Die Helligkeit der zeitlosen Oberwelt
Dass Anna Freud, die Psychoanalytikerin, Gedichte u.a. aus dem Englischen ins Deutsche übersetzte, dass sie sich auch selbst als Lyrikerin und Prosaautorin versuchte, ist bekannt. Ihre Arbeiten nun in diesem Band versammelt vor sich zu haben, birgt dennoch Überraschendes. Die Literaturwissenschaftlerin Brigitte Spreitzer hat erstmals Anna Freuds literarische Texte ediert.
Wir erfahren – dank der kenntnisreichen Einleitung – viel über Anna Freuds Auseinandersetzung mit dem Schreiben – sehr intensiv im Austausch mit Lou Andreas-Salomé. Es gibt eine Sehnsucht nach eigenem literarischen Ausdruck, die zahlreiche Ideen generiert – Figuren, Motive, „Geschichten“. Dass vieles davon Fragment bleibt, ist bedauerlich. Die Leserin wünschte, Freud hätte das Schreiben entschlossen gewagt, sich die Freiheit dafür genommen. Sich das Schreiben zu erlauben ist jedoch kein bloß individuelles Problem einer jüdischen Intellektuellen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, sondern Teil einer Geschichte weiblichen Schreibens. Insofern werden Anna Freuds literarische Beiträge und ihre Reflexionen darüber als „paradigmatische Dokumente“ ihrer Zeit lesbar. Anna Freud ist zwar keine Dichterin geworden, aber die Texte rühren an und manchmal blitzt etwas von der Dichterin auf, die sie vielleicht hätte sein können: „Maulwürfe sind wir, die mühselig ihre Gänge ziehen durch das Innere der Zeit. (…) Während wir tastend durch ein dunkles Stück Gegenwart kriechen, erblinden unsere Augen für die Helligkeit der zeitlosen Oberwelt.“ Susanne Hochreiter
Anna Freud: Gedichte – Prosa – Übersetzungen. Hg. von Brigitte Spreitzer. 363 Seiten, Böhlau, Wien 2014 EUR 29,90