Überraschungen und Unverzeihliches

Die kanadische Literaturnobelpreisträgerin von 2013 Alice Munro erzeugt mit ihren Erzählungen berührende Momente. Sie sorgt auch in diesen zwei Bänden für Abwechslung in der Erzählperspektive, in den Orten des Geschehens sowie in welche Zeit die jeweilige Erzählung eingebettet ist. Die Geschichten von Floh und Rose wurden bereits 1978 erstmalig veröffentlicht, im Mittelpunkt der Geschichten, die auch einzeln gelesen werden können, steht die Akteurin Rose. Der Zeitrahmen spannt sich von ihrer ärmlichen Kindheit, Schulzeit, unglücklichen Ehe, Scheidung, Berufsleben, einem zumeist unerfülltem oder komplizierten Liebesleben bis hin zu dem Zeitpunkt, wo sie ihre Stiefmutter Floh ins Altersheim bringt. Auch diese frühen Geschichten sind geprägt von Überraschungsmomenten, die zwischen Stärke und Zerbrechlichkeit ein Frauenschicksal nachzeichnen, welches von den äußeren Koordinaten bestimmt wird. Dabei geht es Munro aber immer um die Komplexität eines Innenlebens. Die Themen sind weniger extravagant als typisch und dennoch in der Art, wie sie rekonstruiert werden, gibt es immer wieder etwas, womit die Leserin nicht gerechnet hätte. Die Menschen, die sie vorstellt sind schrullig, verklemmt, skurril, auffällig und nicht belehrbar und oft unendlich einsam. Auch in den 14 Geschichten „Liebes Leben“ werden menschliche Konflikte und emotionale Reaktionen umschrieben. Es geht um Sehnsucht, unerfüllte Leidenschaft in der Liebe, Krankheit, Tod, aber auch um seelische Verletzungen, die letzten vier Geschichten sind autobiografisch. Die Kurzgeschichten zeigen verwundbare Menschen und beschreiben menschliche Wendepunkte, wobei sie vor voreiligen Schlüssen warnt. Die Themen werden facettenreich, zeitlos und nicht mit einer eindeutigen Auslegung angeboten, aber gerade das ist faszinierend. Alles stimmt und doch ist nicht alles durch das was sichtbar ist, ausreichend entschlüsselt. Genau in dieser Hinsicht sind die Geschichten von Munro großartig. Sie schafft auf wenigen Seiten Stimmung für ihre Akteur_innen und nimmt Bedacht darauf, uns auf das komplexe Leben vorzubereiten, dass uns nämlich der äußere Schein trügt, dass jedes Leben in sich innere Widersprüche birgt, wo nur ein genauerer Blick Verständigung schafft. Danke! Antonia Laudon

Alice Munro: Das Bettlermädchen – Geschichten von Floh und Rose. Übersetzt von Hildegard Petry. 336 Seiten, S. Fischer, Frankfurt/Main 2014  EUR 20,60

Alice Munro: Liebes Leben. Übersetzt von Heidi Zerning. 367 Seiten, S.Fischer, Frankfurt/Main 2013EUR 22,70