Geh weiter, ins Innere des Landes
Mitte der 1990er Jahre verlassen die elfjährige J. und ihre Familie den idyllischen Gratschbacher Hof am Fuß der Karawanken. Zum Anwesen gehören ein Gasthaus samt Discoschuppen, ein Tennisplatz, Schwimmbad und Ställe. Die Gegend drumherum ist „ein Wald ohne Augen. Ohne Sträucher und Äste, die sich hinter deinem Rücken raschelnd zusammenbiegen“. Dieses schillernde Landschaftsgewebe bildet den Hintergrund von J.s Welt, einem riesigen Abenteuerspielplatz, der aber auch viele Gefahren birgt: Ihr Schulkollege Franzi verunglückt gleich zu Beginn des Romans bei einer waghalsigen Mutprobe. Sein Tod zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte, immer wieder erinnert sich die Erzählerin an die Tragödie. Am Umzugstag spielt J. ein letztes Mal noch mit ihrer besten Freundin Luca Verstecken. Verborgen unter einem LKW beobachtet sie, wie immer mehr Nachbarn eintreffen, um zu helfen oder sich zu verabschieden. Alle haben ihre Geschichten und Geheimnisse und die Elfjährige kennt sie alle. Sie erinnert sich an ausschweifende Trinkgelage im Wirtshaus der Familie, heimliche Liebesgeschichten hinter der Theke und jede Menge Jägerlatein – denn die Mutter geht leidenschaftlich gern auf Jagd. J. denkt aber auch viel über sich selbst nach, sie fürchtet sich davor, im Katzlteich ertränkt zu werden, weil sie kurze Haare hat und gerne Bubenjeans trägt und weil sie heimlich in Luca verliebt ist. Julia Jost schildert in ihrem Debütroman Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht das Aufwachsen in einer archaischen Bergwelt zwischen Stammtisch und Beichtstuhl – und wie man hier als querstehendes Kind überlebt und sich der vorgegebenen Ordnung widersetzt.
Ute Fuith
Julia Jost: Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht. 231 Seiten, Suhrkamp, Berlin 2024 EUR 25,50