Keine Zeit, noch einen Juden zu retten

Die chilenisch-amerikanische Autorin Marjorie Agosin begibt sich in dieser zweisprachigen Lyriksammlung auf eine Reise in die Vergangenheit, auf eine Reise zu den jüdischen Wurzeln und zum Holocaust, dem ihre aus Wien stammende Großmutter, Helena Broder, 1939 entfliehen konnte. Es ist die Sehnsucht nach „Omama Helena“ und einer nie gekannten, verlorenen Heimat, die sich wie ein roter Faden durch die Gedichte zieht. „(…) Ich kehrte nach Wien zurück, um dich zu suchen / doch in den Gesichtern der anderen alten Frauen / fand ich dich nicht. / Sie waren es, die dich getötet hatten. (…)“ heißt es im Gedicht „Abschied“. Auch eine Reise nach Prag bringt kein befreiendes Gefühl „(…) die toten Vorfahren / werfen dir die Rückkehr vor, / um dich herum kichern / hämisch / Kobolde und Dibukkim (…)“ Mit zum Spott gesteigerter Ironie stellt sie im selben Text fest: „(…) Die Holocaust-Touristen lesen Kafka auf dem Friedhof. (…)“ Bedrückend die Beschreibung des Sinneswandels einer Nachbarin in Wien, einer einstigen Freundin Helena Broders, die sogar die Zweitschlüssel zur großmütterlichen Wohnung besaß „(…) Sie erkannte dich nicht. / Du warst bereits eine Jüdin. (…) Sie sagte, sie habe es eilig / sie habe keine Zeit, noch einen Juden zu retten, / (…)“ Was Marjorie Agosins Gedichte auszeichnet, sind die Prägnanz und Klarheit ihrer Sprache und die Menschlichkeit ihrer Haltung. Sie beschreibt, aber sie verurteilt nicht. Aus jeder Silbe spricht ihr tiefes Streben nach Versöhnung.  melamar

Marjorie Agosin: Engel der Erinnerung / Entre los ángeles de la memoria. Aus dem Span. von Simone Reinhard. 99 Seiten, Hans Schiler, Berlin-Tübingen 2016 EUR 16,50