Zeiten-Reisen

Alice ­Schalek nimmt uns in ihren Reportagen mit auf Reisen nach Brasilien, Chile und Peru, ein paar Jahre später nach Indien, Ost- und Südafrika und die USA. Wir reisen aber auch in die 1920er und 1930er Jahre. In Südamerika verfolgen wir Schicksale europäischer Auswander:innen, viele davon gescheiterte Existenzen. Aus Indien, kaum 10 Jahre später, wird auch vom Kampf um die Unabhängigkeit berichtet, so interviewt ­Schalek Persönlichkeiten wie Gandhi und Tagore. Ihre Berichte sind differenziert und offen und durchaus von Sympathie für die Unabhängigkeitsbestrebungen getragen. Freilich, auch das ‚moderne Afrika‘ der frühen 1930er-Jahre ist das der Weißen – sowohl in Kenya als auch in Südafrika und im heutigen Namibia. Schaleks Blick ist sehr europäisch und weitgehend kolonial. Aber sie beobachtet scharf, ihr Horizont ist weit genug, nicht ausschließlich Menschen der eigenen Klasse (oder Hautfarbe) wahrzunehmen. Unterhaltsam sind die Schilderungen der Besuche bei ‚Arbeitsfrauen‘ in den USA. Geschichten von ‚Berufsfrauen‘, die in Salons und Klubs organisiert sind und auf ihrer beruflichen Selbstständigkeit und ökonomischen Unabhängigkeit bestehen. ­Schalek beleuchtet die USA, die ihr späteres Exilland wird, aus bürgerlicher Frauensicht. Die Herausgeberin Gabriele Habinger hat auch das umfangreiche Vorwort verfasst, in dem wir mehr über die Biografie dieser außergewöhnlichen Reisenden, Reporterin und Fotografin Alice ­Schalek erfahren.
Wanda Grünwald
Alice Schalek: Reportagen von den Rändern der Moderne. Reiseberichte aus Afrika, Indien sowie Nord- und Südamerika in den 1920er und 1930er Jahren, Vorwort und Hg. von Gabriele Habinger. 296 Seiten, Promedia, Wien 2021 EUR 27,00