Bettina Zehetner verbindet in ihrer Arbeit verschiedene Ansätze feministischer Theoriebildung (Egalitätsanspruch, Differenzansatz, De-/Konstruktivismus) mit den Potenzialen ihrer Umsetzung. Sie zeigt, wie psychosoziale Beratungspraxis sich verändert, wenn auf ein „kollektives Frauen- Wir“ verzichtet wird. Im Brückenschlag zwischen feministischer Theorie und (psycho)sozialer Praxis liegt die Bedeutsamkeit der vorliegenden Arbeit: u.a. werden die Begriffe „Authentizität, Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung als neoliberale Erfolgskriterien des ‚unternehmerischen Selbst‘“ in Frage gestellt. Insbesondere der „Schauplatz“ weiblicher Körper wird als „Material“ für diese Selbstunternehmung und -inszenierung analysiert. Die Literaturliste Zehetners offenbart sich als Mekka auf dieser historischen wie intellektuellen Zeitreise! Was sich in flüchtiger Ausprägung als „zwei Themen“ (feministische Theoriebildung und feministische frauenspezifische Beratungspraxis) erkennen lässt, wird hier so konsequent zusammengedacht und reflektiert, dass kein Zurück zu altbewährten Zugehörigkeiten mehr denk- und erlebbar erscheint. Dies führt bei Zehetner keineswegs zu einer theoretischen Verlustanzeige. Sie gibt kreativen Gestaltungsspielräumen den Vorzug: Affirmative Selbstbehauptung und vernichtende Auflösung dichotomer Zuordnungsmuster (weiblich/männlich, gesund/krank) verunsichern nur dann, wenn Beratungspraxis gängige Stereotype „in Gang“ respektive in Schwung bringen und erhalten will. Dagegen argumentiert Zehetner vehement. Ein schmaler Grat zwischen (gender)theoretischer De-/Stabilisierung im je individuellen Beratungskontext löst in ihrer Analyse einen persönlichen und gesellschaftspolitischen Entwicklungsprozess aus: „(D)ie emanzipatorische Intention feministischer Beratung – und gesellschaftskritischer Sozialarbeit – (besteht) darin, Mut zur Eigenwilligkeit und zum Sich-Wehren gegen verletzende und diskriminierende Behandlung zu machen als Alternative zur Anpassung an bestehende, krankmachende Verhältnisse.“ Ausgehend vom Körper als Oberfläche von Zeichen bis hin zu inneren (Vor)„Einstellungen“ in patriarchaler Entwicklungslogik, bleibt kein traditioneller Markstein auf dem anderen: In dieser konsequenten Ablöse von geschlechterkonstanten Tradierungen liegt die Überzeugungskraft ihrer Arbeit. Sie liefert „state of the art“ feministischer Theoriebildung unter Einbindung von queeren und intersektionalen Perspektiven sowie ein wichtiges Grundlagenwerk für Beratung, Psychotherapie und Medizin.
Gerlinde Mauerer
Bettina Zehetner: Krankheit und Geschlecht. Feministische Philosophie und psychosoziale Beratung. 317 Seiten, Turia + Kant, Wien-Berlin 2012 EUR 32,00
In diesem Band, der von Alexandra Kautzky- Willer herausgegeben wurde (sie erhielt 2010 die erste Gender Professur an der Medizinischen Universität Wien), werden Beiträge aus verschiedenen medizinischen Disziplinen versammelt. Kautzky- Willer stellt im Editorial die spannende Frage: „Warum Frauen länger leben und Männer früher sterben … Männer aber besser leben?!“ Damit korrespondiert, dass mehr Frauen über Vorsorgemaßnahmen Bescheid wissen und häufiger zu Vorsorgeuntersuchungen gehen und dennoch bei vielen Erkrankungen schlechter medikamentös eingestellt sind, „wenn man das Erreichen von kardiovaskulären Zielwerten wie Blutdruck, Blutfette oder Blutzucker heranzieht“. Im Beitrag zum Thema Ernährung von Johann F. Kinzl mutet die These „Essen und Nichtessen als Schutz: Starke Abmagerung durch lange andauerndes Nichtessen oder starke Gewichtszunahme durch vermehrtes Essen führen dazu, dass die betroffenen Personen als Sexualpartner ausscheiden“ in dieser krassen Formulierung seltsam an. Auf den genannten „Schutzfaktor“ ist – so die angemerkte Vermutung – nur eingeschränkt „Verlass“. Die insgesamt durchwegs interessanten Beiträge behandeln u.a. Gender-Aspekte bei Erkrankungen der Schilddrüse, Osteoporose, Geschlechterunterschiede bei Herzinsuffizienz, Gender und Krebserkrankungen, Gender und obstruktive Lungenerkrankungen. Aktuelle Erkenntnisse aus der Gender Medizin werden im Band gut verständlich dargestellt. Das Buch richtet sich v.a. an MedizinerInnen in Ausbildung, ist jedoch auch für generell an (gender) medizinischen Themen interessiertes Lesepublikum gut geeignet.
Gerlinde Mauerer
Gender Medizin. Hg. von Alexandra Kautzky-Willer. 239 Seiten, Böhlau Verlag, Wien-Köln-Weimar 2012 EUR 25,70
Dieser englischsprachige Sammelband untersucht Reproduktionstechnologien in ihren lokalen Konfigurationen und transnationalen Verstrickungen und zieht hierfür ethnografische Beispiele aus vielen verschiedenen Ländern (z.B. Türkei, Mali, Rumänien, Sri Lanka oder Deutschland) heran. Verwandtschaftsverhältnisse, eines der zentralsten Erklärungsschemata, mittels derer Menschen ihre Zugehörigkeit sowie ihre (vergeschlechtlichte) Entstehung klären, erscheinen im Kontext von Reproduktionstechnologien als nicht mehr ganz stabil. Sie müssen neu verhandelt und gedacht werden, und dieser Moment gilt den Herausgeber_ innen als Einstiegspunkt, da hier naturalisierte aber soziale Verhältnisse durch ihre Anpassung und Neudefinition klarer als sonst hervortreten und einer Analyse zugeführt werden können. Besonders interessant sind jene Beiträge, die zeigen, wie Standards und Bedeutungen verschiedener Reproduktionstechnologien im Zuge ihrer Reise in die lokalen Kontexte übersetzt und passend gemacht werden. Ein durchgängiges Thema des Buches sind Grenzen: jene, die medizinische Produkte und Prozeduren, Diskurse und Regelwerke überwinden; jene, mit denen Menschen konfrontiert sind, die Reproduktionstechnologien in Anspruch nehmen wollen, jedoch auf Grund der rechtlichen oder bioethischen Bestimmungen ihres Herkunftslandes das Lokale verlassen müssen; aber auch jene, die sich entlang altbekannter Trennlinien wie Nord und Süd neu konstituieren. Die Autor_innen schöpfen in ihren Arbeiten aus einem reichen Fundus ethnografischer Forschungen und zeigen auf eindrucksvolle Weise deren (analytische!) Stärke. Ein thematisch wie theoretisch hochaktueller und erhellender Band – große Empfehlung!
soe
Reproductive Technologies as Global Form. Ethnographies of Knowledge, Practices, and Transnational Encounters. Hg. von Michi Knecht, Maren Klotz und Stefan Beck. 386 Seiten, Campus Verlag, Frankfurt 2012 EUR 41,10
Marina Hilber veröffentlicht in ihrem Buch interessantes Archivmaterial aus Landeseinrichtungen in Tirol. Dokumentiert sind die Phasen der Institutionalisierung des Gebär- und Findelhauses und später der Landesgebärklinik in Innsbruck sowie weitere Dokumente, die den Umgang mit Schwangeren und Wöchnerinnen im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert belegen. Zwischen 1820 und 1924 beherbergte das Innsbrucker Gebärhaus „insgesamt mehr als 40.000 Frauen, die auf Grund unterschiedlichster Motive in einem hospitalisierten Umfeld gebären wollten oder mussten“. „Das Angebot einer Spitalsgeburt wurde zunächst nur zögerlich angenommen und selbst 1890 stellten verheiratete Frauen in Innsbruck nur zehn Prozent der Gesamtaufnahmen.“. Die Entwicklung operativer Eingriffe im Bereich Geburtshilfe liest sich wie ein Krimi. Gegen einen unbeliebten Professor solidarisierten sich Personal und „Insassinnen“ erfolgreich, um ihr Wohlergehen in der Klinik zu verbessern. Die detailreiche Studie enthält u.a. auch Angaben zur Ernährung der Schwangeren und Wöchnerinnen sowie zur räumlichen Situation in der Anstalt. Sie wurde im Fach Geschichtswissenschaften und Europäischer Ethnologie verfasst und ist anhand der Institutionengeschichte als rotem Faden höchst interessant gegliedert: Er bündelt die Geschichte der Frauen und lässt sie im (medizin)historischen und regionalen Kontext vorrespektive zu Wort kommen. In diesem Buch ist enorm viel Wissen aufgearbeitet.
Gerlinde Mauerer
Marina Hilber: Institutionalisierte Geburt. Eine Mikrogeschichte des Gebärhauses. 358 Seiten, Reihe Historie Band 33, transcript, Bielefeld 2012 EUR 41,00