Syrische Gedichte

Die syrische Lyrikerin Lina Atfah, seit 2014 in Deutschland im Exil, erzählt in ihrem Gedichtband von Flucht, vom Weggehenmüssen und von der Ungewissheit, der Unwirklichkeit des Ankommens. Gleich das zweite Gedicht „Am Rande der Rettung“ ist eine psalmartige lyrische Erzählung und zugleich ein lakonisches Statement: „Ihr Träumer, freut euch nicht und seid nicht traurig! Dann war Zerstörung, Tod und Schrecken Zelte unter freiem Himmel wer sich retten konnte, rettete sich, auch ich wurde gerettet hier in das weite Land sie kommen auf dem Land-, See- oder Luftweg sie fliehen von Hauptstadt zu Hauptstadt, von einer Grenze zur anderen als seien die Landkarten Illusionen meine Freunde, meine Familie und mein Volk ihr Anteil am Leben ist die Flucht“ Atfah thematisiert in ihren Gedichten Gewalt, Terror, Unterdrückung, Blut, Sterben und immer wieder den Tod. Sie schreibt aber auch über Düfte, Schmuck, Körper, Farben, Blumen, sinnliche Eindrücke von und zwischen Menschen, über Natur, Interieurs, Stoffe, Bewegungen. Oft werden mehrere Bildwelten übereinander geblendet, dazu zahlreiche Anspielungen auf arabische Dichtung, auf Figuren aus der Bilder- und Mythenwelt des Islam, auf historische und aktuelle Ereignisse Syriens. Es sind sehr sinnliche, sehr rhythmische Gedichte, die in ihrer Vielfältigkeit und Selbstbezüglichkeit an Arabesken erinnern, an Oden, Psalme, deren Verheißungen regelmäßig gebrochen werden. Die Desillusionierung als Prinzip wendet sich gegen die Fantasie selbst: die Angemessenheit der poetischen Zugangsweise zum Realen, geprägt von Tod, Auslöschung, Gewalt, wird selbstreflexiv verhandelt, letztlich doch bejaht. Einige Gedichte dieses zweisprachigen Bands sind in zwei Variationen, je nach den unterschiedlichen Übersetzerduos, abgedruckt und transportieren die orientalische Bilderwelt unterschiedlich und machen stilistisch und grammatikalisch Übersetzung als Nachdichtung kenntlich. Sehr schön und ergreifend!
SaZ
Lina Atfah: Das Buch von der fehlenden Ankunft. Gedichte aus Syrien. Mit einem Nachwort von Nino Haratischwili. Aus dem Arab. von Dorothea Grünzweig et al. 152 Seiten, Pendragon, Bielefeld 2019 EUR 22,70