Von Familien und Bäumen

Als die Demenz der Großmutter stetig weiter voranschreitet und sie sich selbst immer mehr zu verlieren scheint, begibt sich das Enkelkind auf die Suche nach den Lücken des familiären Erinnerns und versucht diese zu füllen. Kim de L’Horizons Roman ist adressiert an die schwindende Großmutter auf der Suche nach einer familiären und auch individuellen Identität und auch gleichzeitig das Erzählen einer Familiengeschichte, die sich auf das ‚Dazwischen’ fokussiert – das Verschwiegene, das Vermiedene, die zwischenmenschlichen Gefühle, die so präsent sind, aber nie in Worte gefasst wurden. Die Blutbuche, als Familienbaum, steht ebenso im Zentrum wie kindliche Erinnerungen, der nonbinäre Körper der Erzählfigur und die Frage nach vererbbaren Traumata. De L’Horizon bewegt sich spielerisch leicht innerhalb von Sprache und Begrifflichkeiten – Großmutter/Grandmére wird bspw. zu Großmeer – und illustriert somit Gefühle und Erinnerungen auf einer ganz anderen Ebene. Mit einer brutalen Ehrlichkeit, aber einer ebensolchen sprachlichen Feinfühligkeit und Schönheit erzählt Kim de L’Horizon das Unausgesprochene. Der Roman wurde im Oktober mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet.

Andrea Knabl

Kim de L’Horizon: Blutbuch. 336 Seiten, DuMont Buchverlag, Köln 2022 EUR 25,50