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RomaneAktuelle Ausgabe: Romane

Auf einem Bananendampfer ins Land

Jamaica Kincaid, US-amerikanische Autorin, geboren auf der Karibikinsel Antigua, erzählt die Geschichte der Eheleute Sweet. Mr. Sweet hält sich für einen gloriosen Komponisten und gebildeten Menschen, der Erfolg bleibt allerdings aus. An Mrs. Sweet ist ihm beinahe alles zuwider, ihr runder Körper, ihre karibische Familienabstammung, ihre Naivität und ihr einfaches Gemüt. Weder kann er ihrem gemeinsamen Sohn etwas abgewinnen, noch der Hingabe, mit der sie sich ihren häuslichen Aufgaben widmet und tagelang Ente mit Pflaumensauce kocht. Die Tochter hält er fern von ihr. Sie versteht etwas von Musik, von der Gabe des Vaters, und sie soll ein kultivierter Mensch werden wie er einer ist. Denn „Mom ist so lächerlich, und sie ist so lächerlich, und Mom ist so lächerlich“, da lässt sich nichts machen. Oder doch: jüngere, weiße Frau, zivilisiert, weg mit der Alten. Kincaid hat keine weinerliche Geschichte über eine verlassene Ehefrau geschrieben, sondern darüber, wie das Versagen eines Ehemannes in Hass und Ablehnung umschlägt und wie Weiblichkeit‘, Hautfarbe und Kultur als Projektionsfläche dafür dienen. dallhutt
 
Jamaica Kincaid: Damals, jetzt und überhaupt. Roman. übersetzt von Brigitte Heinrich. 216 Seiten, Unionsverlag, Zürich 2013 EUR 20,60

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Wer war noch mal Prokne?

Isabella Breier hat eine grandiose Neuinszenierung eines tragischen griechischen Mythos vorgelegt. LeserInnen, die nicht sattelfest in Mythologie sind, können aber unbesorgt sein: Im Lauf des Buchs erschließen sich die wesentlichen Punkte auch ohne vorherige Recherche. Der Roman besteht eigentlich aus zwei Romanen, einer startet auf der Buchvorderseite und der andere auf der Buchrückseite, in der Mitte treffen sie sich, Lesebeginn nach Belieben. Zwei allerbeste Freundinnen, Priska und Philina, hatten einen kleinen Streit und haben sich dann aus den Augen verloren, was beide nicht so ganz verstehen können, kein Wunder, hatte doch der durchtriebene Philosophengatte von Priska seine Finger im Spiel (was nach Rache schreit). Nun sind die beiden Frauen unterwegs in Italien, Philina will den Tod ihres Vaters verdauen, Priska ihre Racheaktion, aber diverse Menschen und andere Entitäten und Vögel haben ihre eigenen Agenden und greifen in die Handlung ein. Grotesk, witzig und sehr empfehlenswert. gam
 
Isabella Breier: Prokne & Co. Roman. 2 mal 150 Seiten, kitab, Klagenfurt/Wien 2013 EUR 22,00

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Von Pflegestufen, Anfällen und Geschwistern

Sandra Roth erzählt die Geschichte ihrer Familie. Die ersten Jahre im Leben der kleinen Lotta, deren Gehirn nicht ausreichend mit Blut versorgt ist, ihrem Bruder Ben, der auch einen Rollstuhl will und später auch noch einen Hund „aber keinen behinderten“, und den Eltern Sandra und Harry. Aus der Erzählperspektive der Mutter berichtet sie davon, welche Kräfte man aufbringen muss, um sich mit Ärzt_innen und Operationen im Säuglingsalter auseinanderzusetzen. Mit Frühförderung, Sozialämtern oder Kindergärten, die Inklusion anstatt Integration anbieten. Sie erzählt, wozu man täglich auch wirklich fähig ist, wie glücklich kleine Fortschritte machen und wie sehr das Gelingen des Alltags von Menschen abhängt, die unverkrampft, neugierig und offen mit Kindern mit Behinderung und ihren Familien umgehen können. Gut, dass man vorher noch nicht weiß, was alles noch auf einen zukommen wird und auch, dass man vergisst, wie es sein kann, wenn es einem wieder besser geht, meint Sandra. Lotta ist eine Wundertüte, beschreibt es der Arzt. Mancher Versuch, sich am Spielplatz oder im Babyyoga in die „Normalität“ anderer Eltern einzufinden, endet mit der Erkenntnis, dass einem diese Norm fremd geworden ist. Die Autorin verbindet in ihrem Roman Persönliches mit vielen Fakten zur sozialen, medizinischen und ökonomischen Situation von Familien, die individuelle Anforderungen und Bedürfnisse haben. Ein sehr wichtiges Buch! dallhutt
 
Sandra Roth: Lotta Wundertüte. Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl. 260 Seiten, Kiepenheuer & Witsch-Köln 2013 EUR 19,60

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Das Leben als Muttermann

Konrad wird Anfang 30 Vater von Lio, die aufgrund einer Genmutation starke Entwicklungsverzögerungen hat und, als sie älter ist, meist gutgelaunt hinnimmt, was das Leben so an sie heranträgt. Die Mutter macht sich ziemlich schnell aus dem Staub und Konnypapa soll nun lernen, Vater zu sein. In Lios frühen Jahren versorgt er sie kaum ausreichend. Er zieht sich lethargisch zurück, schafft es nicht, als Comiczeichner Aufträge an Land zu ziehen oder wenn doch, dann nicht sie abzuliefern. Die hygienischen Umstände in seiner Wohnung lassen zu wünschen übrig und er bringt keine Motivation für Frühforderung oder dafür auf, sich mit seiner und Lios Situation auseinanderzusetzen. Konrad sehnt sich nach Sex und körperlicher Nähe – im Buch leider oft umschrieben mit „er braucht einen Frauenkörper“. Als er sich in Josefine verliebt, ist er immer wieder hin- und hergerissen von dem Gedanken, seine Tochter wegzugeben. Interessant ist, dass die Autorin einen Vater zum Protagonisten ihres Buches macht, ist doch die Anzahl alleinerziehender Väter von Kindern mit Behinderung verschwindend gering. Vielleicht lässt sich so leichter thematisieren, dass Eltern immer wieder auch Schwierigkeiten haben, sich damit abzufinden, dass sie diese große Verantwortung tragen und ihre Wünsche einem anderen Leben unterordnen sollen. Im Roman wird für mich leider nur an wenigen Stellen spürbar, dass Beate Rothmaier, selbst Mutter eines Kindes mit Behinderung, auch eigene Erfahrungen einbringt. Lio gewinnt erst in den letzten Kapiteln des Buches an Profil und wird spät als Person greifbar. Ein lesenswertes Buch, das Vaterschaft und Mutterschaft reflektieren lässt. dallhutt
 
Beate Rothmaier: Atmen, bis die Flut kommt. Roman. 396 Seiten, DVA, München 2013 EUR 20,60

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Auflösungserscheinungen

Wie etwas halten, das Eine nicht hat? Wie sich fügen in das, wovon Eine nichts weiß? – Wie nicht erzählen? „Eine Liebe viel zu groß, um sie nur einmal zu erzählen“, heißt es auf dem Buchrücken. Es ist ein Buch voller Geschichten, voller leidenschaftlicher, melancholischer und verzweifelter Geschichten, davon, dass das Wissen nicht schützt, dass immer wieder Eine nicht aufhört zu hoffen und zu bangen, nicht aufhören kann zu erzählen. Die Namen, die Orte, alles ist austauschbar, ohne je auf dasselbe hinauszulaufen. Allenfalls, dass alles Lebendige auf ein Du gerichtet ist, so diffus es auch jeweils sein mag. Ganz sorgfältig und genau schildert die Autorin, was es heißt, verloren zu sein, an etwas, das sich nicht fassen lässt. „Und dann beginnt es; in dem unwahrscheinlich schmalen Raum zwischen ihren Fingern, dort, wo die Entfernung zwischen zwei Körpern gegen nichts strebt, nimmt es seinen Anfang...“. Ein Buch voller Märchen, Chroniken, Verwechslungsgeschichten, voller Fundstücke und Poesie. Ein erstaunliches Romandebüt der knapp 30-jährigen Autorin: Ein Buch vom Fernspüren, konkret, anschaulich, sinnlich. Miriam Wischer
 
Katharina Hartwell: Das fremde Meer. Roman, 468 Seiten, Berlin Verlag, Berlin 2013 EUR 23,70

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Zwischen Tradition und Moderne

Der nun in der edition fünf in wunderschönem roten Leineneinband neu herausgegebene Roman „Die Schwestern Kleh“ erschien erstmals 1933. Im selben Jahr wurden die Bücher der in Wien geborenen Autorin Gina Kaus bei den Bücherverbrennungen der Nazis verbrannt. Kaus gelang es 1938 nach Amerika zu fliehen, wo sie in Hollywood als Autorin erfolgreich wurde. Im deutschsprachigen Raum ist ihr Werk so gut wie vergessen. „Die Schwestern Kleh“ spielt in der Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Eine ältere Erzieherin erzählt die Geschichte der Schwestern Irene und Lotte, die sie nach dem Tod der Mutter von ihrer frühen Kindheit bis ins Erwachsenenleben begleitet hat. Die Schwestern haben ein sehr unterschiedliches Temperament und ebensolche Vorstellungen vom Leben. Irene ist eher introvertiert und möchte Ehefrau und Mutter werden. Lotte ist voller Tatendrang, etwas Besonderes zu werden, am liebsten Schauspielerin. Irene findet tatsächlich schon bald einen Ehemann und heiratet, ohne zu wissen, dass ihr Mann eigentlich Lotte liebt. Irene zieht nach München und lebt scheinbar ihren Traum. Lotte versucht vergeblich ihren Vater dazu zu bewegen, ihr eine Ausbildung zu ermöglichen. Als sie nach dem Tod des Vaters endlich die Schauspielschule besuchen kann, ist jedoch schon zu viel schiefgegangen, als dass sie noch glücklich werden könnte. Aber auch Irene ergeht es am Ende nicht besser. Gina Kaus schildert die „wilden Zwanziger Jahre“ im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne. Die Werte der bürgerlichen Elterngeneration sind nach dem Krieg nicht mehr viel wert. Aber die Partylaune der jüngeren Generation und die vermeintliche Befreiung der Frauen lenken nur kurz ab vom Zustand einer Welt, die der nächsten Katastrophe entgegen geht. Ein Zeitzeugnis und lesenswertes Buch. ESt
 
Gina Kaus: Die Schwestern Kleh. Roman. 343 Seiten. edition fünf, Hamburg 2013 EUR 22,60

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Worum es im Leben geht

Zwei Frauen, Erika und Nevada, haben Probleme. Die eine, Erika, lebt ein sinnentleertes Hausfrauenleben der oberen Schicht, die andere, Nevada, hat seit einiger Zeit diagnostizierte MS und muss sich damit arrangieren. Ihre Wege beginnen sich zu kreuzen, als Erika den Großteil ihres bisherigen Lebens zurücklässt und vom reichen Teil Zürichs in eine Siedlung zieht, die in ihren Kreisen als heruntergekommen gesehen wird, jedoch ein reges Sozialleben hat. Auch Nevada zieht in diese Siedlung, nachdem sie bei ihrer Schwester ausziehen muss, die ein Freudenhaus für Frauen eröffnen möchte. In der Siedlung finden beide Frauen Möglichkeiten, ihr Leben neu zu gestalten, Beziehungen zu überprüfen, das, was wichtig für sie ist, aus der Schublade zu holen. Nevada gibt Yogakurse für verhaltensauffällige Mädchen und verliebt sich, Erika beginnt wieder zu zeichnen und stellt sich den nicht länger verdrängbaren Problemen in ihren Beziehungen. Milena Moser zeichnet ihre Figuren und deren Geschichten wie gewohnt klar, intensiv und sehr lebendig, was ihre Bücher zu einer wärmstens zu empfehlenden Lektüre macht. gam
 
Milena Moser: Das wahre Leben. Roman. 316 Seiten, Nagel & Kimche, München 2013 EUR 20,50

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Sommer an der See

Hedwig Dohm, Grande Dame der Ersten (bürgerlichen) Frauenbewegung in Deutschland, schrieb 1909 als beinahe 80-Jährige ihren letzten Prosaband „Sommerlieben“, der nun zum wiederholten Mal in gut 100 Jahren neu aufgelegt wurde. Es handelt sich dabei um eine luftig leichte „Freiluftnovelle“ in Briefform, die viele Phänomene ihrer Zeit haarscharf unter die Lupe nimmt. Die Handlung spielt in einem der zur Jahrhundertwende sehr beliebten Seebäder an der Ostsee. Marie Luise – ja die Namen jener Zeit hört man heute wieder auf vielen Spielplätzen – schreibt an ihren Schwager, der von seiner Frau, ihrer Schwester, verlassen wurde und um deren gemeinsame Kinder Marie sich während der Sommerferien kümmert. So berichtet sie gleich am ersten Tag verzückt, dass man sie im Kurkalender irrtümlicherweise als „jüngere Witwe“ führt und somit ihre Stellung unter den Kurgästen eine viel bessere ist als als ledige Frau Mitte 30. Humorvoll beschreibt sie den Standesdünkel der Leute, die Launen und Streiche der Kinder und die unverschämten, aber einfallsreichen Versuche der KüstenbewohnerInnen die TouristInnen abzuzocken. Besonders amüsant auch die Episoden mit den herumscharwenzelnden Verehrern. Die Antworten des Schwagers fehlen, aber er wird wohl eifersüchtig gewesen sein. Ein schmaler Band, den man in wenigen freien Stunden verschlingt, bevorzugt im Strandkorb, aber bei Schlechtwetter am Sofa passt er auch. ESt
 
Hedwig Dohm: Sommerlieben. Freiluftnovelle. 120 Seiten, edition ebersbach, Berlin 2013 EUR 16,30

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Der Geschmack von Pimpernellen

Lange Zeit ist Nell davon überzeugt, eine glückliche Kindheit verlebt zu haben. Nells Kindheit umfasste ein Kaleidoskop von Farben, ein Potpourri aus Gerüchen und eine Vielzahl wunderbarer Geschichten. Doch je älter sie wurde, umso öfter entdeckte sie Ungereimtheiten in den Geschichten, die ihre Mutter, Valerie, schilderte. Nells Sehnsucht, ihre reale Vergangenheit kennenzulernen, und ihre vielen Fragen, die sie an Valerie richtete, entfremdeten Mutter und Tochter. Als Valerie schwer erkrankt, findet Nell den Mut, auf eigene Faust nach Menschen zu suchen, die ihr mehr über ihre Vergangenheit und die ihrer Mutter erzählen können. Währenddessen kocht Valerie mit Leidenschaft Gerichte, die alle Sinne der Leserin ansprechen und mit denen vielleicht sogar eine ganze Kleinstadt verköstigt werden könnte. Nach und nach finden Mutter und Tochter wieder zusammen – und der Gärtner spielt dabei eine nicht unbedeutende Rolle. Verena Hauser
 
Maria Goodin: Valerie kocht. Roman. übersetzt von Martina Tichy. 348 Seiten, Kindler, Reinbek bei Hamburg 2013 EUR 20,60

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Immer noch

Die 90-jährige Margarethe reist ins Dorf ihrer Kindheit, wo sie ihre Tochter Lena treffen will, um nach Jahren des Schweigens eine Annäherung zu wagen. Beide Frauen bereiten sich auf die Reise vor und erinnern sich. Diese Erzählstränge in Ich-Form werden ergänzt durch eine dritte Perspektive, die von Margarethes erstem Mann und Lenas Vater Max, der schon lange tot ist und dessen Geschichte in der dritten Person erzählt wird. Margarethes behütete Kindheit endet, als beide Eltern sterben und sie zu Verwandten nach Wien kommt, wo es ihr zwar materiell an nichts mangelt, sehr wohl aber emotional. Die Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg übersteht sie, doch 1945 wird sie von russischen Soldaten vergewaltigt. Max wird aus seiner Kinderwelt gerissen, als 1934 sein Großvater, ein Kapfenberger Arbeiter, im Bürgerkrieg umkommt. Später als Wehrmachtssoldat ist Max in Griechenland stationiert; die Verbrechen an der Zivilbevölkerung, die er dort mitbegeht, traumatisieren ihn schwer. Lena wächst auf mit einem psychisch labilen Vater und einer Mutter, die alles daran setzt, der Tochter ein „normales“ Leben zu bieten. Die in Kapfenberg geborene, heute in der Schweiz lebende Autorin Melitta Breznik setzt sich in ihrem zweiten Roman mit dem (Nach-)Wirken von Krieg und seelischen Verletzungen in der Nachkriegsgesellschaft und bis in die Gegenwart auseinander. Breznik nutzt dabei ihre Erfahrung als Psychiaterin mit dem Arbeitsschwerpunkt der transgenerationellen Weitergabe posttraumatischer Belastungsstörungen. So entsteht ein bewegender Roman, der zeigt, wie schwierig es ist, die Vergangenheit zu überwinden, der aber Hoffnung gibt. ESt
 
Melitta Breznik: Der Sommer hat lange auf sich warten lassen. Roman. 251 Seiten, Luchterhand, München 2013 EUR 20,60

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überleben

Wenn ein Buch die Erwartungen, die der Klappentext weckt, nicht erfüllt, ist das meist ein schlechtes Zeichen. Im Fall von Kate Atkinsons „Die Unvollendete“ ist das Buch aber viel besser, intensiver und tiefgründiger, und das ist gut. Die Hauptfigur Ursula ist kein gewöhnliches Kind, sie hat nicht nur ein Leben. Was ihr auch zustößt, sie wird wiedergeboren und beginnt von vorne. Das ist auch eine tolle Sache, als sie erst bei der Geburt und dann als Kleinkind bei einem Badeunfall stirbt. Aber als sie mit acht mal für mal wieder an der Spanischen Grippe stirbt, wird das immer und immer Wiedererleben der Kindheit zur Geduldsprobe. Vor allem, weil sich Ursula nicht konkret an ihre vorigen Leben erinnert, sondern Déj-vus, Panikattacken und böse Ahnungen hat. Mit der Zeit lernt Ursula ihrer Intuition zu vertrauen und sie lebt weiter ins 20. Jahrhundert hinein, nur, um immer mehr Unbill und Elend zu erleben: Vergewaltigung, einen gewalttätigen Ehemann und dann den Zweiten Weltkrieg, die deutschen Bombenangriffe auf London. In einem Leben kann sie ihre Eltern überzeugen, nach der Schule durch Europa zu reisen, um ihre Fremdsprachenkenntnisse zu verbessern. In Deutschland verliebt sie sich, bekommt ein Kind und bleibt. Ursula lernt von Leben zu Leben dazu, lernt Entscheidungen neu zu treffen, durch Kleinigkeiten viel zu ändern, um am Ende schließlich soweit zu sein, dass sie aktiv versucht, die Weltgeschichte zu verändern. Zwischen den Krisen gibt es auch leichte Stunden, englisches Landleben, Tee und Scones. Die Familie ist kultiviert, zitiert fleißig aus der englischen Literatur – very british. Die übersetzung ist sehr gut gelungen, es gibt keine Sätze, die auf Deutsch nicht funktionieren. Harte Kost, aber ein Page-turner. ESt
 
Kate Atkinson: Die Unvollendete. Roman. übersetzt von Anette Grube. 585 Seiten, Droemer, München 2013 EUR 20,60

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Härten ausgesetzt

Das Buch beschreibt die Erlebnisse und Erfahrungen von drei befreundeten Mädchen vor, während und nach den Jahren beim Militär. Es beginnt mit den letzten Jahren in der Schule, Ort des Geschehens ist eine Siedlung in Westgaliläa. Die Wohnungen sind erschwinglich, die Infrastruktur sparsam und der Traum der Menschen wegzuziehen gegenwärtig. Der Militärdienst ist eine unvermeidliche Begleiterscheinung – für die Mädchen als Zukunftsszenario und bald Gegenwart, für den älteren Bruder der einen Ursache seines Selbstmordes. In Kapiteln, die anfangs den Mädchen später den jungen Frauen zugeordnet sind, werden Routinen und herausragende Episoden aus dem Militäralltag geschildert. Die Beziehungen zwischen den Menschen erscheinen rau, Begegnungen entstehen zufällig, haben selten Dauer, werden in Phasen von Kriegshandlungen durch den Tod beendet. Jede der jungen Frauen versucht, sich in dieser Umgebung ein Stück Individualität zu erhalten. Das wird auch in der Haltung gegenüber Palästinensern sichtbar. Letztlich aber ist es die Zeit beim Militär, die die individuellen Lebensverläufe bestimmt – zumindest in den Jahren unmittelbar danach. Das Buch gewinnt durch die Erfahrungen der 25-jährigen Autorin eine Unmittelbarkeit und Eindringlichkeit, der ich mich nicht entziehen konnte. Erna Dittelbach
 
Shani Boianjiu: Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst. Roman. übersetzt von Maria Hummitzsch und Ulrich Blumenbach. 336 Seiten, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2013 EUR 20,60

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Verknüpfungen

Mit „Mittelstadtrauschen“ erscheint der erste Roman der österreichischen Autorin Margarita Kinstner gleichzeitig als Buch und Hörbuch. Die vielen parallelen Handlungsstränge, die sich alle irgendwo berühren, und das umfangreiche Personenrepertoire sind beeindruckend. Am Anfang ist es hilfreich, immer mal wieder die Beziehungsmatrix auf dem Einband zu konsultieren. Die Fülle an Themen, um die es geht, ist schwindelerregend: Verlieben und Schlussmachen, Beziehungs-, Ehe-, Elternprobleme, gewollte und ungewollte Kinder, mehr und weniger geliebte Kinder, Kindesmissbrauch, Selbstmord, Wachkoma, Tod und noch einige mehr. Aber diese Fülle führt auch dazu, dass man sich fühlt wie beim ziellosen Zappen durch 30 TV-Kanäle, vieles bleibt oberflächlich, auch wenn es sehr berührende oder betroffen machende Szenen gibt. Gleichzeitig muss man Klischees und „wogende Brüste“ genauso hinnehmen wie das verkitschte Happy-End im Wurstelprater, das da nach all dem Elend der Figuren daherkommt. Sprachlich ist das Buch sehr ambitioniert, was oft genug aufgeht, wobei der Schwung ab der Hälfte immer mehr nachlässt. Aber es reicht, dass ich auch das nächste Buch, das Kinstner hoffentlich schreiben wird, auf meine Leseliste setze. ESt
 
Margarita Kinstner: Mittelstadtrauschen. Roman. 286 Seiten, Deuticke, Wien 2013 EUR 20,50

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Leben als Freude und Abenteuer

„Ich hatte mich erfolgreich überzeugt, ein Junge zu sein ...“ Als Vorbild dient der achtjährigen Hélène die Zeichentrickfigur Oscar, ein Mädchen, die als Soldat getarnt im Frankreich Ende des 18. Jahrhunderts Hauptmann von Marie Antoinettes Leibgarde war. Nur leider heißt ein neuer Besen im Kanada der 1980er Jahre just „Oscar“, sodass Hélène sich doch lieber Joe nennt. Diese Art Komik zieht sich durch den Roman von Marie-Renée Lavoie, in dem sie leichtfüßig aus Hélènes Perspektive über die großen und kleinen Abenteuer, Schmerzen und Freuden einer Kindheit erzählt, in der sich die Protagonistin konsequent immer ein paar Jahre älter vorstellt. Hélène lebt mit ihren drei Schwestern, einem melancholischen Vater und einer großherzig-resoluten Mutter am sogenannten sozialen Rand der Gesellschaft. Aus Hélènes/Joes Sicht ein gutes Umfeld für ihre – von Oscar inspirierten – Heldentaten. Die Einbrüche der Realität sind schlussendlich eine Frage der Sichtweise, schließlich wäre so gesehen auch das Meer nur Salzwasser. Der verwahrloste, 80-jährige Roger wird Hélènes/Joes bester Kumpel und Lehrmeister in wilden Schimpftiraden, die auf Deutsch etwas merkwürdig klingen. Im Unterschied zu Titel und Bewerbung des Buches spielt er nicht eine solch entscheidende Rolle in diesem witzig-spritzigen Roman über eine 8- bis 11-Jährige, die voller Elan und Humor die Weltwahrnehmung in diesem Alter vergegenwärtigt, sich von Armut und wachsenden Brüsten nicht nachhaltig demoralisieren lässt und ungebremst neugierig auf das ganze Leben ist – und damit ansteckend wirkt! mel
 
Marie-Renée Lavoie: Ich & Monsieur Roger. Roman. übersetzt von Norma Cassau und Andreas Jandl. 250 Seiten, Hanser, Berlin 2013 EUR 18,40

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Wie schwierig Liebe sein kann

In Sarah Strickers äußerst gelungenem Debütroman fungiert Anna, die Ich-Erzählerin, als Chronistin für ihre im Sterben liegende Mutter, die ihre letzte Zeit dazu nützt, sich der Tochter gegenüber schonungslos zu öffnen. Die Mutter, namenlos, ist ein Wunderkind, hoch begabt in allem, was sie tut, und hässlich. Ihre Eltern betreiben ein Modegeschäft in der Pfalz und expandieren kurz nach der Wende nach Berlin. Ihr Vater, verhaftet in Kriegserinnerungen, hat nur sein Familienimperium und die Förderung der vielseitigen Begabungen seiner Tochter im Sinn, ihre Mutter, erdrückend und leidend, teilt seine Ambitionen der Tochter gegenüber. Und die Tochter funktioniert perfekt. Sie findet sogar einen Mann, Arno, den Vater von Anna, der in das Familienschema passt. Was jedoch nicht funktioniert, sind die Liebe und die Beziehung zu ihrem eigenen Körper – nie wurde sie überrollt von Gefühlen, von Lust und Begehren, nie lernte sie die Unvernunft kennen, die damit einhergeht. Damit ist Schluss, als sie ihren Nachbarn Alex kennenlernt, einen ukrainischen Kellner, der so gar nicht in ihr restliches Leben passt. Die Mutter beginnt ein Doppelleben zu führen, trennt sich von Arno und verfällt immer mehr ihrem Leiden und ihrem Glück an der Liebe mit dem so unpassenden Alex, bis dieser ebenso schnell verschwindet, wie er aufgetaucht ist, und sie ihre Liebe bis eben jetzt, knapp vor ihrem Tod, nur mehr in ihrer Erinnerung weiterleben kann. gam
 
Sarah Stricker: Fünf Kopeken. Roman. 506 Seiten, Eichborn Verlag, Köln 2013 EUR 20,60

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Glück ist nicht selbstverständlich

Leichtfüßig wie tiefsinnig schildert Leupold in ihrem Roman „Unter der Hand“ die Geschichte von Minna, die von ihrem Nachbarn scheinbar schlafend aufgefunden wird und der, während er auf den Arzt wartet, das neben ihr liegende Manuskript eines Märchens mit dem Titel „Schwarzarbeit“ liest. In 28 Kapiteln stolpert darin dieselbe Minna – lebenslang als Frühgeburt, als „Unwahrscheinlichkeit“, gekennzeichnet – durchs Leben, trifft auf den italienischen Mäzen Vico, der sie dafür bezahlt, durch Schreiben die Gesellschaft glücklicher zu machen; lernt die betagte Ostpreußin Lotte kennen, die sie zu ihrer Großnichte erklärt; schläft mit Franz und verliebt sich in Heinrich; gibt dem 15-jährigen Parwiz Nachhilfeunterricht und macht schlussendlich mit allen einen Ausflug auf ein Gestüt. Die Wendungen in der Geschichte sind unerwartet, der Ausgang stets ungewiss, die Sprache berückend kunstvoll – mit ihr flattert sich‘s durch Minnas ungeordnetes Leben in einem Text, der dennoch konzentrierte Aufmerksamkeit verlangt. So bleiben ihr manche Kleidungsstücke länger als Liebschaften: „die Tweed-Jacke zum Beispiel saß mit mindestens drei Männern Schulter an Schulter, ohne dass es zum Schulterschluss gekommen wäre. Nur irgendwann zum Schluss.“ Das Leben, das Glücklichsein, die Erfüllung langersehnter Wünsche sind mal flüchtig und doch möglich, verlangen anarchisches Treiben und lassen vieles unerklärt, gefasst in ein empfehlenswertes Werk, das selbst eine „Wortschatztruhe“ birgt. mel
 
Dagmar Leupold: Unter der Hand. Roman. 294 Seiten, Jung und Jung, Salzburg-Wien 2013 EUR 22,00

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Mit Listen auf der Suche

Der dritte Roman der in Leningrad geborenen und 1992 nach Deutschland emigrierten Autorin erzählt von Sofia, einer jungen, eigenwilligen Frau, die alles, was ihr wichtig ist, in Listen schreibt. Es gibt Listen der peinlichen Kosenamen, der auffallenden Neurosen, der filmreifen Szenen, der netten und der herzlosen Ärzte und eine Liste darüber, was sie über ihren Vater weiß. So entsteht ein wahrer Familienkosmos rund um die Listen schreibende und sammelnde Hauptperson Sofia, ihre Tochter Anna, die bald am Herzen operiert werden muss, ihre Mutter Anastasia, die sich in Deutschland Anna nennt, ihre täglich Kuchen backende sowjetisch-russische Großmutter und Frank, der ihr ein liebevoller, ruhiger sozialer Vater ist. Das eigentliche Thema des Buches sind die Sowjetunion vor 1989 und Einblicke in das Leben des sagenumwobenen Onkels Grischa, dem großen Unbekannten, der von allen geliebt, dessen Existenz aber Sofia von ihrer Mutter und Großmutter systematisch verschwiegen wurde. Wie ein Puzzle entfaltet sich die Geschichte von Grischa, der nicht mehr lebt. In der Liste der merkwürdigen Erinnerungen gab es eine, in der die zu diesem Zeitpunkt bereits demente Großmutter sich mit kryptischen Worten an ihre schwangere Enkelin wandte: „Nur kein Grischenka soll es werden, um Gottes willen kein Grischenka, sagte Großmutter immer wieder kopfschüttelnd, um nach einem verlorenen Blick in die Ferne plötzlich ihre Meinung zu ändern: Wenn du Glück hast, dann wird es ein Grischenka! Diesen Satz sagte sie jedes Mal, wenn sie mich sah, manchmal mehrmals.“ Gehen Sie diesem Rätsel nach, eine Empfehlung! Andrea Ellmeier
 
Lena Gorelik: Die Listensammlerin. Roman. 352 Seiten, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2013 EUR 20,60

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„Zu wenig Leben“

Mia Markovich hat es geschafft: Die Fotografin wurde in ihrer Wahlheimat Kanada mit einem renommierten Preis ausgezeichnet. Doch anstatt sich vom Erfolg beflügeln zu lassen, verfällt sie in eine tiefe Sinnkrise. Rafael, ihre große Liebe, veranlasst sie deswegen, sich ihrer Herkunft zu stellen. Mia fliegt nach Berlin, wo sie als Kind kroatischer Gastarbeiter_innen aufgewachsen ist, sucht die Orte und Personen ihrer Vergangenheit auf, erinnert sich. Am Ende wird Mija Markovi? (!) wieder zu sich finden. Der Weg dorthin gestaltet sich für die Leser_in allerdings als beschwerlich und voller Hürden: Denn anstatt zu erzählen, hat sich Jagoda Marini? für seitenlange Reflexionen entschieden. Wortreiche Dialoge, bei denen ich regelmäßig den Faden verloren habe, treiben die Handlung auch nicht recht voran. Zu den Themen Heimat und Identität hätte Jagoda Marini? gewiss so manches zu sagen gehabt, doch leider hat sie das den Leser_innen nicht erzählt! natascha vittorelli
 
Jagoda Marini?: Restaurant Dalmatia. Roman. 239 Seiten, Hoffmann und Campe, Berlin 2013 EUR 20,60

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Ein R4 als Time Machine

Trudi, Nele und Renate, beste Freundinnen seit der Schulzeit, werden 50 und durch ein gemeinsames Geburtstagsgeschenk der Töchter zurück in ihre Jugendzeit der 1980er Jahre versetzt. Das detailgetreu vorbereitete Geschenk – die vor 30 Jahren geplante aber nie unternommene Urlaubsreise nach Italien – mit originaler Kleidung, Wäsche, Schmuck, Auto, Zelt und einem viel zu knapp bemessenen Reisebudget sowie der Verzicht auf all die wunderbaren, das Leben würzig machenden Errungenschaften bringen vor allem Trudi, die Erzählerin, in Turbulenzen. Als geübte Streiterinnen und Versöhnerinnen meistern die drei alle Höhen und Tiefen, schwelgen in der Musik ihrer Jugendzeit, rücken einander wieder ganz nahe und steuern gezielt nicht nur das vorgegebene Reiseziel an. Der Autorin ist es gelungen, die Tiefe der Grundthemen Frauenfreundschaft, Reflexion persönlicher Entwicklung, Vertrauen und Zusammenhalt in einen beschwingt fließenden Text mit viel Sprachwitz einzubinden. Das Geschehen läuft locker dahin, verdichtet sich immer mehr und die Leichtigkeit kippt im Moment des Bekennens, dass ihre Situation nicht so ist, wie es nach außen scheint. Alle drei wollen und müssen ihre Zukunft neu gestalten. Der Roman ist novellenartig aufgebaut und indem die Inhalte, die scheinbar ganz offen daliegen, durch die vielen Ereignisse immer wieder verschwimmen, wird der Spannungsbogen gehalten und kontinuierlich gesteigert. Die Fröhlichkeit wirkt aber nie kitschig, sondern es ist ein Buch zum Nachdenken für Leute mit Vorstellungskraft und Humor. Ulrike Retschitzegger
 
Christine Weiner: Drei Frauen im R4. Roman. 283 Seiten, Marion von Schröder in Ullstein Verlag, Berlin 2013 EUR 15,50

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Drei Freundinnen

In dem von Rachel de Queiroz im Jahr 1939 verfassten Roman erzählt Maria Augusta, kurz Guta, die Geschichte ihres Erwachsenwerdens und in Episoden auch jene ihrer beiden engsten Freundinnen, Maria Glria und Maria José, die sie im katholischen Internat kennenlernt. Später entfernt sich Glria durch die Heirat von den beiden Jugendfreundinnen. Das Internat ist ein Gefängnis für die Mädchen, sie versuchen die strengen Regelungen immer wieder durch kleine alltägliche Widerstände zu unterwandern, sei es die verbotene Freundinnenschaft mit einer armen Waisen oder das heimliche Ausgehen am Wochenende. Nach Beendigung der Schule lebt Guta bei Maria Jse, sie geht einer Arbeit in einem Büro nach und ist ansonsten vor allem damit beschäftigt, den geeigneten Mann zu finden. Nach einer unerfreulichen Affäre und dem Selbstmord ihres besten Freundes lernt sie bei einem Aufenthalt in Rio den aus Griechenland stammenden Juden Isaac kennen und verliebt sich in ihn. Als ihr Urlaub nicht verlängert wird, verlässt sie die Stadt und damit auch Isaac, der in Gefahr schwebt nach Europa abgeschoben zu werden. Während die Zeit im Internat noch die Zeit der Widerstände der drei Mädchen ist, ist deren späteres Leben klischeehaft und wenig überraschend gezeichnet. Glria heiratet, Maria Jse ist in ihrem tiefen Glauben vollkommen angepasst und Maria Augusta ist – immerhin berufstätig – scheinbar dauernd nur auf der Suche nach einem Leben, das schon längst an ihr vorbeizieht. Paula Bolyos
 
Rachel de Queiroz: Die drei Marias. Roman. 172 Seiten, Wagenbach, Berlin 2013 EUR 11,30

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„Salon (zur selben Zeit)“

Ein verliebtes Paar sitzt in Malibu am Meer und er erzählt ihr, was sich in der Villa seiner Großtante Charlotte zugetragen hat – oder auch nicht. Diese, Jahrgang 1929, lebt mit drei Freundinnen in ihrer weißen Villa am Fluss: Da ist einerseits Johanna, 82-jährige Bloggerin und Autorin, deren letztem Roman der letzte Satz fehlt. Leonie, von der Haushälterin Janina „die Traurige“ genannt, war Lehrerin und hat Mann und Kinder durch einen Autounfall verloren. Und Nadine, („die Kokette“), ehemals in der Modebranche tätig. Der schillernden Charaktertiefe der Älteren steht die junge Dörte, Charlottes Enkelin, gegenüber, die auch in der Villa wohnt und deren vermeintliche Coolness und stark übertriebene Jugendsprache nicht darüber hinwegtäuschen können, dass sie vom Leben und Altern noch keine Ahnung hat. Ganz im Gegensatz zu den vier Damen, die sich des Abebbens durchaus bewusst sind: „Du bist alt. Deshalb bist du immer in der Vorläufigkeit. Vorläufig bist du noch nicht tot. Du bist Mahnung oder Hoffnung.“ Durch kleine Verschiebungen kündigt sich an, dass dieser Tag anders sein wird, als die von strikter Routine geprägten vorhergegangenen. Johanna verlässt ihr Zimmer, das vorzügliche Risotto, das Janina zubereitet hat, wird kaum angerührt, das Draußen vor der Villa wird immer seltsamer. Und dann hat sich noch Besuch angekündigt, Herr von Rungholt, Charlottes Finanzberater. Als er eintrifft, ist der eigens für ihn geholte Kuchen bereits aufgegessen und alles beginnt phantastisch aus dem Ruder zu laufen, in ein Sprechen ohne Nützlichkeit, aber ganz gewiss nicht ohne Sinn. Fulminant! soe
 
Silvia Bovenschen: Nur Mut. Roman. 160 Seiten, S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2013 EUR 17,50

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Tod eines Psychoanalytikers

Viviane, vor kurzem Mutter geworden und noch kürzer alleinerziehend, hat nach einer Zeit des Gedächtnisverlustes die unangenehme Erinnerung, ihren Psychoanalytiker ermordet zu haben. Nun stellt sie diversen Personen aus dem Umfeld des Analytikers nach, um ... ja, warum eigentlich? Um zu verhindern, dass ihre Tat ans Tageslicht kommt? Um andere mögliche Tatverdächtige zu finden? Viviane führt ein seltsam von sich selbst distanziertes Leben. Ihre Handlungen sind zielgerichtet und durchdacht, doch ihr Baby, ihr bald schon Ex-Mann, ihr Beruf – alles scheint an ihrer Oberfläche abzugleiten. Sie hat die Fähigkeit, Erleben und Gefühle bei Bedarf von sich abzuspalten. Unklar ist, ob dieses Abgespaltensein Ausdruck einer tief greifenden Verwirrung nach der kriminellen Tat ist oder ihr allgemeines Lebensgefühl. Wechselnde Personalpronomen vertiefen den Eindruck von Distanziertheit und Verwirrung der Hauptfigur im ersten Roman von Julia Deck. So wandelt sich die Erzählweise von der Höflichkeitsform zum Plural der dritten Person, wonach die dritte Person Singular zu Wort kommt, bis Viviane aus der Ich-Perspektive erzählt. Geschrieben in einem eigentümlichen Tonfall, dem einerseits die Verwendung der verschiedenen Personalpronomen zugrunde liegt, andererseits eine beeindruckende Sprache, die von allem überfluss befreit ist. Sara Riedmann
 
Julia Deck: Viviane lisabeth Fauville. Roman. übersetzt von Anne Weber. 144 Seiten, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2013 EUR 17,40

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Griechischer Bürgerkrieg

Familiengeschichten sind oft von Rätseln überschattet. 2008 stirbt der griechische Journalist Nikitas durch Unachtsamkeit bei einem Autounfall in Athen. Seine 20 Jahre jüngere, englische Ehefrau Maud stellt Nachforschungen an. Sie vermutet, dass Nikitas Tod mit einem Geheimnis in Verbindung steht, welches eng mit seiner Familiengeschichte zusammenhängt. Sie nimmt Kontakt zu Nikitas Mutter Antigone auf. Diese musste als Gefangene während des griechischen Bürgerkriegs (1945–1949) in die UdSSR auswandern und ihren Sohn bei ihrer Familie, mit der sie sich aufgrund politischer Differenzen zerstritten hatte, zurücklassen. Antigone beschließt aus Moskau anzureisen, um ihrem Sohn das letzte Geleit zu geben. Die wechselnden Erzählperspektiven, einmal aus der Sicht von Maud und dann aus der von Antigone, bringen eine alternierende Spannung auf. Die historische Rolle Griechenlands während des Faschismus und dann die Jahre während des Bürgerkriegs, so wie die Verweise auf die griechische Militärdiktatur (1967–1974) machen deutlich, dass die griechische Zivilgesellschaft eine lange, bis zum heutigen Tag anhaltende Tradition hat, widerständig zu sein. Empfehlenswert für Griechenlandreisende, die sich mehr zur Geschichte und den internationalen Verflechtungen überlegen wollen. Zinovieff liefert interessante Anregungen, die weiterzuverfolgen sind. ML
 
Sofka Zinovieff: Athen, Paradiesstraße. übersetzt von Eva Bonné. Roman. 417 Seiten, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2013 EUR 16,40

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Phantastische Welten

Yoko Ogawas Figuren tragen keine Namen, nur jene, die sie einander gegenseitig geben. So heißt auch in „Schwimmen mit Elefanten“ der Held nur „der Junge“ – solange bis er den Namen des einstigen Schachgroßmeisters erhält: „Kleiner Aljechin“. Die Namenlosigkeit in Ogawas Romanen erzeugt Distanz, gibt aber gleichzeitig die Möglichkeit zur Verallgemeinerung und lässt der eigenen Phantasie reichlich Spielraum. Der Junge im vorliegenden Roman ist einsam, seine Freund_innen sind das Mädchen aus dem Mauerspalt und die Elefantin Indira, die auf dem Dach des Kaufhauses lebt. Beide konnten aufgrund ihrer Größe nicht mehr zurück nach Hause. Als der Junge den Busfahrer kennenlernt, der ebenfalls aufgrund seines Leibesumfangs einen Bus nicht mehr lenken kann, beschließt er, mit dem Wachsen aufzuhören. Der Busfahrer wird sein Freund und Meister, er lehrt ihn das Schachspiel und führt ihn in einen Club ein, in dem er einen Schachautomaten bedient. Von da an lebt der Junge die meiste Zeit im Inneren des Automaten und spielt seine Partien blind und mit größter Schönheit. Mit ihrer kühlen, einfachen Sprache gelingt es Ogawa auch in diesem Roman, Grausamkeit, Einsamkeit und Liebe gekonnt und sehr berührend darzustellen. Paula Bolyos
 
Yoko Ogawa: Schwimmen mit Elefanten. übersetzt von Sabine Mangold. 318 Seiten, Liebeskind, München 2013 EUR 20,40

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Umgedeutete Erinnerungen

Saba lebt in einer dörflich bäuerlichen Gegend im Norden des Iran. Mit elf Jahren wird sie 1981 von ihrer regimefeindlichen Mutter und ihrer Zwillingsschwester Mahtap getrennt, es ist in der „revolutionären“ Zeit unter Khomeni, das entstehende muslimische Regelsystem ist repressiv gegenüber Andersdenkenden und vor allem gegenüber Frauen. Die tiefe Freundschaft zu Ponnah und Reza unterstützt Saba dabei nur äußerlich, den geheimnisvollen Verlust der Schwester zu verkraften. Aufgrund eines moralischen Regelverstoßes heiratet sie mit 18 auf Wunsch des Vaters einen 40 Jahre älteren, begüterten Mann, um sich vor den Anfeindungen der Regimeunterstützer zu schützen und um ökonomisch abgesichert zu sein. Die Ehe wird zur Qual, der Mann stirbt. Ein Neubeginn scheitert, Saba beschließt nach Amerika auszuwandern. Die iranische Exilliteratin Nayeri schafft einen Roman mit verschiedenen Erzählperspektiven. Die Hauptprotagonistin erfindet für sich und ihr Umfeld, wie das Leben ihrer Schwester und ihrer Mutter in den USA aussehen könnte. Darüber hinaus gibt es eine Geschichtenerzählerin, die eine andere Sicht über das Verschwinden der beiden hat. Für Leser_innen, die sich für die kulturelle Entwicklung des Iran interessieren, bietet der Roman neben iranischen Sprichwörtern und Wortspielen Einblicke in eine traditionelle, archaische Lebensweise. Das frauenfeindliche und reaktionär dargestellte Regime und seine Handlanger bleiben nicht unverschont. ML
 
Dina Nayeri: Ein Teelöffel Land und Meer. übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Roman. 522 Seiten, Mare Verlag, Hamburg 2013 EUR 22,70

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Fluchtwege

Britta Mühlbauer versucht in ihrem jüngst erschienenen Roman „Inventurdifferenz“ mit tradierten Geschlechterverhältnissen zu brechen, indem sie die klassische Opfer-Täter-Rolle umkehrt und ihre Protagonistinnen jenseits einer gesetzlichen Ordnung von Gut und Böse positioniert. Die Handlung entfaltet sich spielerisch auf zwei Zeitebenen: Zu Beginn des Buches begleitet man die Ich-Erzählerin Marlies Wolf auf ihrem Weg durch ein unbekanntes Land in Zentralamerika. In den folgenden Rückblenden werden Marlies Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend in Wien aufgearbeitet und die Gründe ihrer Flucht akribisch geschildert. Sie arbeitet als Angestellte in einer Security-Firma und hofft auf eine Beförderung. Dort lernt sie Hanna Amberg kennen, die Abteilungsleiterin, eine intelligente und faszinierende Frau, welche sich kämpferisch für den Feminismus einsetzt. Diese führt sie schließlich zu ihrer alten Schulfreundin Valerie und ihrem Freund Paul, durch welche Marlies nach und nach in dunkle Machenschaften von organisiertem Frauenhandel gerät. Die Autorin schafft es, einen sehr vielschichtigen und dichten Roman auf mehreren Ebenen zu konstruieren, der nicht nur sprachlich, sondern auch in seiner politisch-feministischen Botschaft sehr stark ist. Katrin Rohrbacher
 
Britta Mühlbauer: Inventurdifferenz. Roman. 378 Seiten, Deuticke Verlag, Wien 2013 EUR 20,50

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Deftige Kost

Richter K will 20 Jahre, nachdem er als Staatsanwalt daran beteiligt war, den Lehrer Christian Schöller zu 15 Jahren Haft zu verurteilen, diesen aufsuchen, um den Fall neuerlich zu ergründen. Schöllers Mutter war in der eigenen Wohnung erstochen aufgefunden worden, aber die Tat und das Motiv ließen sich nie eindeutig klären. Die damaligen Zeugeneinvernahmen werden in die Gegenwart in das Jahr 2010 eingebettet. Die AkteurInnen werden mit inneren Monologen so eingeblendet, dass sie sprachlich gut charakterisiert werden. Die Autorin, die sich in den letzten Jahren immer wieder mit ähnlichen Thematiken (Mord, Nationalsozialismus) beschäftigt hat, schafft einen guten Spannungsbogen, auch wenn sie bei der Auswahl der inhaltlichen Muster sparsamer hätte sein können, damit die Handlung weniger konstruiert wirkt. Da ist zum Beispiel die Geschichte der Mutter, die Küchengehilfin in einer Heilanstalt im Nationalsozialismus war, in der tausende Menschen umgebracht wurden. Dann die aufbegehrende Schwester, die als RAF-Aktivistin in der DDR untergetaucht war und zwei Monate vor dem Vorfall angeblich den Freitod gewählt hat. Nach Beendigung der Haft war Schöller in eine psychiatrische Anstalt überstellt worden, weil eine Resozialisierung nicht mehr möglich gewesen wäre... Dennoch, wer von Heim noch keinen Roman gelesen hat, der wird angetan sein, weil das Werk nicht nur über Inhalt Stimmung erzeugt, sondern auch über eine kreative emotionsgeladene Sprache verfügt. Antonia Laudon
 
Uta-Maria Heim: Wem sonst als Dir. 263 Seiten, Klöpfer & Meyer, Tübingen 2013 EUR 20,60

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almost an orphan

Mit gleichwohl faszinierender wie verstörender Grausamkeit charakterisiert Svealena Kutschke die Ich-Erzählerin Sasha in ihrem neuem Roman „Gefährliche Arten“. Sasha liebt Jannis, Jannis liebt Sophia, Sophia will Jannis, küsst aber Tim. Eine Konstellation, die an zusätzlicher Komplexität gewinnt, als Lizzie geboren wird und aus den Künstler_innen Sasha und Jannis auch Eltern werden. Doch mit der Liebe weiß Sasha nicht umzugehen, zu getrieben ist ihre Gefühlswelt vom Zwang zu verletzen, zu stark ihr Hang zum Destruktiven. Hier werden keine Beziehungen eingegangen, sondern Kämpfe ausgetragen und so erklärt Sasha letztendlich: „Die Liebe kann doch nicht mehr gut schmecken. Da steckt doch schon der Dreck von Generationen drin.“ Und da müssen dann schön längst nicht mehr nur Haustiere um ihr Leben fürchten. Kutschke zeichnet eine komplexe Figur, deren hilflose Erbarmungslosigkeit nachvollziehbar bleibt und die Leserin darob mit leichtem Unbehagen zurücklässt. bw
 
Svealena Kutschke: Gefährliche Arten. 189 Seiten, Eichborn Verlag, Köln 2013 EUR 17,50

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Die Frauen schlagen zurück

„Die Hure“, der Debütroman der finnischen Autorin Laura Gustafsson, ist eine Mischung aus Popliteratur, feministischer Kritik, Rachephantasien und mythischen Anklängen. Da sind zunächst die weltlichen Heldinnen Kalla und Milla, die sich ihren Lebensunterhalt mit Sexarbeit verdienen. Das Geschäft läuft gut, auch wenn die Männer einiges fordern. Doch dann wird Prostitution illegalisiert und die Preise sinken. Kalla versucht sich als Putzfrau, was sich als noch erniedrigender als die Prostitution erweist, in einem Blutbad endet und Rache fordert. Milla wird unwissentlich von einem Freier geschwängert und gebiert in Thailand ihren Sohn Morpheus, der schon nach einigen Tagen perfekt auf altgriechisch parliert. Dann sind da die griechische Göttin der Liebe Aphrodite und allerlei andere Gestalten aus der griechischen Mythologie. Aphrodite will ihren Liebhaber Adonis in der Hölle aufsuchen. Sie steigt in ein Flugzeug nach HEL und landet so in Helsinki, wo sie auf Kalla und Milla trifft. Später gelangt sie dann doch noch in den Hades, wo sie unter anderem eine Liaison mit der Schriftstellerin Phädra alias Sarah Kane eingeht. Manchmal sehr schräg, manchmal witzig, manchmal reflektiert schreibt Gustafsson über Tod und Mord, Vergewaltigung und Gewalt, Unterdrückung von Frauen und deren Verharmlosung, Schönheit und Schönheitskult, Liebe und Verrat, Sex und Freiheit, Widerstand und Kampf. Zwischendurch gibt es kurze Abhandlungen über Abtreibungen in Thailand, die Entstehung der Klitoris oder eine Bibliothek mit nur von Frauen verfassten Büchern. Letztlich geht es auch um die Utopie einer Welt ohne Gewalt, Sexismus und Diskriminierung. Ein unterhaltsamer Roman, dessen Message durchaus zum Nachdenken anregt. vab
 
Laura Gustaffsson: Die Hure. Roman. übersetzt von Gabriele Schrey-Vasara. 320 Seiten, Heyne, München 2013 EUR 20,50

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Eine Mutter, die keine sein will

Anna analysiert ganz nüchtern, weshalb sie unglücklich ist: „...weil ich das Muttersein nicht mag. Liebe ist nicht genug, wenn es um Kinder geht.“ Anna ist Historikerin. Dann wird sie Mutter. Nun sitzt sie zuhause mit zwei Buben, einer davon im nachtaktiven Krabbelalter und versucht an ihrem Buch zu schreiben – während der Vater der Kinder in seinem Job als Vogelbeobachter aufgeht. Von Halbe-Halbe keine Spur. Anna muss sich heimlich aus dem Raum schleichen, um im Gästehaus an ihrem Buch zu schreiben. Jede freigeschaufelte Stunde ist hart erkämpft und wird vom Umfeld missbilligend kommentiert. Eine Mutter kann doch nicht ihre Kinder alleine lassen. Soweit die Ausgangsposition für Anna auf einer kleinen schottischen Insel. Als die Familie im eigenen Garten das Skelett eines Babys ausgräbt, entwickelt sich der Roman mehr und mehr zur spannenden Krimilektüre. Das Leben der überforderten Anna wird geschickt verwoben mit ihrer wissenschaftlichen Arbeit über Findelkinder und der Recherche über früh gestorbene Säuglinge im 19. Jahrhundert. Zwischendurch wünscht sich Anna selbst manchmal sehnlichst ein selbstbestimmtes Leben, ohne Mutterpflichten, ohne Kinder. Darf das eine Mutter überhaupt denken? Ganz unsentimental und realistisch setzt sich Sarah Moss mit der Mehrfachbelastung einer Mutter auseinander. Und ganz nebenbei erhalten wir eine Geschichtsstunde zum Umgang mit (ungewollten) Kindern in den vergangenen Jahrhunderten in Europa. Sehr empfehlenswert. GaH
 
Sarah Moss: Schlaflos. Roman. übersetzt von Nicole Seifert. 490 Seiten, Mare Verlag, Hamburg 2013 EUR 22,70

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