Erstmals liegt ein gleichsam poetischer wie berührender Band mit Ruth Klügers Gedichten vor, die zwischen 1944 und heute entstanden sind. Die Gedichte von 1944 hat sie als 14-jähriges Mädchen im Lager geschrieben. Nicht nur diese, auch alle anderen Gedichte sind – auch wenn sie es nicht immer explizit thematisieren – von den Erfahrungen des Holocausts/der Konzentrationslager durchzogen. Jedoch sind Ruth Klügers Gedichte so reflektiert, so vielschichtig, dass sie keineswegs auf die Lagererfahrung reduziert werden dürfen – auch ihr Leben nicht. Sie bricht mit dem Tabu, dass Gedichte nur für sich sprechen dürfen, und interpretiert ihre eigenen Gedichte; etwas, das sich nur so hoch reflektierte und differenzierte AutorInnen wie Ruth Klüger leisten dürfen. überraschend war für mich die komplexe Beziehung der Lyrik zum Unbewussten, die hier aufgespannt wird – das Schreiben von Gedichten als Abwehrmethode und zugleich Hervorbringung von Verdrängtem. Gleichzeitig sind ihre Gedichte wie Kommentare eine Auseinandersetzung mit der Gattung Lyrik, der Funktion und den Möglichkeiten von Gedichten wie dem poetischen Anspruch als Verdichtung von Alltag, der Gedichte ihrer Meinung nach in die Nähe von Gebeten rückt. Dies zeigt sich für vor allem in den Gedichten, die sich mit jüdischen Motiven auseinandersetzen. Einige Gedichte (Heldenplatz, Scheidungsblues, Gespenst zu Halloween) gehören für mich zu den schönsten und wichtigsten, die ich in den letzten Jahren gelesen habe.
Susanne Schweiger
Ruth Klüger: Zerreißproben. Kommentierte Gedichte. 120 Seiten, Paul Zsolnay Verlag, Wien 2013 EUR 15,40
Gedichte, zusammengehalten wie Ketten durch Laute, Buchstaben, Klänge, in denen nicht der ursprüngliche Sinn primär ist, sondern dieser erst entsteht durch die unerwartete nachbarschaftliche Fügung der Teile – so wäre Ursula Krechels Lyrik zu charakterisieren. Bedeutung erschließt sich nur blitzlichtartig in kurzen Momenten, dann werden die gerade aufgetauchten Bilder gleich wieder durch andere überlagert, wenn nicht verdrängt, sodass die Themen eines Gedichts oftmals nur schwer auszumachen sind. Die Sujets umfassen u. a. Momentaufnahmen und Impressionen des Alltags, die politische Aufbruchsstimmung ihrer jüngeren Jahre und viele zivilisationskritische Aspekte. Besonders ansprechend, weil feministische Fundstücke, sind die Gedichte, die von Frauen handeln und ihrer Selbstbefreiung aus den vielgestaltigen Käfigen des ihnen zugedachten Lebens. Gegensätze kennzeichnen unsere Existenz, was sich in sprachlichen Verbindungen wie „warmgefroren“, „lautes Schweigen“ oder „beim Essen reden wir über Hungerstreik“ ausdrückt. „Wir überwintern“ bringt auf den Punkt, was auch in den persönlich gefärbten Gedichten die Grundstimmung ist, der Selbstschutz durch Fühllosigkeit. „In den alten Büchern | sind die Liebenden vor Liebe | oft wahnsinnig geworden“, hingegen werden heute Menschen eher wahnsinnig aus einem Mangel an Liebe – eine Wendung, die geeignet scheint, die Befindlichkeit des Menschen unserer Zeit zum Ausdruck zu bringen.
Ursula Krechel, vielen Leserinnen durch ihren Roman „Landgericht“ bekannt, der ihr im letzten Jahr den deutschen Buchpreis einbrachte, ist seit Jahrzehnten Lyrikerin. Beginnend im Jahr 1977 und inspiriert durch die Neue Frauenbewegung veröffentlichte sie bisher insgesamt zwölf Gedichtbände. Der etwas prosaisch mit „Die da“ betitelte Sammelband mit Poemen aus fast 40 Jahren beinhaltet einen eindrucksvollen Quer- und Längsschnitt durch ihr poetisches Schaffen.
Hilde Grammel
Ursula Krechel: Die da. Ausgewählte Gedichte. 248 Seiten, Jung & Jung, Salzburg - Wien 2013 EUR 22,00