Ambivalenz

Wir treffen im Leben ständig Entscheidungen, die sich auf unser Leben auswirken. Bei Gabrielle kommt hinzu, dass sie als weisungsfreie Richterin am Bundesverwaltungsgericht Bescheide darüber erstellt, ob jemand im Land bleiben darf oder das Land verlassen muss. Dass ihre Entscheidungen fragwürdig sind, macht sich beruflich als auch privat bemerkbar. Gabrielles innere Monologe weisen auf ihre innere Zerrissenheit hin. Sie traf ihre Berufswahl, um sich von ihrem Vater und dessen Doppelleben zu emanzipieren, der als Manager in einem verstaatlichen Betrieb in Waffengeschäfte verwickelt war und dessen Tod, ob suizidär oder ermordet, ungeklärt ist. Nach langen Jahren der Abwesenheit taucht ihr vormals drogenabhängiger Bruder Karl in Kabul wieder auf, wo er beim Roten Kreuz beschäftigt ist. Ihre Gefühle zu Karl sind widersprüchlich, denn durch seine Schuld hatte sie einen Abortus und ist kinderlos geblieben, aber er ist nun mal ihr Bruder. Während Joe, ihr frühpensionierter Mann, ihren Bruder für dessen Fehlverhalten zutiefst ablehnt, entwickelt sie wiederum ambivalente Gefühle ihrem Mann gegenüber. Nichts ist für sie eindeutig, erhebliche Zweifel an ihrer Lebensführung tauchen auf, als sie Morddrohungen erhält und aufgrund des Verdachts einer genetischen Augenkrankheit Ängste hat, erblinden zu müssen. Ein aufwühlender Roman darüber, dass Menschen in einer gespaltenen Welt oft mehr Verantwortung übernehmen müssen, als ihnen zumutbar ist. Empfehlenswert!
 ML
Lydia Mischkulnig: Die Richterin. 290 Seiten, Haymon Verlag, Innsbruck/Wien 2020, EUR 22,90