Wahnsinn im Alltag bürgerlicher Frauen
Dort: Eine junge Frau aus gutem Hause in den letzten Jahren der Habsburgermonarchie, voll romantischer Vorstellungen. Sie wird – ungefragt, eh klar – mit einem älteren Mann verheiratet und muss nun ihrer ehefraulichen Vielfachrolle als schwer arbeitende Haushälterin, Stammhaltergebärerin und perfekte Gesellschafterin gerecht werden. Für die sensible und menschenscheue Hélène wird dies immer unerträglicher. Hier: Eva, eine lebenshungrige Frau in der Nachkriegszeit, die ein offenes Haus für Künstler_innen und Intellektuelle führt. Die Zeichen stehen auf Aufbruch, dennoch bewegt sie sich innerhalb der Vorgaben ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter, die sie perfekt zu erfüllen versucht. Eva Geber verwebt in ihrem Buch eigene Erfahrungen mit der Geschichte ihrer Großmutter, der sie sich in der Reflexion des eigenen Lebens nahe fühlt. Geber beleuchtet die Kontinuität bürgerlichen Scheins, der auf Kosten der Frauen aufrechterhalten wird, aus einer Innenperspektive heraus. Dabei spart sie Gefühle der Ohnmacht oder die aktive Beteiligung der Frauen am Festhalten von Klischees nicht aus. Es ist ein sehr intimes Buch, in dem Eva Geber uns mitnimmt auf ihre persönliche Spurensuche nach der in den Familienerzählungen widersprüchlich dargestellten Großmutter. Sie lässt ihre Lebensrealität im Fin de Siècle wieder lebendig werden, holt sie heraus aus der vermeintlichen Schande des ‚Verrücktseins’ und gibt ihr eine Geschichte und ein Stück Handlungsmacht zurück.
Lisa Grösel
Eva Geber: Hélène – Befreiung ins Irrenhaus. 300 Seiten, marsyas, Wien 2024 EUR 26,00