Chronik des unerfüllten Verlangens

Ein Buch wie ein Wolf im Schafspelz, oder besser: ein falscher Hase. Was als zum Zeitgeist passende Kochrezeptsammlung mit familiärem Touch und russischem Flair daherkommt, vom Verlag möglicherweise nicht ganz unbeabsichtigt auch so aufgemacht wurde und durch die Biografie der Autorin nahezuliegen scheint – Anya von Bremzen ist New Yorker Lifestyle-Journalistin mit russischen Wurzeln –, entpuppt sich bei näherem Besehen als gutdosierte Portion Zeitgeschichte, die in ihren Betrachtungen der Sowjetunion und auch der nachfolgenden gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse trotz des biografischen Anspruchs durchaus den rein persönlichen Tellerrand der Familienchronik zu verlassen imstande ist. Eine Erzählung über Essen in der Sowjetunion ist nach Ansicht der Autorin zwangsläufig eine Chronik der Sehnsucht. In einem Land, das Hungersnöte und Brotaufstände erlebt hat, und wo die Menschen selbst in Friedenszeiten einen Gutteil ihrer Zeit mit Nahrungsmittelbeschaffung verbringen mussten, ist Essen keine rein persönliche Angelegenheit. Und so gelingt Anya von Bremzen gerade wegen des kulinarischen Bezugspunktes quasi en passant eine Schilderung der Absurdität dieses Regimes und der Tragik der in ihm lebenden Menschen auf eine Weise, die neben Wärme und Nostalgie, Humor und Mitgefühl, auch Empörung und politisches Bewusstsein der Autorin verraten. Sie vermag den Blick sowohl von innen als auch von außen auf ein Phänomen zu richten, das ihr durch die eigenen Wurzeln nahe, durch die frühe Migration in die USA aber wohl ebenso entfernt ist. Helga Lackner

Anya von Bremzen: Höhepunkte sowjetischer Kochkunst. Die Geschichte meiner Familie in Russland und Amerika. Übersetzt von Marion Hertle und Christiane Wagler. 448 Seiten, Piper, München 2013 UR 23,70