Der Duft der Geschichten

Ein Begriff auf Deutsch und Vietnamesisch steht am Beginn jedes neuen Textelements in Kim Thúys Roman, und mit jedem Teil entfaltet sich eine Geschichte, ganz so, wie ein Gericht nie nur die Summe seiner Zutaten ist. Geschmäcker und Düfte, die Beschaffenheit von Lebensmitteln und ihre Zubereitung ziehen sich durch das Leben der Protagonistin Mãn, die in Vietnam aufwächst, durch die Hände von drei Müttern geht, im Bürgerkrieg zur Mitarbeit gezwungen wird, nach Kanada über eine arrangierte Ehe fliehen kann und sich schließlich in der kleinen Suppenküche ihres Ehemannes kochend wiederfindet. In kleinen und großen Happen fließen vietnamesische Lyrik und Mythologie da und dort ein, Erzählungen aus dem Alltag und über die wechselvolle Geschichte Vietnams. Der schmale, hübsche Band liest sich nicht schnell und ist durchwoben von großen Bildern, sanften Erinnerungen an die gut gehüteten Kochgeheimnisse der Mutter, der Solidarität von Frauen mehrerer Generationen, die sich ein Plätzchen für ihr Leben zwischen den Welten und Kochtöpfen schaffen. Es schmeckt, was Mãn in Kanada zu kochen vermag, und das bleibt nicht unbemerkt, lockt Menschen an und eröffnet für sie die unerwartete Leidenschaft einer großen Liebe, die sie verändert und über sich hinauswachsen lässt. Mit ihrem zweiten Roman vermittelt Kim Thúy in berückender Weise die sinnliche und transzendete Erfahrbarkeit von Essen und Kochen, von Geschmack und Gefühl, Naturerleben und tiefer menschlicher Verbundenheit in den verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten.  mel

Kim Thúy: Der Geschmack der Sehnsucht. Roman. Übersetzt von Andrea Alvermann und Brigitte Große. 143 Seiten, Antje Kunstmann, München 2014  UR 17,50