In drei Novellen erzählt Hensel über Töchter, deren Daseinsberechtigung vor allem darin liegt, zu gehorchen und reibungslos
zu funktionieren. Während sie sich damit abmühen, bröckelnde häusliche Fassaden aufrechtzuerhalten, zerfällt im
Hintergrund die DDR mitsamt ihren Lügen. So kümmert sich Rita selbstlos um ihre demente, tyrannische Mutter, bis sie sich eines
Tages dazu entschließt zu flüchten. Die brave Tochter Babette bleibt mit ihrem Vater über seinen Tod hinaus auf
selbstzerstörerische Weise verbunden. Psychologisch nachvollziehbar erscheint lediglich die Protagonistin Wanda. Sie ist Papas
„Vögelchen, seine Squaw oder seine Königin“ bis sie eines Tages erlebt, wie sich ihr angehimmelter Vater an ihrer
gleichaltrigen Schulkollegin vergreift. Zum ersten Mal spürt Wanda den Wunsch, sich der Welt als eigenständiges Individuum zu
zeigen. Beim Theater, wo sie sich selbst zum Ausdruck bringen will, wird sie aber abgelehnt: „Wir wollen junge, lebendige Menschen.
Sie sind müde, Sie erreichen uns nicht. Sie sind nicht durchlässig und verstellen sich (…) Sie leuchten nicht. Sie haben keine Mitte.
Wir glauben Ihnen nicht, Wanda.“ Ähnliches dürften Leserinnen am Ende des Buches empfinden. „Federspiel“ vermag
weder zu erreichen noch zu berühren. Vielmehr hinterlassen die unklar herausgearbeiteten Charaktere einen schalen Nachgeschmack.
Lena Keyhan-Rad
Kerstin Hensel: Federspiel. Drei Liebesnovellen. 192 Seiten, Luchterhand, München 2012 EUR 20,60
Jede Menge souveräner Frauen finden sich in diesem „Best of“ der Erzählungen Gabriele Wohmanns. Ob in Friseursalons,
unglücklichen oder faden Männerbeziehungen, am Postamt, im Parkhotel oder auf Literaturtagungen bewähren sich die Protagonistinnen
dieser wunderbar ironisch erzählten Kurzgeschichten der großen deutschen Schriftstellerin oft erst auf den zweiten Blick. Da erweist sich
eine, die zunächst ihrem scheints unwiderstehlichen Mann verfallen wirkt, als furchtbare Rächerin mit feiner Klinge, sinniert die
Grillfestgästin über den Angstbegriff bei Kierkegaard und mischt sich die Poetikdozentin eine „sanftmütig stimmende Therapie
aus Selbstmitleid und Martini“. Wohmanns Erzählungen sind bissig und überraschend, witzig und meisterhaft. Die Enttäuschten
und Traurigen, die Betrogenen und Überforderten verstecken ihre Verletzlichkeit zwar nicht, lassen sich aber auch nicht darauf reduzieren.
Wenn sie fallen, so vermitteln die Erzählungen, stehen sie – mit oder ohne Hilfe – wieder auf, richten ihre Krone und gehen weiter.
Michaela Moser
Gabriele Wohmann: Eine souveräne Frau. Die schönsten Erzählungen. 285 Seiten, Aufbau Verlag, Berlin 2012 EUR 20,60
Sie wirken gleichermaßen wunderlich wie ganz reell, die wieder entdeckten Erzählungen der französischen Schweizerin Corinna Bille,
die heuer 100 Jahre alt geworden wäre. Das FreundInnen- Trio – zwei Männer, eine Frau –, das in der Titelgeschichte
über Walliser Alpmatten und durch Wälder streift; das Mädchen, das seinen sich verändernden Körper und noch so einiges
andere entdeckt; die alte Dame, die den Tod des eigenen Sohnes nicht wahrhaben will; der Vater, der Zeuge des Unfalltodes seines Kindes wird,
sie alle wirken gleichermaßen fern wie verloren, sind nicht wirklich greifbar und kommen einer beim Lesen doch erschreckend nah. Billes
Erzählungen lassen vieles offen, verweigern sich dem Geschichten-Erzählen und beschreiben Gefühle mit zeitweise fast schmerzhafter
Intensität. Keine leichte Kost, diese Lektüre, aber eine lohnende – für jene jedenfalls, die weder Wunderlichkeit noch die
Beschreibung harter Beziehungsrealitäten fürchten.
Michaela Moser
S. Corinna Bille: Schwarze Erdbeeren. Erzählungen. 172 Seiten, Nagel & Kimche, München 2012 EUR 20,50
Der 1996 entstandene Erzählband von Alma Lazarevska ist erstmalig in vollständiger Übersetzung vorliegend. Er handelt von
Momentaufnahmen in der 1400 Tage lang belagerten Stadt Sarajevo. Es geht in den Geschichten weniger um eine unmittelbare Darstellung des
Krieges, als um eine Parteinahme für seine zivilen Opfer. Sie widersetzen sich dem Wahnsinn des Ausnahmezustandes, indem sie sich in
ihrem ungewöhnlichen Leben weiter mit den alltäglichen Dingen beschäftigen. Dafna Pechvogel stirbt durch einen Schuss mitten
ins Herz, weil sie sich bei schwachem Licht nicht die Karten legte, sonst wäre sie sicher nicht auf die Brücke gegangen, um auf
die andere Seite zu gelangen. Einem kleinen Jungen wird eine Geschichte erzählt, indem das Ende umgefärbt wird, auch wenn sich
die Spuren des Krieges nicht umfärben lassen. In ein nordseitiges Schlafzimmer mit Blick auf ein Spital wirft sich ein zarter
Sonnenstrahl. Die Bedeutung der aneinandergereihten Erlebnisse ist nicht leicht zu entschlüsseln. Es braucht Zeit, die unterschiedlichen
Puzzleteile zusammenzusetzen, um die Bezüge zu deuten. Die Wahrheit der Menschen versteckt sich gern hinter der Fassade. Mit der Lupe in
der Handtasche bringt uns die Autorin aber auf die richtige Spur. Frauen und Kinder erhalten auf leisen Fußsohlen eine unüberhörbare
Stimme. Großartig!
ML
Alma Lazarevska: Tod im Museum für Moderne Kunst. Übersetzt von Elena Messner und Mascha Dabic. 119 Seiten,
Drava Verlag/Založba Drava, Klagenfurt/Celovec-Wien/ Dunaj 2012 EUR 17,80
„Dings“ ist so etwas wie eine Versuchsanordnung, eine unvollständige Enzyklopädie des
„Abgerissenen-und-irgendwo-wieder-Angenähten“. In medias res: In 330 – teils bloß mit Auslassungszeichen versehenen
– Anläufen sucht Lisa Spalt, das Wesen abgefallener, abgerissener und von ihr aufgegriffener Gegenstände zu erfassen. Es handelt
sich um „Dingse“, deren eigentlicher Zusammenhang nicht mehr rekonstruierbar ist: Das sind auf der Straße vorgefundene, merkwürdig
geformte und gefärbte Metall- oder Plastikfragmente nicht näher bekannter Waren oder Gebrauchsgegenstände, zerrissene Beziehungen,
die eigenen Körperteile und Kunstprodukte. Die Perspektive der Autorin und der LeserIn ist eine der Orientierungslosen ohne Möglichkeit
des distanzierten Überblicks zwischen den Dingsen. Konsequenterweise be- und umschreibt Spalt die Dinge so detailreich wie möglich.
Je genauer der Blick wird – und je weiter im Versuch zu verstehen der Rahmen zwischen alltäglichen und intellektuellen Bezugspunkten
aufgespannt wird –, umso klarer werden die Unschärfe und Un(er)fassbarkeit der Gegenstände und ihre Beziehung zur Welt. So sperrig,
wie das klingt, ist es auch. Der LeserIn, die es schätzt, wenn Literatur sich mit ihrem Gegenstand auseinandersetzt, um sich durch die
gewählte Form selbst zu verorten, sei ans Herz gelegt, sich mit Spalt als halbblinde Maulwurfin denkend durch die Dings-Welt zu wühlen.
Daniela Rader
Lisa Spalt: Dings. Prosa. 118 Seiten, Czernin, Wien 2012 EUR 17,90
Drei Versuche über die Liebe – oder Beziehungen? Oder das Zusammenleben? – zwischen Mann und Frau. So könnte ein
Versuch betitelt sein, den aktuellen Prosaband von Rosa Pock zu analysieren. Von drei sehr unterschiedlichen Beziehungen handeln die
Texte, erzählt in drei grundverschiedenen Tonarten. „anton und antonia“ ist der auf 15 Seiten ausführlich dargelegte
Plot einer Familiensaga im Österreich des 20. Jahrhunderts, beginnend mit der Kindheit des späteren Ehe-Paares, endend „bis
dass der Tod“ die zwei im hohen Alter geschieden hat; komplett mit Schicksalsschlägen im Verlauf der Kriegs- und
Nachkriegsgeschichte und den Lebensverläufen der Kinder. „wir sind idioten“ ist der Mittelpunkt des Buches. Der in ausnehmend
poetischer, vielschichtiger und künstlerisch verfremdeter Erzählsprache ausgeformte Monolog einer Frau über ihre
Gefühle für den bzw. mit dem geliebten Mann; Befindlichkeiten der Bezogenheit, eingebettet in scharfsichtige Beobachtungen der
Gesellschaft, des Kapitalismus, kurz der Rahmenbedingungen, die jede Beziehung gnadenlos mitbestimmen. Drauf folgt die kurze Skizze über
das Kennenlernen von „paul und paula“, die aus Liebe heiraten und miteinander unglücklich werden. Streng parallel erzählt
Pock die Entwicklung jeweils aus Paulas und Pauls Perspektive. Es genügen für die ganze Story zehn Seiten. Versuche? Übungen?
Entwürfe? – Wenn ja, dann jedenfalls meisterlich formulierte.
Helga Pankratz
Rosa Pock: wir sind idioten. Prosa. 96 Seiten, Literaturverlag Droschl, Graz-Wien 2012 EUR 16,00
In den ersten Erzählungen im neuen Band der Wiener Exil-Literaturpreisträgerin Seher Cakir steht das Mädchen Selda
im Mittelpunkt, das aus der Türkei nach Wien kommt. Die Darstellung der kindlichen Perspektive auf Fremdes und Unbekanntes,
die Interpretation von deutschen Wörtern, die türkischen ähneln, und die daraus folgenden Schlüssel sind großartig.
Cakir erzählt weiters von Träumen und Realitäten türkischer Frauen in Wien und Wienerinnen türkischer Herkunft
– immer wieder mit feinen Zwischentönen oder auch bestürzend. Im Laufe des Bandes beziehen sich die Erzählungen
nicht mehr aufeinander und es stehen jeweils erwachsene Frauen im Mittelpunkt, Liebe, Arbeit, Abtreibung und Verzweiflung erhalten Raum
und das titelgebende „festland“ droht zunehmend zu verschwinden.
mel
seher cakir: ich bin das festland. erzählungen. 128 Seiten, edition exil, Wien 2012 EUR 12,00
Zehn Erzählungen der amerikanischen Autorin Robin Black sind erschienen, sie handeln von den Erschwernissen und Erleichterungen in
menschlichen Beziehungen, und es geht um gereifte, aber auch verspätete Erkenntnisse, die die Erzählfiguren entwickeln. Ob es
die blinde Tochter ist, die sich emanzipiert, oder das alternde Ehepaar, das sich längst auseinandergelebt hat, aber den Konflikt
mit den Nachbarn in den Mittelpunkt ihres Lebens stellt, um die Ehegemeinschaft nicht zu hinterfragen. Krankheit und Tod verändern
menschliche Verhältnisse, die im Alleinsein persönlicher Gefühle eingebettet sind. Der Blick auf die unterschiedlichen
Menschen ist nicht immer einfach, weil menschliche Beziehungen auch selten unkompliziert sind, einiges bleibt rätselhaft, so dass
die Rezensentin zuweilen zurückblättern durfte, um besser zu verstehen, was sich hinter den Fassaden verbirgt. Es sind oft sehr
feine Nuancen, die die Literatin einbringt, um das Scheitern oder das Gelingen von Beziehungen erkennbar zu machen. Das Anliegen der
Autorin ist der Feinschliff, auch wenn die Schicksalsschläge eher heftig sind. Männer werden grob gerastert und bewegen sich
manchmal wie Statisten, während Frauen um ihre Rollen ringen, sich und ihre Geschichte zu verstehen, um damit auch ihr Gegenüber
annähernd zu begreifen. Empfehlenswert für Leser_innen, die das Leben suchen und mitten drin stecken.
ML
Robin Black: Wenn ich Sie liebte, würde ich Ihnen die Wahrheit sagen. Übersetzt von Brigitte Heinrich. 320 Seiten, Luchterhand,
München 2012 EUR 20,60
Manche fliegen zu Weihnachten ans Meer, andere sehnen sich zu Hause im Binnenland nach der See. Das Lesebuch „Strandgut“ kann
diese Sehnsucht für ein paar kuschelige Stunden überwinden helfen – oder verstärken, vor allem dann, wenn es nicht
unbedingt ein Meer mit Palmenstrand sein muss. Die Rundfunkredakteurin Kristine von Soden, die von Kindheit an ihre Ferien am liebsten an
Nord- oder Ostsee verbrachte, entführt in kurzen Kapiteln, die eine Mischung aus Stimmungsbildern, naturkundlichen oder geschichtlichen
Informationshappen, anekdotenhaften Beobachtungen und literarischen Schnipseln sind, zu Themen wie: Möwen, Bademode, Dünen, Strandkorb,
Wolken und FKK. Oder auch Wind: „Küstensüchtige … können gar nicht genug von seinen Böen bekommen, die die Haare
durcheinander wirbeln, Sorgen und Nöte wegpusten, die Haut streicheln oder frottieren.“ Glücklich, welche nicht bis zum
nächsten Sommer warten muss!
ESt
Kristine von Soden: Strandgut. Warum das Meer blau ist, der Bikini nie baden ging und alle Möwen Emma heißen.
119 Seiten, edition ebersbach, Berlin 2012 EUR 25,70
Ausgewählte Aufsätze und Polemiken von Ulrike Marie Meinhof, die im Zeitraum 1960 bis 1969 in der Zeitschrift
„konkret“ erschienen sind, wurden nun neu veröffentlicht. Die kurzen Artikel sind mit Erläuterungen
zu Namen und tagespolitischen Ereignissen versehen. Anfang der 1960er ist Meinhof Chefredakteurin von „konkret“,
danach veröffentlicht sie weiterhin Artikel, bis sie den Fernsehfilm „Bambule“ schreibt und dann mit der
Gründung der „Roten Armee Fraktion“ in den Untergrund geht. Der vorliegende Band sorgt – im Gegensatz
zu den RAF Action-Held_innen im Kino – für ein besseres Verständnis der Kritik Meinhofs an kapitalistischen
Mechanismen. Zentral werden das Notstandsgesetz, die Wiederbewaffnung Deutschlands und der Umgang respektive der Nicht-Umgang
mit Nazi-Deutschland, die Springerpresse und die Antiatombewegung behandelt. Die Journalistin erzählt uns also nicht
übers Wetter, wie sie selbst sarkastisch konstatiert, sondern zeigt direkt und präzise die Widersprüche der
Demokratie auf und erläutert anhand der Debatten um Benno Ohnesorgs Ermordung durch die Polizei, wie persönliche
Konflikte als „gesellschaftlich verursacht, als Ausdruck gesellschaftlicher Konflikte begriffen werden“ können.
Die Texte zeichnen Meinhofs politische Entwicklung von einem Selbstverständnis als Teil des Systems über die
Hinterfragung dessen bis zur Inszenierung als Teil der Lösung, die mehr als Schreiben darstellt, nach. Im Anhang befinden
sich eine Zeittafel zu Meinhofs Biografie und ein hilfreiches Nachwort.
Marlene Haider
Ulrike Marie Meinhof: Deutschland, Deutschland unter anderm. Aufsätze und Polemiken. 144 Seiten, Klaus Wagenbach Verlag,
Berlin 2012 EUR 11,30