Das Grauen im eigenen Haus
Eine Frau wartet im Café auf ihre Freundin, eine Schriftstellerin ist auf Besuch in ihrer Heimatprovinz, der alte Professor reist mit seiner Frau zum Sehnsuchtsort seiner Jugend, eine Ehefrau organisiert eine Party. Oates beginnt ihre Kurzgeschichten meist harmlos. Sie erzählt vom mittelständischen Leben mit vegetarischen Bistros, ordentlichen Campus und properen Einfamilienhäusern – bis unerwartet die Realität aufbricht und Monströses sich zeigt. Alles ist anders, als erinnert oder erhofft, sogar das eigene Ich zerfällt in unangenehme Varianten. Unter dem Anschein bürgerlicher Biederkeit offenbart sich das Grauen in Gestalt allgegenwärtiger patriarchaler Geringschätzung, Beziehungslosigkeit, Abwertung, Sprachlosigkeit. Oates skizziert anatomische Miniaturen einer selbstvergessenen, privilegierten Welt, die unerwartet unter banalen Alltäglichkeiten verdrängte Abgründe preisgibt. Ein skurriles Leseerlebnis, in dem uns die Doyenne US-amerikanischer Literatur das Gruseln lehrt.
Lisa Grösel
Joyce Carol Oates: Das Unerwartete. Aus dem amerik. Engl. von Silvia Morawetz. 384 Seiten, Ecco Verlag, Hamburg 2022 EUR 25,50