Die Befreiung vom Fluch der reinen Körperlichkeit

Frauen, bekannt von Gemälden berühmter Meister aus fünf Jahrhunderten, von denen wir aber sonst nichts wissen, erheben ihre Stimme. Aus der Ich-Perspektive erzählt, lesen sich die Erzählungen mitunter wie Hörspielmonologe, in der jeweils eigenen Stimme, im eigenen Sound, als klassische Erzählung oder als langes Gedicht. Cecilia Gallerani, angesehene Poetin und Denkerin im Mailand des 15. Jahrhunderts, regt sich herrlich darüber auf, ständig angestarrt zu werden, und dass von ihr nur mehr übrig bleibt, dass sie eine schöne Frau ist – doch basta! Es wurde genug geschaut! Hendrickje Stoffel erinnert sich illusionslos an ihr Leben als Gefährtin von Rembrandt, ist mit dabei, als 1663 in Amsterdam die Pest ausbricht, bis sie selbst daran stirbt. Constance Quéniaux wundert sich, weshalb so ein Aufsehen gemacht wird um das Portrait ihres Geschlechts, dem Ursprung der Welt von 1866. Sie lebt ihr Leben, ohne sich je von den Männern etwas anhängen zu lassen. Und wenn doch, dann erledigt eine lange Nadel den Rest – tausendmal lieber, als der Ursprung für etwas Neues zu sein. Das Historische ist eng verwoben mit der Lebensgeschichte der Frauen. Wie eine Detektivin hat Clavadetscher obsessiv recherchiert. Doch geht es nicht darum, die Frauenleben vollständig und letztgültig richtig zu beschreiben – sie bleiben fiktiv. Brillant, mit beeindruckender sprachlicher Virtuosität begehrt Martina Clavadetscher mit ihren Mitteln dagegen auf, dass die weiblichen Modelle in Malerateliers auf stumme, teils namenlose Gestalten reduziert werden. Ohne diese Frauen gäbe es kein künstlerisches Werk, kein Staunen, kein Schauen. Es empfiehlt sich, in historischer Reihenfolge zu lesen.
Diane Branellec
Martina Clavadetscher: Vor aller Augen. 240 Seiten. Unionsverlag, Zürich, 2022 EUR 24,70