Erinnern, entrinnen, erwachsen werden

Es ist ein dünner, unscheinbarer Band, von dem die Leserin sich in eine mittlerweile doch ferne Vergangenheit mitnehmen lässt. Lucy, ein junges Mädchen von einer fernen Insel, ist gerade in New York angekommen, um als Au Pair zu arbeiten. Mit im Gepäck trägt sie die Sonne der Westindischen Inseln, erste sexuelle Erfahrungen und ihre Familie, insbesondere ihre Mutter, von der sich sie gerade erst abzunabeln beginnt. So unspektakulär dies klingen mag, so eingängig ist der Roman: In einem Land, das von Jahreszeiten und weißen Menschen geprägt wird, findet die Protagonistin in mehreren in Gegenwart und Rückblenden erzählten Sequenzen zu sich selbst und wird erwachsen.

Dabei gelingt es der Autorin, gesellschaftlich brisante Themen selbstverständlich in die auf Lucy zentrierte Handlung zu inkludieren. Frau, schwarz, Migrantin, Tochter – dies alles sind Attribute, mit denen sich Lucy identifiziert, doch sind es nicht alle. Nie werden die subkutan, quasi unter den obersten Schichten der Seiten-Epidermis vorhandenen, explosiven Schlagworte in den Mittelpunkt gerückt; lediglich in der persönlichen Wahrnehmung Lucys werden sie verhandelt. Sie ist, wurde und wird stellvertretend für eine ganze Generation, und doch nur sie selbst. Hinzuweisen ist schließlich auf die beeindruckende, schlichte Prosa, die auch in der hervorragenden Übersetzung nicht an Kraft verliert.  Katrin Forstner

Jamaica Kincaid: Lucy. Übersetzt von Stefanie Schaffer-de Vries. Roman. 160 Seiten, Unionsverlag, Zürich 2014 EUR 11,30