„Die Zeit. Glatt, dunkel und still.“

Cecilie Enger (Jg. 1963) erzählt eine Geschichte, von der man nicht wissen kann, wie sie gewesen wäre, wenn die Alzheimerkrankheit sich nicht unaufhaltsam in die Wirklichkeit ihrer Mutter, und damit auch in das fragile Gefüge ihrer Familie eingefressen hätte. Vielleicht bliebe das Gerüst der Geschichte dasselbe: ausführliche Listen, die die Mutter über Jahrzehnte hinweg führte und darin festhielt, was sie wem in der Familie jeweils zu Weihnachten geschenkt hatte. Hinweise, Spuren, Überkritzeltes oder nachträglich Ergänztes – Notizen, die sich vor dem inneren Auge der Tochter jetzt, da die Mutter ihr Zuhause verlassen und in eine Pflegeeinrichtung übersiedeln musste, zu lebendigen Bildern verdichten und um so entschlossener gegen das Vergessen anzuwüten scheinen. Erinnerungen, ebenso wach und eindringlich wie verstörend, hell und berührend wie manchmal vage oder düster. Aufleuchtende Blitzlichter aus einer Zeit, die sie gemeinsam erlebten, aus einer Wirklichkeit, die sie noch teilten. Denn die Mutter, „die diese Spuren so eifrig gehütet hatte, fand sie nicht mehr wieder“. Cecilie Enger spürt den Fragmenten nach, fügt eins ums andere zusammen und zeichnet daraus ihre Geschichte: die eigene, die der Mutter, der Eltern und Großeltern, der Generationen; Vorgeschichten und Nacherzählungen über Träume, Hoffnungen, über das Scheitern und Hadern. Hier ist nicht nur das warmherzige, liebevolle und unpathetische Porträt einer Mutter gelungen, sondern auch das wunderbare Geschenk einer Tochter, die die geraubten Erinnerungen für die Mutter zurückzuerobern und sie in Würde zu bewahren sucht. „Aber ich hätte so gern etwas anderes geschrieben“, steht am Ende, „ganz viel anderes. (…) Kann ich nicht einen Schluss ersinnen, bei dem Mutter nach dem Lesen das Buch mit einem zufriedenen Lächeln zuklappen würde?“
 Karin Ballauff
Cecilie Enger: Die Geschenke meiner Mutter. Roman. 266 Seiten, DVA, München 2014 EUR 19,60