St.Pölten-Salzbug-Wien 2012 EUR 21,90

zum Seitenanfang springen

Seelischer Zustand als animalischer Mieter

Als Esther, deren Ehemann sich vor zwei Jahren das Leben genommen hat, einen Untermieter sucht, meldet sich nur ein Interessent: Mr. Chartwell, ein unangenehmer, bedrohlich wirkender, sprechender schwarzer Hund mit ekelhaften Angewohnheiten. Dieser dringt in Esthers private und später auch berufliche Welt ein und wird bald zum Mittelpunkt ihrer Gedanken und Handlungen. Erst nach und nach erschließt sich, warum Esther den neuen Untermieter gleichermaßen anziehend wie abstoßend empfindet. Der Roman „Mr. Chartwell“ spielt 1964 und erzählt von fünf Tagen im Leben von Winston Churchill und Esther Hammerhans, Bibliothekarin im „House of Commons“ in Westminster. Churchill, der Zeit seines Lebens unter Phasen tiefer Depression litt, nannte seine Krankheit „black dog“. Die Autorin Rebecca Hunt greift diese Metapher auf und beschreibt eindrucksvoll, wie die in Form eines Hundes externalisierte Krankheit von den ProtagonistInnen Besitz ergreift. Wird es Esther schaffen, den unangenehmen Untermieter wieder loszuwerden? Und welche Rolle spielen dabei Winston Churchill und ihr schüchterner Verehrer Corkbowl? Verena Hauser
 
Rebecca Hunt: Mr. Chartwell. Roman. Übersetzt von Hans-Ulrich Möhring. 256 Seiten, Luchterhand, München 2012 EUR 19,60

zum Seitenanfang springen

Im Sog der Sprache

Ina lernt Tamàs in einem Wiener Lokal kennen und augenblicklich ändert sich ihr ganzes Leben, ihre Wahrnehmung, ihr Denken, ihr Handeln. In konzentrierter Sprache schildert Susanne Gregor in ihrem beeindruckenden Debütroman die sofortige und totale Beziehungsabhängigkeit von Ina, die sich in ihrer Fixierung auf Tamás aufgibt und unter Vorwänden zu ihm nach Budapest übersiedelt. Diese selbstzerstörerische „Liebe“ wird von der Autorin mit hoher Dringlichkeit und Dichte beschrieben, die sie nachvollziehbar macht und die Unmöglichkeit von Distanz wiederholt: das Buch lässt sich kaum weglegen. Faszinierend sind die Atemlosigkeit und Unentrinnbarkeit der Sprache, mit Sätzen, die oft eine halbe Seite lang sind. Auch welche das Buch thematisch nicht interessieren mag, der sei es allein schon literarisch empfohlen, jeder Satz stimmt und erzwingt die Lektüre des nächsten. Das Ende der Geschichte ist dem des Buches entsprechend, der titelgebenden Ortslosigkeit wird Inas Ich entgegengesetzt. mel
 
susanne gregor: kein eigener ort. roman. 107 Seiten, edition exil, o. Ortsangabe 2011 EUR 12,00

zum Seitenanfang springen