Perpetuum mobile? Das Private ist politisch

Margit Schreiner beschreibt in ihrem Roman die frühe kindliche Entwicklung, inklusive vorgeburtlicher Erlebnisse: Erzählungen aus der ‚vorsprachlichen’ Zeit werden mit ersten Eindrücken, sinnlichen Wahrnehmungen und mit Schmerzerfahrungen verbunden. Interessant ist – und das ist etwas Besonders –, dass das Kleinkind bereits lesen kann, bevor es mit zwei Jahren Gehen lernt und mobil gemacht wird. Das Kleinkind erfährt Geschichte/-n, indem es die Zeitung mitliest. Auf diesem Weg wird das Weltgeschehen eingeführt, unter anderem die Unterzeichnung des Österreichischen Staatsvertrags im Jahr 1955. Eine herausragende Leistung der Autorin ist die Verknüpfung von Politischem mit Privatem. Auch die VÖEST Werke in Linz und prägende hierarchische Verhältnisse (auch) in der Erwerbsarbeit kommen im neuen Werk wieder vor. Schreiner beschreibt elterliche Verhaltensweisen in den 1950er Jahren: Sie sind auf einen (klein-)familiären Patriarchen ausgerichtet und erscheinen in vielen Facetten heute ‚unmöglich’. Unter anderem wird das sechs Monate alte Baby einer Nachbarin zur Betreuung überlassen, während die Eltern einen einwöchigen Camping-Urlaub in Italien verbringen. Danach beginnt das Baby zu fremdeln, was als altersgemäß und natürlich interpretiert wird. Es ist nicht ganz leicht, die beschriebenen, „vorsintflutlichen“ Weltbilder und ihr Einwirken auf die kindliche Erziehung vor dem Hintergrund heutiger Verhältnisse zu lesen, doch es lohnt sich: Ein wichtiges Zeitdokument, welches Zeugnis von kleinfamiliären und patriarchalen Verhältnissen gibt, deren Aufbrechen dringend nötig war und ist.
Gerlinde Mauerer
Margit Schreiner: Mobilmachung. Über das Private. 192 Seiten, Schöffling & Co Frankfurt/M., 2023 EUR 24,70