Zwei Frauen, ein Hof, zwei Schicksale

Roswitha Schiebs spannend und lebendig geschriebene Erzählung entführt uns mit viel Humor und allen Sinnen in die schon fast skurrile Welt zweier gänzlich unterschiedlicher Frauen, die gemeinsam, wiewohl mit ganz klarer und unantastbarer Rollenverteilung, den westfälischen Schultenhof bewirtschaften. Ein Leben voller Fülle, Farben und schöner Gerüche („…scharf und beizend, wie das Leben selbst“), geschrieben aus der Perspektive eines Stadtkindes, dem das abenteuerliche Entdecken geheimnisvoller Winkel am Hof oder das Waten in warmen Kuhfladen allerhöchste Glücksgefühle bereitet: „Das war die Freiheit, das war die absolute Freiheit, das war die Anarchie, …“. Mit sehr viel Feingefühl verwebt die Autorin die Vorgeschichte beider Frauen zwischen den Zeilen, wodurch sich deren befremdliche Marotten als hilfreiche Bewältigungsstrategien entpuppen. Aufwühlender Höhepunkt sind Tante Lieschens zutiefst entwürdigende Erfahrungen, nachdem der Hof ihrer Familie enteignet und sie aus Schlesien vertrieben wurde. Sehr gut recherchierte geschichtliche Einblicke, die meinen Horizont erweitert und noch lange zum Nachdenken angeregt haben.

Elke-Katharina Bamberger

Roswitha Schieb: Der Hof. 63 Seiten. Edition A. B. Fischer, Berlin 2020 EUR 16,50