Menschliche Abgründe

Estland im Zweiten Weltkrieg. Drei EstInnen, deren Lebensgeschichten in einem Netz aus Intrigen, Aggression, Liebe, familiären Banden und Abhängigkeiten miteinander verwoben sind. Roland kämpft mit voller Überzeugung im Untergrund für die Freiheit Estlands. Sein Cousin Edgar ist ein skrupelloser Opportunist und nur auf sein eigenes Vorankommen bedacht. Nach Bedarf kreiert er sich neue Identitäten, wechselt auf die Seite der jeweiligen Machthaber und verrät zu seinem eigenen Schutz vormalige Gefährten. Edgars Frau Juudit ist die tragische Figur in Oksanens Roman. Die beiden führen eine lieblose Ehe, geprägt von gegenseitigem Unverständnis und Gefühllosigkeit. Juudit arbeitet für Rolands Widerstandsgruppe und verliebt sich dabei in einen deutschen Offizier. Im Grunde möchte sie nur ein sorgenfreies, angenehmes Leben führen. Doch sie wird wider Willen zum Spielball zwischen den Fronten und zerbricht letztlich daran.

Der Roman vermittelt die politische Situation Estlands zur Zeit des Zweiten Weltkrieges und in den Folgejahren. Trotz des schweren Themas schafft es Sofi Oksanen die LeserInnen mit einer wunderschönen, bildhaften Sprache zu verzaubern. Da „perlt das Lächeln in der Luft wie die Blasen in frischer Limonade“ und „Hände wedeln den Befreiern einen nach Mädchen duftenden Windhauch entgegen“. Doch am Ende, als sich das ganze Ausmaß von Edgars Brutalität offenbart, lässt der Roman die LeserInnen mit einem schalen Nachgeschmack von Lüge und Verrat zurück.  Christine Auer

Sofi Oksanen: Als die Tauben verschwanden. Roman. Übersetzt von Angela Plöger. 432 Seiten, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014EUR 20,60