Wo die Ungehörten sprechen
Viele Jahre lang war Melita H. Šunjić in der UNHCR tätig. Nun hat sie einmal mehr ein Buch geschrieben. Dabei lässt sie eine Gruppe zu Wort kommen, der sonst selten zugehört wird: Neun Menschen berichten über ihre Fluchterfahrungen. Sie erzählen von Situationen in den Herkunftsländern, von Wünschen und Hoffnungen und von der Realität, die sie immer wieder einholt. Mit emanzipatorischen Perspektiven geflüchteter Frauen wird das Patriarchat zum Fluchtgrund erklärt. Šunjić schafft einen partizipativen Rahmen, in dem Empathie und Identifikation stattfinden und die anderen zu den unseren werden können. Die Geschichten öffnen Tore in Lebensrealitäten, die vielen von uns fremd sind. Sie sind leicht verständlich geschrieben, lesen sich wie Romane und laden auch Laien zu einer Auseinandersetzung mit dem Thema Flucht ein. Nur der Schnelldurchlauf der Geschichten, der vermutlich daher rührt, dass jede einzelne Biografie ein ganzes Buch füllen könnte, lässt hier und da den Wunsch nach tiefgründigeren Erzählungen offen. Einige der Fragen, die die Biografien aufwerfen, beantwortet die Autorin in den darauffolgenden Kapiteln. Sie erklärt Begriffe, beleuchtet aktuelle öffentliche Debatten und bezieht pandemische Aspekte mit ein. Letztendlich lässt Šunjić ihre Leser_innen mit dem schweren Thema nicht ratlos zurück. Mit inklusiven, politischen Handlungsempfehlungen zur Migrationspolitik beendet sie das Buch mit einem Denkanstoß. So liefert Šunjić einen wertvollen Beitrag zum Fluchtdiskurs.
Jana Reininger
Melita H. Šunjić: Die von Europa Träumen. Wie Flucht und Migration ablaufen. 200 Seiten, Picus, Wien 2021, EUR 22,00