Der Mensch ist eine Überlebensmaschine

Auch in Valerie Fritsch drittem Roman geht es um menschliche Verwundbarkeit und psychische Verdrängung. August Drach wächst als Einzelkind mit ambivalenten Erziehungsmethoden auf. Sein selbstherrlicher Vater drückt sein Verhältnis zu seinem Sohn mit körperlicher Gewalt aus. Die Mutter, Lilly Drach, die die Gewaltszenerie beobachtet, tröstet ihn nach den Übergriffen des Vaters mit überschießender Zärtlichkeit. Als sein Vater spurlos verschwindet, bindet seine Mutter August krankhaft an sich, indem sie ihm Medikamente verabreicht, die ihn permanent körperlich schwächen und nicht gesunden lassen. Otto Ziedrich, der Arzt der Familie, befreit schließlich den Sohn aus der krankmachenden sozialen Umgebung. In einer entfernt liegenden Stadt begegnet August der Liebe seines Lebens Ava. Die Beziehung beginnt leidenschaftlich, jedoch schafft es August nicht, die kostbare Einheit zwischen ihm und Ava zu stabilisieren. Als Ava ihn nach einem gewaltvollen Streit für immer verlässt, erkennt Otto, dass Gewalt und Liebe einander nicht aufheben. Er begreift sich als permanent Suchender und kehrt schließlich an den Ort seiner Kindheit zurück. Sprachlich ist es ein gelungener Roman. Das im Mittelpunkt stehende Thema, das Münchhausen-by-proxy-Syndrom, wird in seiner Schärfe verarbeitet. Es gibt kein Entkommen für August und die Antwort ist, dass auf Gewalt unausweichlich Gegengewalt folgt. Eine allerdings einseitige Auflösung!

ML

Valerie Fritsch: Zitronen. 187 Seiten, Suhrkamp, Berlin 2024 EUR 24,70