Ein doppelbödiger Mitläufer

Wer ist Hans Kesselbach zwischen den Jahren 1919–1945? Homosexueller Sohn eines liberal-konservativen Generals, der versehrt im Ersten Weltkrieg aufs Abstellgleis geschoben wurde, oder Geliebter Magda Goebbels, der medialisierten, idealisierten Mutter der Nation im engsten Vertrautenkreis um Hitler. Oder ist er ein aufgeweckter, politischer und rechtskundiger Emporkömmling, der sich als Diplomat mit einer Parteimitgliedschaft der NSDAP zurückhält, systemisch mitschwingt und von seiner widersprüchlichen Liebesaffäre innerhalb seiner beruflichen Laufbahn profitiert. Kesselbach durchschaut das Unrechtssystem, was er die Lesenden zuweilen durch zynische Kommentare wissen lässt. Der Reiz des Romans von Nora Bossong liegt darin, dass sie sich auf die Gefahr der Mittäterschaft konzentriert. Es geht ihr weniger um die euphorisierten Fanatiker:innen des Nationalsozialismus, sondern um die, die verhalten bleiben, Befehle ausführen und sich durchschlängeln trotz ihrer persönlichen Skepsis, denn diese stellen die gesellschaftliche Mehrheit dar. Für die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft setzt man sich nicht ein, für diese empfindet man nichts. Der Autorin ist in diesem politisch klugen Roman gelungen, auf der Folie des menschenverachtenden NS-Regimes einen ‚Sympathieträger‘ in den Mittelpunkt zu stellen, der vieles durchschaut, aber nichts gegen das verrechtlichte Böse unternimmt. Damit trifft Bossong genau ins Schwarze. Jede lesende Person, die sich gegen den Inhalt verwehrt, ist wohlmöglich nur über den angebotenen Spiegel verstört. Verblüffend!

ML

Nora Bossong: Reichskanzlerplatz. 296 Seiten, Suhrkamp, Berlin 2024 EUR 25,70

Menschlichkeit gesucht!