Zwischen Zauberberg und Manifestation

Berlin in Zeiten der Pandemie und rund 100 Jahre früher: Ulla Lenze verwebt Themen, die damals wie heute erstaunlich ähnlich sind. Heilung und Entspannung werden gesucht, auch Orientierung, Welterklärung und Spiritualität spielen eine wichtige Rolle. Die Protagonistin der 2020er Jahre, Vanessa, versucht es ab und zu mit Meditation, die sie aber nicht weiterbringt. Das praktische Problem der Wohnungssuche lässt sich nicht so leicht wegmanifestieren, wenn sie demnächst wegen ‚Eigenbedarf’ ausziehen muss. Dazu gesellt sich die Sinnsuche im Berlin der Pandemiezeit. Zur Zeit ihrer Urgroßmutter Johanna Schelmann, deren biografische Notizen vom Beginn des 20. Jahrhunderts ihr überraschend zugespielt werden, ging es um okkultere Praktiken wie Séancen und Hellsichtigkeit. Vanessas Interesse erwacht, als sie den Beziehungen ihrer Urgroßmutter mit einem bekannten Medium nachspürt. Anna Brenner, eine hellsichtige Fabrikarbeiterin ohne wissenschaftliche Bildung, fällt zunächst durch ihre Vorhersagen auf, die sich als wahr herausstellen. Mit einem ‚natürlichen Zugang’ zur nicht sichtbaren Welt steht sie in diametralem Gegensatz zum theorieverliebten Rudolf Steiner, bei dem sie einst im Haushalt angestellt war. Ulla Lenze verwebt die drei Frauenschicksale mit den Fragen nach Autor*innenschaft, Präsenz in der patriarchalen Welt und Fragen nach anderen Quellen des Wissens. Eine atmosphärische Zeitreise mit Einblicken in Vergnügungen früherer Künstler*innen und Literat*innenkreise – auch Leute wie Thomas Mann oder Sigmund Freud waren Gast bei Séancen. Und Rudolf Steiner hat sich stark von Helena Blavatsky inspirieren lassen.

Susa

Ulla Lenze: Das Wohlbefinden. 336 Seiten, Klett Cotta, Stuttgart 2024 EUR 26,50