Männliche Deutungsmacht über Hebammenwissen
Auf hohem wissenschaftlichen Niveau analysiert Lucia Aschauer in ihrer publizierten Dissertation einerseits die formale und andererseits die erzählerische Beschaffenheit einer spezifischen Gattung des ärztlichen Fallberichts: der sogenannten ‚observation im Allgemeinen‘ sowie der geburtshilflichen ‚observation im Besonderen‘, die in Frankreich in medizinischen Fachjournalen seit Mitte des 18. Jahrhunderts populär wurde und die geburtshilfliche Wissensordnung wesentlich transformierte. Schlüssig und mithilfe beeindruckender theoretischer Bezüge zu Fall, Form und Erzählung, die auch jede Wendung ihrer eigenen Beschreibung erklären und ausloten, argumentiert Aschauer, wie die in Fachjournalen verschrifteten Beobachtungen der männlichen Geburtshelfer das Wissen der weiblichen Hebammen und Gebärenden im Laufe des Untersuchungszeitraums diskreditierten. Und wie sie sich innerhalb einiger Jahrzehnte damit selbst zu Experten machten, wie um den männlichen Wissensrückstand zu kompensieren, der noch zu Beginn des Untersuchungszeitraums vom Kampf um Legitimität und Anerkennung innerhalb der weiblich orientierten Geburtshilfe geprägt war. Drei Umwandlungen, die sie im Narrativ der Fallberichte am Beispiel konkreter Erzähltechniken entlarvt, stehen paradigmatisch für den wissensgeschichtlichen Wandel: die Verwandlung des männlichen Geburtshelfers zum heldenhaften Retter, die Transformation der Hebamme zur untergeordneten Gehilfin und die Etablierung einer männlichen wissenschaftlichen Expertenstimme. Atemberaubend gut!
Eva Hallama
Lucia Aschauer: Gebärende unter Beobachtung. Die Etablierung der männlichen Geburtshilfe in Frankreich (1750–1830). 344 Seiten, Campus, Frankfurt/M. 2020 EUR 46,90