Wiederherstellung der Würde
Die von Foucault beeinflusste französische Philosophin Elsa Dorlin beschäftigt sich in ihrer breit gefächerten Studie mit der Frage, wem die Ausübung von Gewalt staatlich und gesellschaftlich zugestanden wird und wie ihr entgegnet werden kann. Sie konzentriert sich vorwiegend auf rassiale und sexistische Gewalt, die mit Selbstverteidigungstechniken beantwortet werden kann. Sie spannt inhaltlich einen weiten Bogen über historische und aktuelle Beispiele der Selbstverteidigung: Sklavenaufstände, der Warschauer Ghettoaufstand, die Black Panther Bewegung und die Black Lives Matter Bewegung. Weiblicher Widerstand wird thematisiert; in der Französischen Revolution kämpften bewaffnete Amazonenbataillone und die Suffragetten ließen sich in Jiu-Jitsu ausbilden, um sich selbst gegen repressive Polizeieinsätze auf der Straße zu verteidigen. Dorlin beschäftigt sich aber auch mit Umdeutungen. In Selbstjustiz agierende, offensiv rassistische, gewalttätige Bürgerwehren in den USA rechtfertigen ihre repressive Gewalt gegenüber people of color als Verteidigung. Wenn jedoch Minderheiten eine gewalttätige Reaktion auf erlittene Gewalt in Erwägung ziehen, dann wird ihre Reaktion oder geübte Notwehr von der Exekutive und Justiz als illegitimer Angriff interpretiert. Ein weiteres Phänomen ist, dass Opfer stigmatisiert und medialisiert werden. Dadurch wird es ungemein schwer für Frauen, von Rassismus betroffene Menschen oder Subalterne, sich gegen diese Zuschreibung als Opfer zu verwehren und emanzipatorisch Subjekt zu werden. Das inkorporierte Muster, Opfer zu sein, schafft massive Blockaden, sich aktiv zu wehren. Die Quintessenz von Dorlin ist, dass auf Gewalt nur Gewalt folgen kann, um die Spirale der Gewalt zu durchbrechen, auch wenn es hier kulturelle Schranken gibt. Eine kulturpessimistische Kampfansage, spannend und anregend für den Diskurs!
ML
Elsa Dorlin: „Selbstverteidigung – Eine Philosophie der Gewalt. Aus dem Franz. von Andrea Hemminger,
315 Seiten, Suhrkamp, Berlin 2020, EUR 32,90