Altern als persönliche Fremdheit

Bereits in ihrem Erstlingsroman „Die gläserne Stadt“ hat Natascha Wodin über die allgegenwärtige Fremdheit in Ost und West von Europa aus der Perspektive einer in Deutschland aufgewachsenen Frau mit russischen Eltern erzählt. Über die Liebesbeziehung zu einem deutschen und einem russischen Mann lotete sie ihre Möglichkeiten aus, sich verstanden und zuhause zu fühlen. 31 Jahre und einige Romane später legt sie ein Stück Prosa vor, in dem die kulturelle Unüberbrückbarkeit in feinen Beobachtungen des alltäglichen Lebens in Berlin und seinen Veränderungen weiter Referenzpunkt sind, auch sind es Männerbeziehungen, anhand derer sie ihre Position spiegelt – aber mit einem Unterschied, den sie diesmal in den Mittelpunkt stellt: Sie ist alt geworden, die Protagonistin Lea ist 63 und sucht nach persönlichen Einsichten in die Tatsache, dass eine neue Form der Fremdheit sich eingestellt hat, eine Differenz zwischen ihrer inneren Wirklichkeit und dem Körper als äußerer. Altsein als zunehmende Einschränkung und Asexualisierung, erzwungene Langsamkeit und dem Tod näherrücken. „Seit dem unheimlichen Verlust an Lebenskraft verstand sie nicht mehr, warum die Welt nicht voll war von alten Menschen, die schreiend vor Angst durch die Straßen rannten.“ Nach nüchternen Betrachtungen über das Altern ergreifen bald unerwartet neue Lebensgestaltungsformen im Cyberspace Lea leidenschaftlich, die offene Wünsche doch noch erfüllen und ihr Selbstbild als alternde Frau radikal verändern. Das ist spannend, wird rasant erzählt, lässt frohlocken und verändert schlussendlich die Reflexion über das Altern.  mel

Natascha Wodin: Alter, fremdes Land. Roman. 211 Seiten, Jung und Jung, Salzburg-Wien 2014
EUR 19,90