Radikaler Konstruktivismus

Katie Kitamura versteht auch in ihrem neuen Roman literarisch mit Irritationen zu spielen. Die 49-jährige Ich-Erzählerin, die als Schauspielerin arbeitet, begegnet bei einer Theaterprobe Xavier, einem jungen Mann, der behauptet, ihr Sohn zu sein. Bei einer Verabredung mit ihm in einem Restaurant taucht plötzlich ihr Ehemann Tomas auf. Allerdings vermeidet Tomas, die beiden zu begrüßen. Das wiederum verwirrt die Ich-Erzählerin massiv. Katie bemerkt eine Brüchigkeit im Vertrauensverhältnis zu ihrem Mann. Im zweiten Teil des Romans verliert die genannte Vorgeschichte der Ich-Erzählerin an Glaubwürdigkeit, da nun Xavier bei der Schauspielerin und ihrem Ehepartner als Sohn einzieht und wenig später auch Hana, die Geliebte von Xavier. Ihr Apartment wird zunehmend von den Gästen in Besitz genommen, bis es zu einem Zwischenfall kommt. Gleichzeitig ist die Schauspielerin gerade in dieser Phase in der von ihr verkörperten Rolle am Theater besonders erfolgreich. Katie Kitamura ist eine Meisterin darin, Verwirrspiele zu inszenieren. Die jeweiligen Rollen, die die Ich-Erzählerin einnimmt, lassen daran zweifeln, dass es eine nachvollziehbare Objektivität gibt. Es bleibt der Lesenden überlassen, welche der verlässlichen Rollenzuschreibungen sie der Ich-Erzählerin zukommen lassen will.
ML
Katie Kitamura: Die Probe. Aus dem Engl. von Henning Ahrens. 175 Seiten, Hanser, München 2025 EUR 23,70