Ausgelöschter jüdischer Journalismus

Im Rahmen der Buchreihe biografiA. Neue Ergebnisse der Frauenbiografieforschung sind vorrangig Essays und Gedichte der jüdischen Wiener Schriftstellerin Thekla Merwin erschienen. Die Texte lesen sich bisweilen etwas sperrig, doch schlagen sie als Zeitdokument einen spannenden sowie schmerzhaften Bogen zwischen kulturellem Aufbruch und Niedergang. Zwischen 1909 und 1937 wurden sie in verschiedenen Zeitungen veröffentlicht, anfänglich häufig in jüdischen, ab den 1920ern vermehrt in sozialistischen Blättern. So wandeln sich auch Merwins Themen: Erst liegt ein Schwerpunkt auf jüdischer Kultur, sie betont die Bedeutung jüdischer Journalist:innen für die sich entwickelnde freie Presse in Österreich nach 1848, mehrmals kritisiert sie assimilierendes Verhalten jüdischer Bevölkerung als Anbiederung. Später wendet sie sich der Situation der Arbeiter:innenschaft zu, verhandelt in Form von Gedichten und Kurzgeschichten einen Alltag zwischen Ausbeutung und Mangel. Hitlers Machtübernahme in Deutschland kritisiert sie 1933 in ihrem Essay Bankrott der Kultur aufs Schärfste. Ihre wenigen Publikationen im Austrofaschismus weisen einen deutlich weniger explizit politischen Charakter auf. Den letzten kurzen in diesem Buch abgedruckten Text, datiert wie ein Tagebucheintrag, schrieb Thekla Merwin genau drei Monate, bevor sie 1942 deportiert wurde. Der kämpferische Ton hat sich in Resignation gewandelt. Zwei Jahre später wurden sie und ihre Tochter in Auschwitz ermordet.
Steffi Franz
„Niemand war da, uns vor der Tollwut von Analphabeten zu schützen!“ Thekla Merwin (1887-1944) – Essays und Gedichte. Hg. von Ilse und René Korotin. 391 Seiten, Praesens Verlag, Wien 2023 EUR 38,95