Zwei short stories und eine Erzählung enthält der erste Prosaband der bereits als Hörspielautorin hervorgetretenen jungen Niederösterreicherin Magda Woitzuk. Short stories? Erzählung? Wie komme ich auf diese Unterscheidung? Nun: Die zwei ersten Geschichten sind von der Länge her tatsächlich „short”, spielen in den USA und folgen dem klassischen Erzählmuster guter amerikanischer short stories. Sie handeln in Hollywood und in San Francisco jeweils von mehr oder weniger spektakulären Selbstmorden, die mit regionalen Wahrzeichen in Verbindung stehen. Ein Wahrzeichen ist auch in der dritten Story maßgeblich und sogar namengebend: Ellis Island, der Ort, wo mit dem Schiff reisende einwandernde Menschen massenweise anzukommen pflegten. Ellis wird auch der amerikanische Name eines Mädchens, das vor rund 100 Jahren mit den Eltern aus St. Pölten kommend nach Amerika geht. Ellis, dieser Name lebt von Tochter zu Tochter über Generationen weiter. Und die Erzählung verdient die Bezeichnung als „Geschichte” in mehrfacher Hinsicht: Sie ist mit 70 Seiten Umfang alles andere als kurz und umfasst 100 Jahre in die amerikanische Geschichte eingebettete Familiengeschichte, in der die Weitergabe der persönlichen Geschichte jener Oma aus Austria so lange funktioniert, bis eine Ururenkelin sich auf Wurzelsuche in „Saintpolden” begibt. Gemeinsam ist allen drei Geschichten der Anfang: Das Umdrehen eines Schlüssels in der Haustür. Die so entstandene Trilogie liest sich angenehm flüssig.
Helga Pankratz
Magda Woitzuck: Ellis. Trilogie. 119 Seiten, Literaturedition Niederösterreich, St. Pölten 2012 EUR 18,00
Die „dominante Kuh” auf rosa Sofa am Cover hat Kult-Potenzial. Luise F. Pusch, zusammen mit Senta Trömmel-Plötz Begründerin der feministischen Linguistik in Deutschland, hat neues Futter für Fans: eine Auswahl von in den vergangenen zwei Jahren (online) erschienenen Glossen in einem Bändchen. Luise F. Pusch kommentiert gewohnt humorvoll und punktgenau Aktuelles und Ewig-Gestriges. Dabei nimmt sie die männerzentrierte, deutsche Sprache auseinander: Sei es rund um eigenartige Übersetzungen aus dem Englischen (köstlich die Gedanken zu den „Slutwalks”), anhaltende Ignoranz etwa bei der Weglassung weiblicher Formen in der Benennung gemischt-geschlechtlicher Gruppen oder Kritik an Literatur-Auszeichnungen. Aus der Demokratiebewegung wird die „Demikratiebewegung” - schließlich beziehen sich die meisten AkteurInnen und Anliegen auf nur eine Hälfte der Bevölkerung. Luise F. Pusch zerpflückt unermüdlich Sprache und fragt sich dabei: „Wie lange noch kann die Maskulinguistik es sich leisten… Seit 30 Jahren ignoriert sie geflissentlich die Forschungsergebnisse und sprachpolitischen Forderungen der feministischen Linguistik.” Auch ihren eigenen Facebook-Auftritt thematisiert die 1944 geborene Sprachwissenschafterin und lässt die Leserin wissen, dass es gar nicht so schwer ist, mit ihr „befreundet” zu sein. Ein paar Klicks, die sich auszahlen.
GaH
Luise F. Pusch: Die dominante Kuh. Neue Glossen. 144 Seiten, Wallstein Verlag, Göttingen 2013 EUR 10,20
Der Erzählband versammelt sieben georgische Autorinnen (Jahrgänge 1964 bis 1983) mit Kurzgeschichten, Romanauszügen sowie einem Einakter. N. Haratischwili und T. Melaschwili wurden bereits ins Deutsche übersetzt, die anderen Autorinnen werden dem deutschsprachigen Publikum hier erstmals vorgestellt. Gemeinsam ist den mit Preisen ausgezeichneten Texten eine offensiv-weibliche Perspektive: Neben der surrealen Geschichte einer Frau mit Buch-Kopf (M. Mikeladze) findet sich etwa die einer kleinen, coolen Profikillerin (T. Melaschwili). Andere Texte handeln von neun Hütten, die in die Vergangenheit und in das Unbewusste führen (E. Tchilawa), von einem unzuverlässigen Liebhaber (A. Kordzaia-Samadaschwili), einer hartnäckigen Journalistin und einem blinden Bildhauer (E. Togonidze) oder von westlichen bzw. östlichen Lebensentwürfen von Frauen (N. Haratischwili). Der soziale Raum der Figuren erscheint unbestimmt global, Sprache und Tonfall – zumindest in der Übersetzung – westlich-urban. Wer sich Einblicke in den Alltag von Frauen in einer postsowjetischen, traditionell patriarchalen Gesellschaft erwartet, wird hier wohl eher nicht fündig.
Teres Eszed
Techno der Jaguare. Neue Erzählungen aus Georgien. Hg. von Manana Tandaschwili, Jost Gippert u.a. 249 Seiten, Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt/M. 2013 EUR 20,50
In allen Dichtungsgattungen können alljährlich Texte in deutscher Sprache von Personen, die mindestens ein halbes Jahr in Österreich leben, für den Exil-Literaturpreis eingereicht werden. Das erwünschte Themenspektrum ist dabei mit den Begriffen Integration, Identität, Fremdsein, Anderssein und Leben zwischen den Kulturen abgesteckt. In der edition exil 12 hat Christa Stippinger die 2012 prämierten Arbeiten herausgegeben, gefolgt jeweils von einem kurzen Interview mit der/dem Autor_in, deren/dessen Kurzbiografie und der informativen Begründung der Jurymitglieder für die Auszeichnung. Unterschiedlicher könnten die Texte kaum sein, sprachlich wie inhaltlich liegen buchstäblich Welten zwischen den kurzen Werken von Ekaterina Heider, Anna Mwangi, Magdalena Diercks, Eva Schörkhuber, Antina Zlatkova, Valerie Melichar, Lucian Nikolai Markovic und Volksschüler_innen aus Lutzmannsburg. Dass dabei von den sieben Einzel-Ausgezeichneten sechs Frauen sind, ist ein erfreuliches, höchst unübliches Detail, das neben allem literarischen Wert der prämierten Texte jedenfalls hervorgehoben sei.
mel
preistexte 12. anthologie. das buch zu den exil-literaturpreisen schreiben zwischen den kulturen 2012. Hg. von Christa Stippinger. 141 Seiten, edition Exil, Wien 2012 EUR 15,00
Johanna Adorján lässt in 13 Geschichten (prototypische?) Charaktere des Berliner Kulturbetriebs auftreten und seziert spitzzüngig deren Eitelkeiten, Begehrlichkeiten und Unsicherheiten. Wir begegnen beispielsweise einem spätberufenen Jungregisseur, der mit einem steinalten „Jahrhundertschauspieler” den großen Coup für seinen Erstlingsfilm landen will. Oder der Schauspielerin, die verzweifelt Betreuung für ihre Tochter sucht, um den Interviewtag für ihren neuen Film absolvieren zu können. Der Praktikantin im Kulturressort einer Zeitung, die mit anpassungsfähigem Körpereinsatz die Karriereleiter erklimmen möchte. Dem Soap-Schauspieler, therapieerfahren, der beiläufig fast eine junge Frau vergewaltigt (die mit Abstand unangenehmste Geschichte des Buches). Oder der Yoga-Lehrerin mit einer hasserfüllten inneren Stimme, die gegen sie und alle um sie herum wettert. Die männlichen Figuren wirken großteils auf passive Art selbstvergessen, die Frauen getrieben. Was die lose verbundenen Charaktere des Buches eint, ist ihre Abhängigkeit von der Wahrnehmung der anderen, ihr Verlangen nach dem bewundernden Blick von außen, nach positiver Anerkennung, die ihnen auch zuteilwird - oft aber nur scheinbar, was sich besonders dann zeigt, wenn sich in einer der folgenden Geschichten ein Perspektivenwechsel auf den Charakter ergibt. In der finalen Geschichte tauchen mehrere bekannte Gesichter dann zugleich wieder auf, werden mit Bussi-Bussi begrüßt und doch auf Distanz gehalten. Ich habe dich doch schon einmal gesehen, denkt sich die Leserin. Woher kennen wir uns noch gleich?
soe
Johanna Adorján: Meine 500 besten Freunde. Stories. 256 Seiten, Luchterhand, München 2013 EUR 19,60
Ein Leben zwischen Ungarn und den USA, mehrere Leben, viele Geschichten. Im Mittelpunkt der short stories steht immer eine Frau, die Wege durch den Dschungel des Lebens sucht. Meist ist das Setting autobiografisch: Die junge Frau lebt in Ungarn, ihre Eltern, ihre Vergangenheit ist in den USA geblieben. Manchmal ist das ein Katzensprung, manchmal ist der Ozean jedoch riesengroß, der zwischen den zwei Kontinenten liegt. Die Szenen sind mitunter tragisch, oft unterhaltsam, durchwegs reflektiert und genau in der richtigen Länge, um ein paar Minuten in Zug oder Bus zu überbrücken. Ildikó Noémi Nagy wurde 1975 in Kanada geboren, wuchs in den USA auf und lebt seit dem Studium in Budapest. Der Erzählband „Oh Bumerang” ist ihr Erstlingswerk und hat im 2010 erschienen ungarischen Original den schönen Titel „Eggyétörve”. Wer Ungarisch lesen kann, sollte sich das Original besorgen. Auch wenn die deutsche Version durchaus sprachlich interessant ist und das Lesen Spaß macht, so ist doch spürbar, dass durch die Übersetzung einiges an sprachlicher Kreativität verloren ging.
GaH
Ildikó Noémi Nagy: Oh Bumerang. Stories. Übersetzt von György Buda. 128 Seiten, Jung und Jung, Salzburg-Wien 2013 EUR 17,90
Diejenigen, die die Überwachungsmonitore überwachen, die Maschinen zum Glänzen bringen, die Torten backen, während rundum die Scharfschützen lauern, finden einen Platz in Marion Jerschowas Erzählungen, sei es in New York oder in Sarajewo. Irgendwo scheint immer gerade etwas in die Brüche zu gehen, wie in der Wohnung des verliebten Mathematikprofessors, der sich in der Küche verschanzt, während, mit eher destruktivem Ergebnis, um ihn herum renoviert wird, oder aber die Zwillingstürme des World Trade Centers, wo der heimliche Griff zur Bierdose schon die gemütlich auf der Couch konsumierte Medienorgie suggeriert, die auf die Ereignisse des 11.Septembers folgten. In der Stille der nordamerikanischen Vororte werden Briefe aus dem Exil geschrieben, aber nur die unehrlichen abgeschickt und ganz anderswo betreibt ein Kurhotel eine ganz spezielle Art der Selbstreinigung.
Wunderbar gelungene Figuren, deren eigene kleine Welten, auch auf kurzer Strecke, gleich gefangen nehmen. bw
Marion Jerschowa: Aufbrüche. Geschichten vom Ende der Gemütlichkeit. Erzählungen. 202 Seiten, Verlag Bibliothek der Provinz, Weitra 2012 EUR 18,00
Nachdem die Berliner Autorin Angelika Meier es 2012 mit ihrem Roman „Heimlich, heimlich mich vergiss” auf die Longlist für den Deutschen Buchpreis geschafft hat, erschien heuer der Band „Stürzen, drüber schlafen” mit kleinen Geschichten und Stücken. Meier entführt ihre Leser*innen darin in abstruse, surreale Welten – wie in „Letzte Reise”, in der der Protagonist ein Loch im Bauch hat, das ihn im Alltag doch soweit stört, dass er sich in ärztliche Behandlung begibt, die darin besteht, das Loch ordentlich zu vergrößern. Ins Unbehagen stürzt die blutige Geschichte der tatsächlichen körperlichen Verschmelzung eines Liebespaares in „Seite an Seite”. Die Autorin knüpft auch an Phänomene der Massenmedien an, um realistisch erzählte Geschichten im Absurden gipfeln zu lassen, wie die über Jürgen Klinsmann, der in einer Dönerbude das Bundesverdienstkreuz verliehen bekommt, oder Jogi Löw und seine geheime Passion für Nachtkästchen. Interessant ist „ We can work it out”, wo die Hauptperson darüber philosophiert, was passiert, wenn man eine Zelle völlig entkernt und dann wieder befüllt – entspricht das Nachher dem Vorher? Der in der Rezeption vielbeschworene schwarze abgründige Humor kommt in den dramatischen Texten am besten zur Geltung, wie im „Ägyptischen Abenteuer mit Ich und Jack”, wo in einem Gewirr von Anspielungen, Apathie der Hauptfigur Ich, kruden (Verschwörungs-)Theorien, Faustzitaten und Fußballfans (ja, schon wieder Fußball) Jack Nicholson als neuer Pharao aus der Asche des „Arabischen Frühlings” entsteigt. Ein Lesefest für literarisch experimentierfreudige Gemüter.
ESt
Angelika Meier: Stürzen, drüber schlafen. Kleine Geschichten und Stücke. 194 Seiten, diaphanes, Zürich-Berlin 2013 EUR 15,40
„Papa hat sich diese Burg bauen lassen, und jetzt kann er den Kredit nicht zurückzahlen. Eine Situation wie in jeder zweiten Familie.” verkündet Brünnhilde am Beginn von Elfriede Jelineks, anlässlich des Wagner-Jahres erschienen Textes, und verweist damit gleich auf das Kernthema. Geld. Ins Heute katapultiert liefern sich Brünnhilde, dazu verurteilt auf einen Helden zu warten, und Papa Wotan stürmische, klanggewaltige Monologe, Habgier ist zeitlos. Und so wird, aus den in unserer Realität stets präsenten Vokabeln wie Bankenkrise, Korruption, Immobilienblase, Kreditskandal und Ratingagentur, reichhaltige Kapitalismuskritik geschmiedet. Auch der Klassenkampf ist in Brünnhildes Erbitterung angesichts der väterlichen Besitzgier, die auch die Ausbeutung der (stellvertretend für die Arbeiter_innen stehenden) Riesen und Zwerge erfordert, gut untergebracht. Wotan hat sich der Herrschaft des Geldes längst untergeordnet, er kann nur noch klagen und wartet ganz freiwillig auf die Rettung durch einen Helden. Ein Stoff, bei dem es leichtfällt, sich in Jelineks melodisches Sprachgeflecht hineinziehen zu lassen. Fast schon Oper.
Lisbeth Blume
Elfriede Jelinek: Rein Gold. Ein Bühnenessay. 224 Seiten, Rowohlt, Reinbeck bei Hamburg 2013 EUR 20,60