Schöne neue empathische Welt

Beim Empathietest bekommt man einen Helm aufgesetzt, einen Panikknopf in die Hand gedrückt und soll nur zusehen – gezeigt werden Filmsequenzen leidender Menschen. Bestehen kann man, indem man die richtigen Gehirnwellen aussendet; wer besteht, kann sich markieren lassen. Im Island der nahen Zukunft, in dem die Menschen die künstliche Intelligenz Zoe am Handgelenk tragen und auf Wunsch dauernd mit der Polizei verbunden sind, geht man davon aus, dass dieser Test ausreicht, um einen Menschen als ‚gut‘ oder ‚böse‘ einzuordnen. Wobei, von böse spricht man nicht direkt, eher von krank, wer den Test nicht besteht, bekommt Psychotherapien und Medikamente angeboten. Was als Idee begonnen hat, um potenzielle Straftäter:innen frühzeitig auf den ‚guten‘, empathischen Weg bringen zu können, ist schnell zu einer politischen Strömung geworden, die in einer Abstimmung über ein neues Gesetz gipfelt: Der Test und die Markierung werden verpflichtend. Fríða Ísberg zeigt in ihrem großartigen Roman auf, wie sich eine zunehmend diktatorisch werdende Politik auf das Leben unterschiedlicher Menschen auswirkt. Auch eine der möglichen positiven Wirkungen einer solchen Politik, dass gewalttätige Menschen nicht in unmarkierte Gebiete dürfen und ihre Opfer daher dort Schutz hätten, lässt sie nicht gelten – so schafft es ein aggressiver Ex-Partner locker, den Test zu bestehen.
Gabriele Mraz
Fríða Ísberg: Die Markierung. Aus dem Isländ. von Tina Flecken. 284 Seiten, Hoffmann und Campe, Hamburg 2022 EUR 24,50