Herkunftsfragen und gesellschaftliche Widersprüche

Nach dem Tode ihres Vaters versucht die bekannte französische Autorin 1983 dessen Lebenslauf zu rekonstruieren. Nun ist dieses Porträt erstmalig in deutscher Sprache erschienen. Ernaux, die sich gern als „Ethnologin ihrer selbst bezeichnet“, geht ausführlich auf die soziale Herkunft ihres Vaters ein, um seinen durch Anstrengung geprägten Lebens­entwurf zu verstehen und zu vermitteln. Sie versucht Antworten zu geben, was ihn im eigenen Leben verunsicherte, was ihn ermunterte, was er repräsentierte, nachdem er als vormaliger Landarbeiter einen Lebensmittelladen führte. Wichtig erscheint ihr das eigene persönliche Verhältnis zum Vater. Sie problematisiert die entstandene kulturelle Trennung zwischen ihnen beiden, die sich durch die besseren Bildungschancen ergaben, die ihr die Eltern ermöglichten. Dabei ist sie unaufgeregt und nicht anklagend, sondern verständnisvoll und schafft dadurch einen behutsamen Rahmen für die Gestaltung eines vielfältigen Portraits ihres Vaters. Eine interessante Lektüre, die die Rezensentin dazu anregte, nochmals einen tieferen Blick auf die eigenen Wurzeln und die Kluft zum eigenen Elternhaus zu werfen.
ML
Annie Ernaux: Der Platz. Aus dem Franz. von Sonja Fink. 95 Seiten, Suhrkamp, Berlin 2019 EUR 18,50