Endgame: Den rauen Leinendeckel umschließt eine großformatige Referenz an die „Rote Kavallerie“. Ineinander übergehende Grün-, Braunund Rottöne stellen knappe achtzig Jahre nach Kasimir Sewerinowitsch Malewitschs Original eine Verbindung her, die ankündigt: Hier tritt Kunst an, politisch was zu wollen. Jenny Holzer hat sich nach mehreren Jahrzehnten malerischer Abstinenz in den Archiven der US-Regierung um Material umgesehen und hat, was ihr zugänglich war, zu überdimensionierten Öltafeln aufgeblasen: Dokumente des brutalen Schmerzes, der Kriegsgefangenen im Irak und in Afghanistan unter der Ägide der US-Armee methodisch zugefügt wurde. Anleitungen zur Folter, die minutiös, mathematisch, medizinisch ausgearbeitet wurden, um wirksam und in ihrer Wirkung überprüfbar zu sein. Die Dokumentationen der Anwendung und die Protokolle von Beamt_innen, Soldat_innen und Folteropfern wurden von den Behörden zensiert. Holzer nähert sich dem Wahnsinn über den grafischen Ausdruck der Zensur: Die geometrischen Formen, die die behördliche Schwärzung der Zeilen hervorbringt, malt Holzer in neu definierten Farben und Größen ab. Auch die wenigen Worte, die noch lesbar sind, und die sofort und unvermittelt Klarheit verschaffen über das, was getan wurde und wie und was weiterhin getan wird, zeichnet Holzer nach. Die beinahe rührende Genauigkeit, mit der behördlich unter Kontrolle gebracht wird, welche Worte und Wortfetzen über die Verbrechen am menschlichen Körper an die Öffentlichkeit geraten dürfen, wird auf den großen Leinwänden in ihrer ganzen Gewalttätigkeit offenbar. Kein Band für geruhsamen Kunstgenuss, sondern ein überzeugendes Buch zur unangenehmen Frage, wie es weitergehen soll.
Lisa Bolyos
Jenny Holzer: Endgame. 74 Seiten, Distanz Verlag, Berlin 2012 EUR 41,10
„A herzlich´s Grüß Gott“ steht auf der weißen Rüschenbluse gestickt. Mit Hotpants, roten Stiefeln, Steckfrisur und rotem Kussmund sitzt das Model vor einem Regal mit lederner Motoradbekleidung für Männer. Das Bild entspricht ganz den medialen Inszenierungen von weiblichen und männlichen Stereotypen in der Werbung, mit denen wir alltäglich konfrontiert sind. Doch beim Betrachten des Fotos stört irgendetwas die Idylle von der schönen Welt. Es ist die Inszenierung, die Pose, welche das Arrangement als Maskerade entlarvt. Genau hier setzt die Künstlerin Catrine Val an. Mit ihren fotografischen Inszenierungen zwischen Performance und Mode wechselt die Künstlerin mit einer Leichtigkeit die Identitäten wie Models ihre Kleider. Als Dramaturgin/Fotografin hinter der Kamera und als Performerin/Model vor der Kamera konstruiert und dekonstruiert sie ihr Eigenbild durch chamäleonhafte Verwandlungen und fiktive Personen. So überrascht die Fotokünstlerin auf jeder Seite dieses schön gestalteten Fotobuches mit ihrer bizarren und bis ins kleinste Detail genau inszenierten Wunderwelt. Verortet in die provinzielle Nachkriegsarchitektur Deutschlands entstehen oft skurrile, aber auch ins komische tendierende Szenerien.
Frauke Kreutler
Catrine Val: FEM!NIST. 78 Farbabbildungen. Texte von Annie Goodner und Barbara Vinken. 120 Seiten, Kehrer Verlag, Heidelberg-Berlin 2012 EUR 36,00
„Was ist Verrat?“ ist der Katalog des gleichnamigen thealit Labors, das zwischen September 2010 und Februar 2011 vielfältige Forschungsprojekte, eine Ausstellung, ein Symposium sowie eine kontinuierliche Lesegruppe zum Thema umfasste. Gemäß dem Anspruch eingedenk der (Geschlechter-) Differenz, Rahmenbedingungen für eine vielgestaltige theoretische und künstlerische Reflexion kultureller Fragen zu schaffen, versammelt der Band sehr unterschiedliche Beiträge von der Spielanleitung über einen nacherzählten Vortrag bis zur Entstehungsgeschichte einer Klangcollage. Anhand von Analysen und experimentellen Erkundungen aktueller Medienphänomene wie sozialen Netzwerken oder Reality-Soaps, juristischer Grundlagen für die Bestrafung von Verrat, dessen psychischen und erkenntnistheoretischen Bedingungen und vielem mehr wird ein ebenso begriffliches wie habituelles Kontinuum erkennbar, dessen krisenhafte Bezugspunkte Identität, Sicherheit, Kapital und Gemeinschaft nicht aufhören, unsere Freiheit zu korrumpieren. Das Format besticht insbesondere durch die Lesbar-Machung auch kollektiver Aspekte des kritischen und humorvollen Denkens und macht Lust auf mehr aus dem Labor.
Miriam Wischer
Was ist Verrat? Hg. von Claudia Reiche und Andrea Sick. 283 Seiten, Thealit Frauen.Kultur.Labor, Bremen 2012 EUR 15,00
2012 erhielt Ulrike Ottinger den „Spezial-Teddy“, mit dem seit 1987 jeweils am Vorabend der Verleihung des Goldenen Bären in Berlin die besten schwul/lesbisch/trans Filme und Filmemacher_ innen ausgezeichnet werden. „Film ist für mich das adäquateste Medium unserer Zeit“, sagt Ottinger dann auch im Trailer (!) zu ihrer Ausstellung in der Münchner Sammlung Goetz, die diesen Oktober zu Ende ging. Zu sehen war dort Ottingers „Floating Food“, eine Installation von Sequenzen aus vierzig von ihr produzierten Filmen, in der Dokumentation und Fiktion einander den Ball zuspielen. Einen bleibenden Einblick in Ottingers jahrzehntelanges (und fortdauerndes) Schaffen bietet die Publikation, die zur Ausstellung produziert wurde und selbst ein kleines Archiv geworden ist: Deckel auf und hereinspaziert in die wilde Welt von Ulrike Ottinger! Hier ist keine scharfe Trennlinie zwischen Dokumentation und Utopie, zwischen Sehen und Inszenieren auszumachen. Wie zufällig scheinen auf Ottingers Reisen, die sie vornehmlich in die Steppengebiete Asiens und nach Japan, aber auch in mitteleuropäische (Klein)Städte unternahm, plötzlich dickgeschminkte Bühnenfiguren aus der mongolischen Eisenbahn zu springen. Menschen in gar nicht normierten Körpern nehmen mit selbstbewusster Schönheit das Olympiastadion ein. Elfriede Jelinek posiert im Wiener Prater vor der Wandmalerei „Gorilla und weiße Frau“. Das „Buch zum Film“, das ein Buch zum Lebenswerk wurde, ist neben Geschichten aus den Filmen gespickt mit Geschichten über die Filmproduktionen, über Ottingers frühe Kunst- und Galeriearbeit, ihre queren Blicke auf Shanghai wie auf Konstanz, und vor allem auf ihre solidarische Haltung, ihren Wunsch an die Welt.
Lisa Bolyos
Ulrike Ottinger. Hg. von Ingvild Goetz, Karsten Löckemann und Susanne Touw. 176 Seiten, Hatje Cantz, München 2012 EUR 36,00
Die Kunsthistorikerin Frances Borzello hat sich schon zuvor in mehreren Publikationen mit der Rolle der Frau in der Kunst auseinandergesetzt. In dem kürzlich erschienen Buch beleuchtet die Autorin anhand einer exemplarischen Auswahl von Kunstschaffenden aus fünf Jahrhunderten die spezifischen Bedingungen, mit denen Frauen bei der Ausübung ihres Berufes konfrontiert waren. Borzello beleuchtet die Arbeitswelten berühmter Künstlerinnen von der Renaissance und des Barock bis zur Feministischen Kunstrevolution Ende des 20. Jahrhunderts. Vorgestellt werden u.a. die Malerinnen Sofonisba Anguissola und Artemisia Gentileschi, die heute weniger bekannten Bildhauerinnen Luisa Roldán und Marie-Anna Collot sowie die wichtigste Malerin des europäischen Klassizismus Angelica Kauffmann und die Vertreterin der abstrakten Kunst Georgia O´Keeffe. Durch ihre profunden Recherchen zu den begrenzten Ausbildungsmöglichkeiten, Arbeitsbedingungen und den alltäglichen Problemen, mit denen Künstlerinnen im Gegensatz zu ihren Kollegen konfrontiert waren, hinterfragt die Autorin die als typisch weiblich geltenden Genres, wie jene der Porträt-, Blumen- oder Miniaturmalerei. Genau das macht die Stärke des Buches aus. Anhand umfangreichen Quellenmaterials schafft es die Autorin, die Kunst der Frauen innerhalb einer männerdominierten Kunstgeschichte zu verorten und wirft somit ein komplexes Bild auf das Kunstschaffen von fünf Jahrhunderten. Ergänzt mit vielen Anekdoten und illustriert mit rund 245 Abbildungen ergibt das einen sehr spannenden Einblick in das Berufsbild der Künstlerin und dekonstruiert ganz sicher so manche Vorstellung von „typisch weiblicher“ Kunst.
Frauke Kreutler
Frances Borzello: Sobald ich vor der Leinwand saß… Künstlerinnen aus fünf Jahrhunderten. Übersetzt von Cornelia Panzacchi. 224 Seiten, GerstenbergVerlag, Hildesheim 2012 EUR 25,70