Praktische Konsequenzen aktueller Migrationspolitik
Wer innerhalb der europäischen Grenzen lebt, schließt oft die Augen vor dem, was an den Grenzen passiert. Logisch, denn die Gräueltaten der sogenannten ‚Festung Europa’ zu verarbeiten ist schwer. Davon handelt das neue Werk der österreichischen Migrationsforscherin Judith Kohlenberger. In ihrem Essay Grenzen der Gewalt. Wie Außengrenzen ins Innere wirken schildert die Wissenschaftlerin Schicksale abertausender geflüchteter Menschen bei ihrer Ankunft in Europa. Anhand zahlreicher Interviews mit Zeug*innen, darunter Helfer*innen im Mittelmeer und Ärzt*innen genauso wie Polizist*innen und Gerichtsmediziner*innen diskutiert die Autorin praktische Konsequenzen aktueller Migrationspolitik – und zwar solche für fliehende Menschen genauso wie für Europäer*innen nah und fern der Grenzen. Welche psychischen Folgen entstehen für Anwesende, die tote Körper Ertrunkener begraben? Wie geht man damit um, Menschen auf der Suche nach Schutz abweisen zu müssen? Wie verkraftet man es, Menschen sterben zu lassen, um dem Gesetz treu zu bleiben? Was macht es mit der Mehrheit innerhalb der Grenzen, wenn die Tode der ‚Anderen’ keinen Aufschrei mehr erzeugen? Was bedeutet das für die Menschlichkeit in unserer Gesellschaft und für die Zukunft unserer Grundrechte? Die Lektüre von Judith Kohlenbergers Text erfordert Durchhaltevermögen, zwingt sie die Leser*innenschaft doch, sich mit jeder Menge unvorstellbarem Leid auseinanderzusetzen. Gleichzeitig liest sich Kohlenbergers Essay rasch. Spannend geschrieben, mit persönlichen Anekdoten und zahlreichen wissenschaftlichen Fakten versehen, sind 138 Seiten schnell verschlungen – und ist man am Ende angekommen, weiß man: Das Buch könnte angesichts aktueller politischer Bewegungen innerhalb der EU wichtiger kaum sein. Es fordert uns dazu auf, die Augen zu öffnen, ehe es zu spät ist.
Jana Reininger
Judith Kohlenberger: Grenzen der Gewalt. Wie Außengrenzen ins Innere wirken. 138 Seiten, Leykam, Graz 2024 EUR 16,50