Wer Lilian Faschingers Bücher kennt, weiß um ihre bitter-ironische und höchst amüsante Art, das absurd-morbide
Österreichische zwischen zwei Buchdeckeln einzufangen. In ihrem neuen Roman knüpft sie thematisch an diese Erfolge an,
wenn die Gerichtsmedizinerin Sissi Fux (die bereits als Freundin von Emma einen Auftritt in „Stadt der Verlierer“
hatte) in ihre Heimat im südsteirischen Sausal zurückkehrt, um dem Begräbnis ihres Vaters beizuwohnen. Als ein
Blitzschlag die Begräbnisgesellschaft und Sissi auf Stefan, den Ehemann ihrer langjährigen, bei einem Badeunfall
verstorbenen Freundin Regina, trifft, nehmen die Dinge ihren Lauf. Das Sausal entpuppt sich als ein Biotop skurriler Typen,
Begegnungen und Geschichten; in Sissi steigt die Neugier – auf Stefan sowie darauf, den Tod von Regina etwas genauer
unter die Lupe zu nehmen. Dabei verschlägt es sie schließlich bis in den tiefsten Süden Italiens, der dem tiefsten
Süden der Steiermark gar nicht so unähnlich erscheint. Faschinger gelingt es auch in diesem Buch scharfzüngig
und witzig den Katholizismus, mangelnde Entnazifizierung und andere gesellschaftspolitische Befindlichkeiten sprachlich und
inhaltlich sehr eloquent zu verarbeiten. Für „passionierte“ Faschinger LeserInnen fehlt vielleicht ein Quäntchen
origineller Würze, ein höchst schmackhaftes Leseerlebnis ist das Buch aber dennoch.
Kordula Knaus
Lilian Faschinger: Die Unzertrennlichen. Roman. 320 Seiten, Paul Zsolnay Verlag, Wien 2012 EUR 20,50
Liz ist zurückgekehrt in das Farmhaus am kanadischen See, in dem sie als Kind ihre Sommerferien in der Großfamilie verbrachte.
Höhepunkt und zugleich ein das Ende des Sommers verkündendes Ereignis war das Sammeln der Monarchfalter vor dem Abflug
über den großen See, zu Tausenden saßen sie auf dem Baum, der aussah, als würde er brennen. Die Lebens- und Wanderzyklen
der Schmetterlingsgenerationen, die in ihrer Komplexität doch nur das einfache Ziel verfolgen, eine neue Generation hervorzubringen,
sind nicht nur leitendes Motiv und wiederkehrende Metapher in der Romanhandlung, sondern auch im Leben von Liz, die sich als
Lepidopterologin ganz den Monarchfaltern verschrieben hat. Einem zunächst unbekannten Gegenüber erzählt sie die Geschichte(n)
ihrer Kindheit und Jugend in der Obstplantage am See, von Spielen, Festen, den Cousins, der Cousine und dem manischen Onkel, von erster
Liebe und dem abrupten Ende all des kindlichen Sommeridylls, das von jeher im strengen Gegensatz zu den arbeitsintensiven Erwachsenensommern
stand. Aber auch vom Wandel einer Region durch die Jahrzehnte, ihr Leben in selbstgewählter Einsamkeit. Im am Buchmarkt gut vertretenen
Genre Generationenroman sticht „Der Schmetterlingsbaum“ äußerst positiv hervor. Literarisch wertvoll und sprachlich anspruchsvoll.
Der sanfte Spannungsbogen erweckt bis zuletzt mehr Neugierde auf Motive und Innenleben der Figuren als die bloße Auflösung des faktischen
Geschehens. Ein wahres Highlight in diesem Bücherjahr.
ESt
Jane Urquhart: Der Schmetterlingsbaum. Roman. Übersetzt von Barbara Schaden.
239 Seiten, Bloomsbury, Berlin 2012 EUR 20,50
Am 13. Dezember 1937 besetzten japanischen Truppen Nanking, die Hauptstadt der chinesischen Provinz Jiangsu. Bei den folgenden Massakern wurden
mindestens 200.000 ZivilistInnen und Kriegsgefangene ermordet, zehntausende Mädchen und Frauen vergewaltigt. Vor dem Hintergrund dieser
Verbrechen erzählt die beeindruckende chinesische Bestsellerautorin Geling Yan von den verzweifelten Versuchen zweier Priester, des Kochs
und eines Hausgehilfen der amerikanischen Kirche, die Mädchen der Missionsschule zu retten. Diese bleiben weitgehend abstrakt, während
einzelne Prostituierte, die ebenfalls Zuflucht auf dem Gelände suchen, und einige Angehörige der chinesischen Armee etwas mehr Gestalt
gewinnen. Dass eine Verbindung zwischen diesem Mikrokosmos und den grausamen Verhältnissen in der Stadt nicht gelingt, wäre
vernachlässigbar, würden die HeldInnen des Romans nicht nur durch einfache Figurenbeschreibung und einen pflichtbewussten Familienappendix
charakterisiert. Das Buch wurde auch erfolgreich verfilmt, vielleicht ist es als Filmvorlage besser geeignet.
Heide Hammer
Geling Yan: Die Mädchen von Nanking. Roman. Übersetzt von Greta Löns. 224 Seiten, Knaus, München 2012 EUR 18,50
Ein Liebesbeweis von ihrem Freund Jonathan veranlasst Wanda dazu, ihre nunmehr dreijährige Beziehung in Frage zu stellen. In ihrer Wahrnehmung
möglicher Zukunftsperspektiven fühlt sich Wanda durch das Damoklesschwert von Heirat und Kindern bedroht. Sie sucht in der Vergangenheit
nach Antworten auf folgende Grundfragen: Was wünsche ich mir? Was bedeutet Glück für mich? Ihre – zum Teil überfallsartigen
– Besuche bei Ex-Freunden offenbaren unterschiedliche Lebensmodelle, die Wanda bei der Erforschung ihrer eigenen Wünsche und Bedürfnisse
unterstützen. Nach ihrem ersten Roman „Acht Wochen verrückt”, in dem es um den Umgang mit Burn-out und psychischen Krankheiten geht,
betritt Eva Lohmann in „Kuckucksmädchen” mit einer Beziehungsgeschichte traditionelleres Terrain. Wie in ihrem Erstlingswerk gelingt es Eva
Lohmann, der Leserin einen vergnüglichen und kurzweiligen Roman anzubieten, welcher allerdings thematisch deutlich weniger subversive Elemente
liefert als ihr vorheriges Buch.
Karina Knaus
Eva Lohmann: Kuckucksmädchen. Roman. 176 Seiten, Piper, München 2012 EUR 17,50
In kurzen Reportagen beschreibt die Journalistin Annett Gröschner, was sie auf der Fahrt mit einer Linie 4 zu sehen bekommt und mischt dem
Informationen, Sozialkritisches, Geschichte und Geschichtchen über die jeweilige Stadt, den jeweiligen Platz unter. Seit zehn Jahren fährt
Gröschner in verschiedenen Städten mit einem Bus oder der Straßenbahn Nummer 4 von Endstation zu Endstation. Ebenso die Wahl der Nummer 4
als jener, mit der sie als Kind zur Schule fuhr, wie auch des Sujets an sich, mit diesen öffentlichen Verkehrsmitteln eine Strecke abzufahren,
sind zufällige Kriterien, für die sie sich eben entschieden hat. In 34 Texten lässt sie Leser_innen an ihren assoziativen Beobachtungen
von Mitreisenden und dem Außen des Busses oder der Tram teilhaben, sie berichtet zwischen Buenos Aires, Berlin, Peking, Tel Aviv, Szczecin, Istanbul
und anderen zufälligen Orten von der längsten und kürzesten Linie 4, von der Übernahme von Westgarnituren in Osteuropa, von
Fahrscheinsystemen, Streckenplänen und dem Quietschen der Schienen. Dies beinhaltet interessante Details, aber auch einige Längen.
mel
Annett Gröschner: Mit der Linie 4 um die Welt. Mit Fotografien von Annett Gröschner und Arwed Messmer. 400 Seiten, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2012 EUR 23,70
Cecilia, Autorin und Mutter dreier Töchter, zieht zurück ins Dartmoor, um in der Nähe ihrer krebskranken Mutter Dora zu sein. Mit der
Nähe zum Ort ihrer Kindheit kommen die Erinnerungen zurück. Erinnerungen an ihre erste verbotene Liebe zu ihrem Lehrer James Dahl, mit dem
sie weitaus mehr verband als die Liebe zur Literatur. An ihr erstes Kind, das sie nur einmal kurz nach seiner Geburt gesehen hat. An ihr Leben in einer
Kolonie von KünstlerInnen und AussteigerInnen, an das Moor und den Nebel, an den liebevollen, aber verantwortungslosen Vater und an die Mutter, die
zu sehr mit sich selbst beschäftigt war. Dora kämpft mit dem Tod und darum, die Liebe ihrer Tochter wiederzugewinnen und Vergebung zu bekommen
für das Unrecht, das sie ihr angetan hat – im Glauben, das Beste für sie zu tun – oder vielleicht nur das Beste für sich? Und
sie hängt ihrer geheimen Liebe zu Elisabeth, Dahls Frau nach, mit der sie 25 Jahre Lust und Leiden verbinden und die sie nie aufgeben konnte.
Briscoe erzählt ihre Geschichte in mehreren Schleifen zwischen Gegenwart und Vergangenheit in einer Sprache, die geprägt ist von der schönen
Rauheit der Landschaft und Dialogen, die oft dann abzubrechen drohen, wenn sie die Vergangenheit berühren. Sie erzählt mit scharfem Blick eine
Geschichte von Beziehungen zwischen den Generationen und darüber, was Geheimnisse und die vermeintliche Notwendigkeit zu schweigen anrichten
können. Und sie erzählt mit romantischem Herzen eine Geschichte von der Liebe. Wie weit sind wir bereit, für die Liebe zu gehen? Wie sehr
sind wir bereit, uns an jemanden zu binden, den wir nicht halten können? Eine schöne Parabel auf die Liebe, auf Familie und die Beziehung zwischen
Müttern und Töchtern. Vielleicht ein wenig zu konstruiert, was die Vereinigung der diversen Erzählstränge betrifft, aber in jedem Fall
ein großes Lesevergnügen.
vab
Joanna Briscoe: Gefährliche Nähe. Roman. Übersetzt von Gaby Wurster. 496 Seiten, Bloomsbury, Berlin 2012 EUR 23,60
Wenn Musik das ist, was geschieht, wenn eine hinhört, dem Vibrieren der Luft folgt und das Flirren unter der Haut fühlt, wenn die Schönheit
im Küssen einer Tomate verborgen ist oder in der Schüchternheit einer blassblauen Pflaume, wenn eine das Glück spüren kann wie den
Regen, dem sie nicht auskommt, weil der Regen überall ist, wenn die Tiefe der Pfütze im Sonnenschein eigentlich die Höhe des Himmels ist
und die Pfütze nach ein paar Stunden Sonne einfach verschwindet, dann kann jede irgendwann die Welt bekommen, die sie sich in ihrem Kopf erträumt
und erschaffen hat. Auch dann, wenn der Weltuntergang bereits begonnen hat, Wunden über Nacht kommen und Verbrennungen auf der Haut hinterlassen und
es der einzige Kick des Tages ist, am Abend ein Knäckebrot zu essen. Die Musikerin in Fee Katrin Kanzlers Debütroman lebt ihr Leben mit allen
Sinnen, zwischen Ekstase und Verrücktheit, verliebt sein und verloren sein, zwischen zwei Männern, zwischen ihrer Musik und ihrem Publikum. Ein
poetischer Text, geschrieben mit allen Sinnen. Schön.
vab
Fee Katrin Kanzler: Die Schüchternheit der Pflaume. Roman. 317 Seiten, Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt/M. 2012 EUR 20,50
Seoul, Hauptbahnhof. Zum Besuch ihrer erwachsenen Kinder angereist, geht die Bäuerin So-Nyo Park im Trubel der Menschenmenge verloren und bleibt
verschwunden. Die Beschreibung der Mutter lässt sich zwar auf einem Flugblatt zusammenfassen, was bleibt ist für Töchter, Sohn und Ehemann
gleichermaßen die Frage, wer diese Frau, die ihnen allen so selbstverständlich war, denn eigentlich ist. Aus den Perspektiven der einzelnen
Familienmitglieder entsteht so, durch die Rückschau auf die Mutter, die dichte Schilderung eines Frauenlebens im ländlichen Südkorea. In
diesem gibt es in erster Linie Arbeit, ist sie doch wild entschlossen all ihren Kindern eine gute Schulbildung zu ermöglichen, auch wenn es der Sohn
ist, dem sie beim Essen die besten Bissen zukommen lässt. Aber auch Wandel, denn trotz ihres Festhaltens an Traditionen erfüllt sie der Erfolg
einer Tochter, deren Bücher sie sich im Nachbardorf vorlesen lässt, mit Stolz, während sie der Entscheidung der jüngeren Tochter, sich
ausschließlich der Erziehungsarbeit zu widmen, mit besorgter Skepsis gegenübersteht. Trotz aller liebevollen Wertschätzung bleiben der Familie
die Wünsche und Sehnsüchte der Mutter ebenso verborgen wie deren Geheimnisse. Die enthüllt sie der gebannten Leserin letztendlich und
glücklicherweise selbst.
bw
Kyung-Sook Shin: Als Mutter verschwand. Roman. Übersetzt von Cornelia Holfelder-von der Tann. 256 Seiten, Piper, München 2012 EUR 20,60
Der mit dem deutschen Buchhandelspreis im Oktober 2012 ausgezeichnete Roman von Ursula Krechel handelt vom unbeirrbaren Glauben an das Recht, Gerechtigkeit
zu erfahren in den Gründungsjahren der Bundesrepublik Deutschland. Im Mittelpunkt stehen der jüdische Zivilrichter Dr. Richard Kornitzer, der
1947 aus dem Exil in Kuba heimkehrt, und seine örtlich versprengte Familie. Seine berufliche Wiedereingliederung in Mainz gelingt ihm nur
äußerlich. Stark sind Kornitzers gedankliche Ressentiments, dass er sich in etwas systemisch einfügen muss, was nahtlos Menschen reproduziert,
die zuvor noch euphorische Nationalsozialisten waren. Seine Versuche, eine entsprechende monetäre Wiedergutmachung und damit seelische Genugtuung
für den im dritten Reich zugefügten Schaden zu erhalten, beschäftigen ihn so sehr, dass er darüber seine Gefühle und Beziehungen
vernachlässigt. Schließlich ist dem Opfer eine späte Rehabilitierung nicht vergönnt. Krechel beschreibt ein düsteres, verbittertes
Leben, wo jemand blind für das persönlich Nächste wird und damit ganzheitlich zum Scheitern verurteilt ist. Der Schreibstil kehrt eine
emotionslose Amtssprache hervor, wenn der Hauptakteur mit den Vertretern der Behörden korrespondiert. Die bildreichen Passagen über die im Krieg
nach England transportierten Kinder, Kornitzers Exil in Kuba sowie sein erstarrtes Eheleben spiegeln das aus der Bahn geschleuderte Leben, das nicht
rückgängig gemacht werden kann. Die missglückten Brüche der Nachkriegsgesellschaft mit ihren Tätern verursachen Brüche in
den Beziehungen der Opfer und blockieren und fragmentieren diese. Eine eindrucksvolle Aufarbeitung der Trümmergesellschaft.
ML
Ursula Krechel: Landgericht. Roman. 495 Seiten, Jung und Jung, Salzburg-Wien 2012 EUR 29,90
Aus einem dicht bewohnten Viertel einer unbenannten Stadt im Iran erzählt die Protagonistin in Fariba Vafis Debütroman vom Alltag. In
diesem finden sich zwei aufgeweckte Kinder, eine unbeugsame Mutter, eine die Konventionen beugende Schwester und ein Ehemann, den es in die Ferne
zieht. Eine Insel, denn der Iran drumherum wird nicht erwähnt, vielmehr findet sich die Leserin in einer ganz persönlichen Gedankenwelt
wieder, in der das Vergangene, wie etwa die langsame, krankheitsbedingte Auflösung ihres Vaters, Blasen wirft und die Gegenwart von der Frage
beherrscht wird, ob der Wunsch ihres Mannes, nach Kanada auszuwandern, auch ihr eigener ist. Denn am Unklaren darüber, ob und wovon, dem Land
oder dem Mann, sie denn eigentlich weg will, erkennt sie auch das Bedürfnis an ihrer Verwurzelung festzuhalten, ehrlich zu sich selbst will
sie sein und letztendlich die Freiheit zur Wahl haben. Sprachlich leichtfüßig und melancholiefrei. Die anschießende Erklärung des Textes
im Nachwort durch einen nicht näher erklärten Said wäre verzichtbar gewesen.
bw
Fariba Vafi: Kellervogel. Roman. Autorisierte Übersetzung der Persian language edition. 160 Seiten, Rotbuch Verlag, Berlin 2012 EUR 17,50
Der Arzt und fanatische Rassenforscher Mengele hatte sich in Auschwitz auf Zwillingsforschung und Wachstumsanomalien spezialisiert und wollte sich
mit den Ergebnissen seiner vielfältigen Medizinverbrechen habilitieren. Nach Kriegsende verbrachte er ein paar Jahre als Knecht in Oberbayern
und reiste 1948 ins perónistische Argentinien, wo er, finanziell gut ausgestattet und von bestens funktionierenden Netzwerken der Nazis
unterstützt, recht gut leben konnte und zeitweise sogar seinen richtigen Namen gebrauchte... Auf diesen Fakten und einigen Mythen, die sich
um Mengele ranken, baut die Geschichte einer Begegnung des Deutschen mit einem aufgeweckten, klein gewachsenen Mädchen und dessen Familie im
Argentinien der 1960er Jahre auf. „José” geht weiter seinen Forschungen nach, überredet die Familie zu Experimenten mit Wachstumshormonen,
„hilft“ bei einer Zwillingsgeburt und dokumentiert akribisch alle seine Versuche. Als Eichmann festgenommen wird und die
KZ-Überlebende Nora Eldoc ihn findet, zieht er weiter – mit gut organisierter Hilfe versteht sich. Das Mädchen hat er skrupellos benutzt
und geschädigt. Vor dem Hintergrund der weiter wirksamen Netzwerke der Nazis wird prägnant und beklemmend vom erbarmungslosen Machtmissbrauch
durch den Rassenhygieniker, Mediziner und Mann Mengele erzählt. Empfehlenswert!
Hedi Presch
Lucía Puenzo: Wakolda. Roman. Übersetzt von Rike Bolte. 192 Seiten, Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2012 EUR 19,50
… Analyse”, so heißt der Untertitel des neuen im heurigen Sommer erschienenen Romans von Iris Hanika. In spiralförmigen Bewegungen
werden Verlauf, Ende und Anfang einer über Jahre dauernden neurotischen Affäre zwischen der Ich- Erzählerin und einem Mann
beschrieben. Wie schon von früheren Werken bekannt, wechselt die Autorin auch in ihrem neuen Roman oft die Form. So werden in essayistischer
Weise Informationen allgemein über Heavy Metal Musik und Kultur und im Besonderen Texte und Musik von Led Zeppelin vermittelt. Freud wird
zitiert, und manche Passagen erinnern an Reiseromane, sogar Deklinationstabellen von russischen Nomen sind vorhanden. Die Suche nach weiblicher
Identität im Zuge der analytischen Arbeit sowie die Bedeutung der Verarbeitung sexueller Gewalt stehen zwischen den Zeilen. Sowohl
Kritiker_innen als auch Befürworter_innen der Psychoanalyse kommen auf ihre Kosten, sofern sie den methodischen Hinweis des freien
Assoziierens befolgen. Ein fast großartiges Buch!!!
Beate Foltin
Iris Hanika: Tanzen auf Beton. Weiterer Bericht von der unendlichen Analyse. Roman. 167 Seiten, Literaturverlag Droschl, Graz-Wien 2012 EUR 19,00
Ein Loft in einem schicken Berliner Stadtviertel, Lamborghinischlüssel in der Tasche und viel Zeit, die mit Inhalt zu füllen ist, denn
Viktorias Modelkarriere versandet bereits in Schlafzimmereinrichtungskatalogen. Einsam und gleichermaßen plan- wie lustlos bringt sie Tage hinter
sich, bis sie den Rapper Said trifft, sich selbst zum Anhängsel und ihn zur quasi sinnstiftenden Figur stilisiert. Doch Said geht bald verloren.
Viktoria wartet, trauert und stößt schließlich auf Saids Arbeitsmaterial, seine Notizen und halbfertigen Texte, verliert sich erst in diesen,
um dann endlich ihre eigene Stimme als Rapperin zu finden. Getreu dem rasenden Tempo des Romans geht es mit dem Erfolg dann ganz schnell,
Plattenvertrag, Europatournee, Marketingmaschinerie, gefolgt von einem ebenso rasanten Absturz. In ihrem Debütroman bildet Sara Gmuer die
Mehrzahl der gängigen Klischees des Mainstream Hip-Hops nicht nur ab, sondern umarmt inbrünstig jedes einzelne, und entlässt ihre
Protagonistin leider kaum aus einer Haltung der Passivität.
bw
Sara Gmuer: Karizma. Roman. 224 Seiten, Orange Press, Freiburg 2012 EUR 17,40
Die Geschichte spielt in einer zerstörten Welt in unserer Zukunft, wo das „Reestablishment“ ein grausames Regime führt.
Die 17-jährige Juliette lebt in einer Gefängniszelle in Einzelhaft. Sie wurde weggesperrt, weil eine Berührung mit ihrer Haut
tödlich ist. Doch plötzlich wird Adam zu ihr in die Zelle gesperrt, den Juliette möglicherweise von früher kennt und der
ihr sehr gefällt. Schließlich bekommt sie das Angebot als „Geheimwaffe“ für das Reestablishment zu arbeiten. Romantasy
ist eine Mischung aus Romance und Fantasy-Roman. Der Plot hat durchaus Potenzial für Spannung und auch Gesellschaftskritik. Der Schreibstil
ist interessant: ein sehr emotionaler innerer Monolog von Juliette, wobei manche Gedanken einfach durchgestrichen sind. Jedoch ist die Umsetzung
leider wenig überzeugend. Die Charaktere bleiben Klischees. Die langen überdramatisierten Gefühlsbeschreibungen entziehen der
Handlung die Spannung und die gesellschaftskritischen Momente wirken erstaunlich naiv. Schade.
Sara John
Tahereh Mafi: Ich fürchte mich nicht. Roman. Übersetzt von Mara Henke. 320 Seiten, Goldmann, München 2012 EUR 17,50
Diana migriert regelmäßig für längere Zeit aus Dagestan nach Österreich. Sie muss hier illegalisiert arbeiten, um sich,
ihre Mutter, Schwester und den behinderten Sohn mit Essen und Medikamenten zu versorgen. Sie arbeitet als Tänzerin und Prostituierte,
dann lernt sie den Polizisten Leo kennen, der sie – um sein Karma aufzubessern – bei einer Razzia nicht verhaftet. Die beiden
gehen eine Beziehung ein, doch Leo ist schwer krank und stirbt. Rabinowich bringt die Folgen der Illegalisierung von Menschen auf den Punkt.
Sexarbeit wird nicht als Höhepunkt der Ausbeutung dargestellt. Vielmehr setzt sich die Ausbeutung fort – in einer Beziehung, in
der sich der Partner in seiner sicheren Position beständig Rassismus und Herabwürdigung leisten kann. Diana wehrt sich. Sie nutzt
Leos Aberglauben und nimmt sich so viel an Geld, Nähe und Zuneigung, wie sie kann. Wenn er sagt, sie als Gast solle sich anpassen, antwortet
sie: „Das ist ein Gastgarten. Hier ist jeder Gast. Trottel.“ Schließlich bricht sie zusammen und wird in eine psychiatrische Klinik
eingeliefert. Der Arzt, der ihr nicht helfen kann oder will, und die Sozialarbeiterin, die ihr vorschlägt, als Tänzerin zu arbeiten,
wenn sie schon unbedingt arbeiten will, zeigen die Absurdität und Kälte von Rassismus und Ausgrenzung in Europa
auf einer persönlichen Ebene. Die Gegenwart wird mit Kindheitserinnerungen verwoben: an den abwesenden Vater, die brutale, vereinsamte Mutter,
die zuschlug, wenn Diana sich schmutzig machte. Diana beginnt, in der Erde zu wühlen, Erde zu fressen. Sie kann es sich nicht leisten
aufzugeben. „Die Erdfresserin“ ist bedrückend, regt zum Nachdenken an, ist ein ausgesprochen wichtiges politisches Buch und besticht
nicht zuletzt durch Rabinowichs fantasievolle und poetische Sprache.
Paula Bolyos
Julya Rabinowich: Die Erdfresserin. Roman. 236 Seiten, Deuticke, Wien 2012 EUR 18,40
Idun läuft, aber ihr Leben ist nicht in Bewegung. Das ändert sich, als Iduns impulsive Cousine Mai zu der Ich-Erzählerin und
ihrer Mutter ins Haus zieht. Im Gefühlschaos zwischen dem ersten Mal Sex, Familienproblemen, Erwachsenwerden und gefährlichen Abenteuern
finden die zwei Mädchen zueinander. Gesellschaftskritische Themen werden im klassisch gehaltenen Jugendbuch- Roman auch nicht ausgespart: Eine
Gefängnisinsel wird zum zentralen Ort und die Protagonistinnen stellen Fragen nach Wahrheit und Gerechtigkeit. Die Autorin schafft es ohne
allzu klischeehaft zu werden, Problematiken wie sexualisierte Übergriffe und Rassismen zu behandeln. Die kursiv gedruckten Gedankeneinschübe,
als Vorgriff auf das Ende, hätten etwas einfallsreicher ausfallen können. Hilde K. Kvalvaags „Prison Island“ wurde 2010 mit
dem norwegischen Brage-Preis als bestes Jugendbuch ausgezeichnet.
Marlene Haider
Hilde K. Kvalvaag: Prison Island. Übersetzt von Maike Dörries. 140 Seiten, Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2012 EUR 13,40
In dem fiktiven Land Faguas ist Ungewöhnliches im Gange. Die Journalistin Viviana Sansón, Kandidatin der feministischen Partei der
Erotischen Linken (PIE), wird zur Präsidentin gewählt. Die PIE identifiziert als soziale Grundübel die allgegenwärtige
Gewalt gegen Frauen, die Unvereinbarkeit von Beruf und Familie sowie die Ungleichverteilung reproduktiver Arbeit. Sie greift zu einer radikalen
Gegenmaßnahme, die in der Überzeugung gründet, dass nur ein Erleben der Exklusion diese nachvollziehbar macht: Alle Männer
werden für sechs Monate aus dem Staatsdienst entlassen und ins häusliche Leben geschickt. Zu Hilfe kommt der PIE hierbei ein
Vulkanausbruch, dessen rußiger Auswurf den Testosteronspiegel der Männer drastisch senkt und sie träge macht. Zugleich werden alle
Frauen dazu ermutigt zu arbeiten, inklusive neuer Kinderbetreuungsmodelle und Ausbildungsszenarien. Nicht alle sind jedoch zufrieden: Auf
Viviana wird ein Attentat verübt und sie fällt ins Koma. In einem surrealen zwischenweltlichen Abstellraum der verlorenen Dinge
manifestiert sich durch ihre Erinnerungen die (Vor-)Geschichte der Machtübernahme. Auf „weibliche Art“ macht sich die PIE
daran, das Land aufzupolieren, damit es dufte, wie frisch gebügelte Wäsche. „[W]ir haben uns einreden lassen, dass unsere
größten Tugenden Schwächen sind. Wir müssen einfach zeigen, wie die weibliche Art zu sein und zu handeln nicht nur unser
eigenes Land, sondern die ganze Welt verändern kann“, so Viviana an einer Stelle. Bei aller Liebe zur Utopie und zu Bellis Sprache
und tiefer feministischer Verwurzelung, genau dieser das Buch durchziehende Essentialismus macht ihren neuen Roman trotz großem Lesevergnügen
problematisch.
soe
Gioconda Belli: Die Republik der Frauen. Aus dem nicaraguanischen Spanisch von Lutz Kliche. Roman. 304 Seiten, Droemer, München 2012 EUR 18,50
Wie fühlt er sich an, der ehemalige deutsche Osten? Die Landflucht, die Perspektivenlosigkeit und die Unmöglichkeit, wenigsten von
den „guten alten Zeiten” zu schwärmen. In Judith Zanders Roman „Dinge, die wir heute sagten”, der nun als Taschenbuch
vorliegt, wird das alles spürbar. Aber auch, dass – wie in diesem Fall – in den Dörfern Vorpommerns immer noch Menschen leben,
ein echtes Leben. Junge Leute mit Träumen von der Zukunft, mittelalte Leute, die schon etwas abgestumpft sind, und alte Leute, die so viel
erlebt haben, dass sie sich über nichts mehr wundern. Es geht um die, die geblieben sind, und die, die geflohen sind. Zurück kommt selten
eine, so wie jetzt Ingrid zum Begräbnis ihrer Mutter. Dabei hätte Ingrid gute Gründe, für immer weg zu bleiben, denn ihre
Geschichte ist schmerzhaft. Die Leute glotzen und tratschen, obwohl kaum jemand weiß, was vor zwanzig Jahren wirklich passiert ist, denn sonst
würden sie erst recht glotzen und tratschen. Von all dem erzählen sie: Romy, Ingrid, „Die Gemeinde”, Pastor Wietmann, Hartmut,
Ella, Sonja, Henry, Maria und Ecki. Ihnen allen gibt die Autorin eine ganz eigene Sprache: die einen reden Platt, die anderen geschraubt, manche
obercool und flapsig umgangssprachlich, dass eine beim Lesen glaubt, sich durch eine Fremdsprache zu buchstabieren. Am ehesten zu Hauptfiguren werden
die, die sprachlich wenig herausstechen, die jungen Frauen, Schülerinnen noch, die den Aufbruch noch vor sich haben. Ein außergewöhnlicher
Debütroman, der auf mehr von Judith Zander hoffen lässt.
ESt
Judith Zander: Dinge, die wir heute sagen. Roman. 480 Seiten, dtv, München 2012 EUR 10,20
Vier alte Frauen, gerade dem Pensionsschock entflohen, sitzen im Gefängnis und überlegen, welche denn die besten Chancen hat, den
Psycho- Onkel von ihrer Unzurechnungsfähigkeit zu überzeugen. Schwere Körperverletzung, wahrscheinlich mit Todesfolge, könnte
sie schließlich ziemlich lange hinter Gitter bringen. „Ein böser Spaß für alle, denen ‘Einer flog übers Kuckucksnest’
eine Spur zu sozialromantisch war”, verspricht der Klappentext – und behält recht. Die vier Figuren und ihre Geschichte von den
ersten zehn Tagen im Altersheim RESIDENZ mit dem Ziel, das System von ihrer Pflegebedürftigkeit zu überzeugen, damit sie sich das dann
überhaupt leisten können, ist herrlich morbid, die Frauen alles andere als das, was manche sich unter „alte Damen” vorstellen
wollen. Im Mittelpunkt steht die Kettenraucherin Almut und ihr verdrängtes Schicksal. Ohne zu viel zu verraten: Hier wird vierzig Jahre in
die Vergangenheit gegraben und am Schluss ist dann doch alles ganz anders. Bei aller Verrücktheit und Unangepasstheit bleibt neben dem Spaß
auch Platz für ein paar Gedankenanstöße. Wie gehen wir mit alten Menschen in unserer Gesellschaft um? Anita Augustin ist geborene
Klagenfurterin, die in Wien studiert hat und heute in Berlin als freie Dramaturgin lebt. Eine Bühnenversion ihres Debütromans würde
die Bretter deutschsprachiger Bühnen bereichern. Wunderbar!
GaH
Anita Augustin: Der Zwerg reinigt den Kittel. Roman. 332 Seiten, Ullstein, Berlin 2012 EUR 15,50
Celia kehrt nach Jahren wieder in ihren Heimatort Jensenville zurück. Als Elfjährige war sie Zeugin, als ihre damalige beste
Freundin Djuna plötzlich spurlos vom Erdboden verschwand. Sie erzählte der Polizei, dass diese zu einem Fremden ins Auto stieg,
doch das war – wie sie jetzt überzeugt ist – gelogen. Um die Ereignisse von damals zu klären, kontaktiert Celia die
anderen Mädchen, die dabei waren. Doch keine von ihnen schenkt ihrer Erinnerung Glauben, dass Djuna in Wirklichkeit in einen Brunnen
gestürzt sei. Vielmehr kommen Dinge ans Licht, welche Celia schon längst verdrängt hatte und sie selbst an ihrer eigenen
Erinnerung an Vergangenes zweifeln lassen. Myla Goldberg setzt sich in ihrem Roman „Böse Freundin“ mit der Erinnerung an
die eigene Kindheit sowie der Freundschaft unter Mädchen auseinander. Eine leichte Lektüre, welche auf Grund der sehr akribischen
und emotional nachvollziehbaren Beschreibungen der Figuren dann doch mehr zum Nachdenken anregt, als es der simple Plot vorzugeben scheint.
Katrin Rohrbacher
Myla Goldberg: Böse Freundin. Roman. Übersetzt von Martina Tichy. 283 Seiten, Kindler Verlag, Hamburg 2012 EUR 17,50
Farid wächst unbekümmert in einer Sahara-Oase auf: wedelnde Palmblätter, Eidechsenfische, die im Sand der Wüste schwimmen,
messerscharfe Sandverwerfungen, gleißendes Licht, trockener heißer Wind im Sommer. Er freundet sich mit einer Gazelle an, jung wie er. Als Farid
stirbt, denkt er an die Gazelle, die ihm im Pistaziengarten aus der Hand fraß. Durch das Leben des kleinen Farid und seiner Mutter Jamila in Libyen
blitzen in dieser Erzählung 100 Jahre imperialistischer Kolonialgeschichte auf. Ein Perspektivenwechsel stellt das Leben des 18- jährigen
Vito und seiner Mutter Angelina in Sizilien dem gegenüber. Die Geschichte mehrerer Generationen verläuft in schneller Abfolge vor unseren
Augen. 1941 werden hungerleidende Bauern durch Mussolinis Propaganda nach Libyen geschickt und später im Zuge der Machtübernahme Gaddafis
wieder aus dem Land gewiesen. Sie bleiben Fremde in Italien, von Afrikasehnsucht und Schuldgefühlen geplagt. Bei Ausbruch des Bürgerkriegs
2011 in Libyen flüchten Menschen im Schlepperboot auf dem Seeweg nach Italien, wobei viele hilflos ertrinken. Meer, Sand, bunte
Gerüche – der Spielball der herrschenden Verhältnisse zu sein, das ist das Amalgam beider Handlungsstränge. Und die Frage: Wie
schafft man es nur zu hoffen?
Diane Branellec
Margaret Mazzantini: Das Meer am Morgen. Roman. Übersetzt von Karin Krieger. 128 Seiten, DuMont Buchverlag, Köln 2012 EUR 17,50
Als Tochter eines reichen Textilfabrikanten in luxuriöse Verhältnisse hineingeboren, erweist sich Leonora Carrington bereits als
Kind denkbar unangepasst und eigenwillig. Die Legenden der irischen Nanny beflügeln ihre ausgeprägte Vorstellungskraft, sie hält
sich selbst für ein Pferd, ihre Umgebung ist bevölkert von Fantasietieren und Fabelwesen. Sie bricht mit den Konventionen und ihrem Vater,
studiert Kunst in London und Paris. Sie verliebt sich rückhaltlos in den mehr als doppelt so alten Max Ernst, der ihr gleichzeitig Lehrmeister
und Geliebter wird. Im Paris der 1930er Jahre macht er sie mit dem Surrealismus bekannt und mit dessen ProtagonistInnen, unter anderen mit André Breton,
Pablo Picasso, Salvador Dalí, Man Ray. Sie lebt in einem surrealen Sinnestaumel, malt selbst Bilder von tierbevölkerten Traumsequenzen und
schockiert durch exaltierte Auftritte. Das ungleiche Paar lebt in einem Bauernhaus in Südfrankreich, bis Ernst nach der Kriegserklärung
Frankreichs an das Deutsche Reich von den Franzosen interniert wird. Leonora flüchtet nach Spanien, erleidet einen psychotischen Zusammenbruch
und hat Wahnvorstellungen, wird in einer Nervenanstalt behandelt. In Mexiko beginnt sie schließlich ein neues Leben. Elena Poniatowska, selbst mit
Carrington befreundet, hält sich eng an die historischen Tatsachen und erzählt Leonoras Leben aus deren Sicht. Dabei gehen oft biografische
Fakten nahtlos in surreale Fantasien und Vorstellungen über, dokumentarische und literarische Elemente ergänzen einander zu einer
atemberaubenden Schilderung eines leidenschaftlichen Lebens für die Freiheit.
Helga Lackner
Elena Poniatowska: Frau des Windes. Roman. Übersetzt von Maria Hoffmann-Dartevelle. 495 Seiten, Insel Verlag, Frankfurt/M. 2012 EUR 25,70
Wundersam leichte Erinnerungen an Thymian, Brombeeren, Dinkel usw. unterbrechen immer wieder den Erzählstrang über Vikis Krankenbesuche
beim ehemaligen Gefährten und Liebhaber. Dieses Innehalten steht auch sinnbildlich für den veränderten Alltag durch seine
Leukämie-Erkrankung, die nach Jahren getrennter Wege in der Provence und in Kärnten den Ausgangspunkt bildet für eine neue Annäherung
zwischen den beiden. Brigitta Buschs detaillierte Beschreibungen des jeweils Unmittelbaren im Krankenhaus zeugen von der besonderen Wahrnehmung in
solchen Situationen und versuchen jene unterschwellige Nervosität und Ohnmacht durch Sprache zu fassen, die mit der lebensgefährdenden
Krankheit einhergehen. Das protokollhafte Festhalten vieler Einzelheiten entwickelt einen zunehmend spannenden Sog, die bald täglichen Telefonate
zwischen Wien und Montpellier bannen die Sorge vor dem möglichen endgültigen Ende des Gemeinsamen. Desinfizieren der Hände,
Schläuche, Tabletten, Arztgespräche, Befunde, Rückschläge, neues Hoffen und Warten prägen dieses Leben fern der
Landwirtschaftskooperative, die einst die beiden verband und weiterhin ihren sorgsamen Zugang zur Welt bestimmt. Empathische Aufmerksamkeit
erhalten dennoch die Herbstfarben vor dem Fenster wie auch die Musterung der Schnecken am Wegesrand, südafrikanische Innenpolitik und
österreichische Wahlergebnisse. Busch beeindruckt mit ihrem ersten Roman, der auch ein Stück Zeitgeschichte einer in die Jahre
kommenden Generation darstellt, die in den 1970er Jahren aufbrach, um Utopien gemeinsamen und solidarischen guten Lebens zu realisieren.
In leiser und poetischer Sprache findet dies in „Winterweizen“ eine berührende Konkretisierung, die auf vielen Ebenen noch
lange nachklingt.
mel
Brigitta Busch: Winterweizen. Roman. 247 Seiten, Drava Verlag/Založba Drava, Klagenfurt/Celovec-Wien Dunaj 2011 EUR 21,80
Nach einem Telefonanruf ihres Bruders Indio reist Rucia diesem nach Santiago de Chile nach, wo die beiden ihre ersten Lebensjahre verbracht
hatten. Dort sucht die junge Frau an den Ufern des Mapocho und an längst verfallenen Kindheitsorten nach ihrem Bruder und nach
verschollenen Erinnerungen. Die an sich einfache Geschichte verzweigt sich bilderreich in mehrere – einander durchaus widersprechende
– Handlungsstränge: ein historischer Widerständler gegen die Kolonialherren, dem der Kopf abgeschlagen wurde und der seitdem
als Gespenst nach diesem sucht; die Großmutter, die auf dem Dach des Hauses zum weiß leuchtenden Hinterteil einer Mutter Gottes betet; ein
Diktator, der die Transvestiten von Mapocho grausam töten lässt und offenbar zuvor selbst Gefallen an Frauenkleidern und Schminke
gefunden hat – und nicht zuletzt die inzestuöse Beziehung zwischen Rucia und ihrem Bruder. Was erzählt wird, bleibt immer in
Schwebe. Aus diesem unwirklichen Zustand schält sich jedoch ein Bild von Lateinamerika und insbesondere von Chile und der verbrecherischen
Diktatur Augusto Pinochets hervor, das lange haften bleibt.
Elke Koch
Nona Fernàndez: Die Toten im trüben Wasser des Mapocho. Roman. Übersetzt von Anna Gentz. 260 Seiten, Septime, Wien 2012 EUR 21,50
Der erste Band der Werkausgabe der 2008 verstorbenen Literatin Elfriede Gerstl umfasst eine Auswahl an Gedichten, Hörspielen und den
Roman „Spielräume“, die sie in den 1960er, Anfang der 1970er Jahre zwischen Wien und Berlin geschrieben hat.
In „Spielräume“ schreibt sie: „alles was man sagen kann, kann man auch beiläufig sagen … oder auch: alles was man
sagen kann, muss schließlich nicht gesagt werden, nur die alte Quatschsucht, dieses unqualifizierte Übel …“ Oft wirkt ihr Schreiben
wie aus einem alltäglichen Gespräch geschnitten, aus dem ganz leise, aber bestimmt gesellschaftskritische Anregungen entwickelt werden.
Oft wird durch sprachliches Zerlegen von Vorurteilen oder Ein- und Umbauen gängiger Floskeln oder Sprüche eine wunderbare Pointe
formuliert. Ein Stichwort nach dem anderen verbindet Selbstreflexionen über ihr Schreiben mit (Welt)Politik und scharfer Kritik an stereotypen
Geschlechterrollen. Die Hörspiele zeigen, wie sehr Gerstl sich mit Form und Klang der Sprache beschäftigte und dass sie auch hier kein
Blatt vor den Mund nahm. Über manche Gedichte grüble ich noch weiter. Eine erste Hilfe bietet das Nachwort, das neben Analysen und vorherigen
Nachworten auch einen Einblick in Elfriede Gerstls Leben bietet. Der Wunsch, mehr von ihr zu hören und zu lesen, lässt mich den nächsten
Band mit Spannung erwarten. „ … durch geschicktes Argumentieren sympathische Leute zu dem Denkstil verführen, auf den man gerade setzt,
antwortete Grit… “
Barbara Wilding
Elfriede Gerstl: Mittellange Minis – Werke Band 1. 208 Seiten, Literaturverlag Droschl, Graz-Wien 2012 EUR 24,00