Kunstvoll dekolonisieren

Der Begriff ‚double bind’ stammt aus der Psychologie und meint eine Konstellation widersprüchlicher Botschaften, die es einer*einem verunmöglichen, ‚richtig’ zu reagieren. Dieses Muster der komplexen Verstrickung in uneindeutige Handlungsanweisungen hat die prominente postkoloniale Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak auf den Bereich der Kunst übertragen. Kunst steht historisch im Dienst kolonialer (und geschlechtlicher) Gewaltverhältnisse, zugleich bietet sie eine Perspektive für Kritik oder gar Befreiung. Die rund zwanzig Autor*innen des Bandes Double Bind Postkolonial gehen diesen Zwiespältigkeiten nach. Neben theoretischen Analysen diskutieren sie eine Fülle an Beispielen für dekoloniale, antirassistische Interventionen in Theaterproduktionen, Ausstellungen und Kunstvermittlung des westlichen Kulturbetriebs. (Die heftigen Debatten um Postkolonialismus und/oder Antisemitismus anlässlich der Ausstellung documenta fifteen von 2022 fanden keinen Eingang in diesen Band.)
Eine feministische Grundhaltung kann den Autor*innen gewiss attestiert werden; allerdings: Kaum ein Beitrag entwickelt oder vertieft ausdrücklich genderreflektierende Fragestellungen. Indirekt findet sich Einschlägiges im Text der Wiener Kurator*in und ehemaligen Buchverleger*in Nicole Suzuki, die über ihr Projekt Verlernen von Büchern anhand des zum Klassiker gewordenen feministischen Sammelbandes This Bridge Called My Back schreibt. Ein provokantes queeres Projekt stellt Saboura Naqshband vor, nämlich eine Installation von Shu Lea Cheang bei der Venedig-Biennale 2019; hier brachte die taiwanesische Künstlerin den vielzitierten schwulen Philosophen Michel Foucault und den der Vergewaltigung angeklagten muslimischen Schriftsteller Tariq Ramadan in einen fiktiven Dialog. In Summe: Sehr lesenswert und anregend.
Hanna Hacker
Double Bind Postkolonial. Kritische Perspektiven auf Kunst und Kulturelle Bildung. Hg. von María do Mar Castro Varela und Leila Haghighat. 440 Seiten, transcript, Bielefeld 2023 36,95 EUR